Zu Holly Jean Bucks ‘Ending Fossil Fuels’ Buch

Ich empfehle in klimapolitischen Diskussionen immer wieder gern Holly Jean Bucks Bücher “After Geoenginering – Climate Tragedy, Repair and Restoration” (Verso, 2019) und “Ending Fossil Fuels – Why Net Zero Is Not Enough” (Verso, 2021), weil ich nichts vergleichbar Gutes kenne, was so komprimiert, informativ, realistisch-utopisch und verschiedene Bereiche in Beziehung zueinander setzend denkt.

Mit “realistisch-utopisch” meine ich, dass sie sehr gut Detailwissen aus den verschiedensten Bereichen daraufhin zusammendenkt, wie sich damit eine wünschenswerte Zukunft nicht nur vorstellen, sondern gar erreichen lassen könnte. Sie schafft, gleichzeitig die Lage nicht zu beschönigen aber mich bei beiden ihrer Bücher mit Hoffnung und Lust auf das Organisieren für eine bessere Zukunft zurückzulassen. Quasi wie der “this is fine!”-Hund als “this still can get fine”-Hund, der vorsichtig mit anderen zusammen, herunterfallende Trümmer vermeidend oder zur Seite schiebend, den Weg aus dem brennenden Raum heraus organisiert.

In “After Geoengineering” setzt Holly Jean Buck dazu zwischen die Sach-Kapitel sogar fiktive utopische Geschichten, um der Theorie auch Fleisch und Alltagsleben einzuhauchen, eine Zukunft vorstellbar zu machen, von der aus wir rückentwickeln können, wie sie am erreicht werden konnte. Könnte? (Futur II ist nicht meine Stärke, weil stark vernachlässigt, aber es sollte vielleicht wieder mehr zum Einsatz kommen. ^^)

Buck steht für mich für einen Ansatz, bei dem verschiedenste kleine und große Anstrengungen ineinandergreifen müssen, um etwas zu bewirken. Sie ist keine Revolutionsromantikerin, sondern sieht die langwierige notwendige (Care-)Arbeit, die in einer besseren Zukunft stecken, deswegen auch ihr starkes Plädoyer für einen planvollen Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen, der neben dem Klima auch Gerechtigkeit auf globaler sowie auf lokaler Ebene zusammenbringt.

Ich tu mir hart, diese Bücher auf ein paar Sätze zu reduzieren, nicht zuletzt wegen eines Zuges für den ich sie auch schätze: Sie arbeitet selten mit harten Abgrenzungen, sondern selbst Punkten, die sie kritisch behandelte, gesteht sie positive Möglichkeiten zu, wenn sie diese Aspekte sieht. Wie schwer mir das Zusammenfassen fällt, hab ich mal wieder gemerkt, als ich kürzlich voreilig in einem Facebook-Comment schrieb, ich würde ein paar Sätze zu ihren Büchern sagen. Ich hab zwei Mal angesetzt und hatte dann wie so oft bei sowas das Gefühl, ich vereinfache so sehr, dass ich dem, wofür ich die Bücher schätze, nicht gerecht werde.

Deswegen bekommt ihr hier nun eine längere Zusammenfassung von “Ending Fossil Fuels”, die eine minimal gekürzte Version dessen ist, was ich mit Tobias Lindemann für Radical Utopias erarbeitet habe. Wers lieber anhört als liest, hier ist die Folge auf YouTube.

“Radical Utopias – Training For A Complicated Future” ist unsere Reihe für Buchvorstellungen und utopiasche politische Diskussionen, in der wir Bücher, die wir dazu spannend finden, zusammenfassen, um ein Gespräch dazu anzufachen. Impuls war für mich da, dass Bücher, die ich spannend finde, oft nicht oder erst ewig später auf deutsch erscheinen, hier mehr Info und die alten Folgen zum Nachgucken.


Ending Fossil Fuels hat drei Teile:

Im ersten Teil, den ich hier am knappsten abhandle, wird die Vision der “Netto-Null” als ein zu vage formuliertes Ziel auseinandergenommen. Sie ist z.B. problematisch, weil CO2-Rückbindung, vor allem die mit flächenintensiven Projekten wie Aufforstung oder Sequestrierung in Landwirtschaft, die bald an ihre Grenzen stoßen dürften. Es wird dort entkarbonisiert, wo es am leichtesten ist, statt in den Bereichen, wo es am nötigsten ist, und der Ausstieg aus den Fossilen wird verlangsamt, weil so getan wird, als würde ein Ausgleich durch CO2-Handel reichen können statt einer CO2-Bepreisung als Marktmechanismus. Im Netto-Null Konzept wird auch keine Verantwortung für Gesundheitswesen (z.B. 2018 gab es 8.7 Mio Tode durch Luftverschmutzung durch fossile Brennstoffe) und Umweltgerechtigkeit (People of Colour und Arme bekommen am meisten Schäden ab) übernommen. Es wird durch Lobbyarbeit die Förderung alternativer innovativer Technologien erstickt.

Buck fragt sich, ob die Netto-Null nicht eine kollektive Täuschung, ist ein Fetisch einer von Vermessung und Quantifizierung bestimmten Welt. Buck schlägt statt “Netto-Null” “Phaseout of fossil fuels” (Ausstieg aus fossilen Brennstoffen) als Diskursbegriff vor, für den komplexen Tanz zwischen Abschaffung von fossilen Brennstoffen und Förderung und Aufstockung alternativer Energieformen und CO2-Sequestrierung. Und es geht Buck dabei auch um eine Neuausbalancierung von Macht. Sie zieht Studien heran, die zeigen wie die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern korrupten und autoritäre Regimen nutzt und der planvollen Ausstieg aus Fossilen kann für Buck auch zur Verhinderung geopolitischen Konflikten um Ölreserven oder Gas-Pipelines beitragen. Risiken sieht sie bei Unterversorgung von Communities durch steigende Preise oder Kapazitätsreduzierungen, was zu politischen Konflikten und Destabilisierung von Staaten führen kann. Oder auch ein “pump and panic”, bei dem Konzerne vor Einschränkung des Marktes noch mal möglichst viel Kapital aus den Vorkommen schlagen wollen.

Buck ist deswegen die Perspektive wichtig, dass der Ausstieg nicht nur ein Problem ist, sondern verschiedene Probleme. Deswegen bringt sie im zweiten Teil dann fünf verschiedene Linsen, durch die ein planvoller Ausstieg aus den Fossilen zu betrachten wäre

1. Kultur

Da gehts darum, wie zentral Öl für das 20. Jahrhundert war, wie es für Freiheit und endloses Wachstum stand, für individualisierte Macht usw. Das geht bis tief in die Sprache und hat eine Kultur geschaffen, die mies darin ist, Dinge zu beenden und das nicht als Versagen zu sehen. Es gibt auch eine Kultur der “Petronostalgie”, für die neue autoritäre Bewegungen stehen, und die Nähe von Frauenfeindlichkeit und Klimaleugnung wird mit dem Begriff “Petro-Maskulinität” gefasst. Buck stellt sich da die Frage, wie sich da durchdringen lässt und sieht eine Möglichkeit darin, die Klimabewegung in einen Dialog mit politischen Post-Arbeit oder Anti-Arbeit-Traditionen zu bringen. Wenn fossile Brennstoffe nicht mehr für solide Jobs stehen, fallen ein Haufen Argumente weg. Und die Anti-Arbeit-Bewegungen könnten dem Umweltaktivismus helfen, nicht mehr nur für Verzichtskultur zu stehen, sondern eine alternative politische Vision der Freude und des Genusses herzustellen.

Buck sieht die ganze Kultur der Innovation eigentlich als eine der konstanten Sorge darum, zurückgelassen zu werden: Es ist eine Rhetorik der Angst verkleidet in eine Sprache des Optimismus. Das Problem an diesem Innovationsmindset ist auch, dass es zu einer Abwertung von Instandhaltung und Pflege, geführt hat, mit desaströsen Ergebnissen. Dagegen sieht sie es als nötig, eine Kultur des Planens zu setzen. Da geht sie kurz auf die russische Planwirtschaft des 19. Jahrhunderts ein: Dass es kein schrittweises Ausrollen einer Strategie war, den Markt zu ersetzen, sondern dass da stückweise etwas, oft in Reaktion auf Zusammenbrüche, angegangen wurde. Die logistischen und buchhalterischen Prozesse des wirtschaftlichen Planens, die da geschaffen wurden, wie der 5-Jahres-Plan, wurden von kapitalistischen Konzernen adaptiert und werden bis heute verwendet. Das sozialistische Planen wurde in den 1930ern und Vierzigern zu einer breiteren Idee, die Gesundheit, Wohnen, soziale Sicherheit, Stadtplanung und wirtschaftliches Planen umfasste. Das änderte sich, als nach dem 2. Weltkrieg das wissenschaftliche, rationale Planen aufkam. Es entwickelte sich zu einem Mashup regionaler Planung, in dem es um Landnutzung, Wohnraum, Verkehr, Umwelt- und Entwicklungsplanung ging, aber wirtschaftliche Planung rausfiel. Neoliberalismus trieb das dann noch weiter: In den 1980ern ging es darum, Planwirtschaft zu liberalisieren, quasi den Markt zu befreien und zu einer Marktwirtschaft zu gelangen.

Die Gegenkultur der 68er half hier mit: Die Kultur des Planens wurde als zu technokratisch, elitär, zentralisiert und bürokratisch betrachtet. Bis heute wird Planwirtschaft mit einer diffusen Angst vor totalitärer Herrschaft und dem Verlust individueller Freiheit verbunden, obwohl demokratisches Planen natürlich möglich ist. Das braucht allerdings nicht nur eine technokratische Reform, sondern eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Beziehungen und Strukturen. Buck sieht die Möglichkeit, dass der Green New Deal könnte so ein Framework werden könnte: Ein Planungsregime, das öffentliche Ausgaben ebenso beinhaltet wie einen Fokus auf Machtstrukturen und die Situation Marginalisierter. Um den nötigen kulturellen Umbruch hinzubekommen, braucht es auch den Beitrag von Erziehung, Medien und Kunst, die Planen zu etwas Coolem machen können, ein “Mainstreaming” des Planens quasi. Und es müssen Institutionen für demokratisches Planen geschaffen werden, um Teilnahme oder Delegation zu ermöglichen, jenseits von McKinsey Beratung und Black-Box Plattformen.

2. Geopolitik

Um die Geopolitik des Ausstiegs aus fossilen Brennstoffen zu verstehen, müssen wir verstehen, wer auf Öl angewiesen ist und wer die Fähigkeit hat, auf andere Energiequellen umzusteigen. Es sind gerade einige der am wenigsten entwickelten Länder der Welt, die derzeit planen, die Fossilen als Hebel für ihre wirtschaftliche Entwicklung einzusetzen und auszubauen, weil sie ihre Exporte noch nicht diversifiziert haben. Dazu brauchen sie die Technologie und Finanzierung der großen internationalen Ölfirmen. Es könnte dadurch zu einer Situation kommen, in der der globale Norden nachbegrünt und sich für die Netto-Null feiert, während in der ärmeren Hälfte der Welt weiterhin massiv in die Ölindustrie gepumpt wird. Buck führt hier einiges zu den Besonderheiten US-amerikanischer, saudi-arabischer und russischer Wirtschafts- und Energiepolitik aus, und zu den Schwierigkeiten eines fairen Umstiegs. Ghana zum Beispiel ist ebenso auf die Ölindustrie fixiert wie Russland oder Saudiarabien, aber ist so winzig, dass es sinnvoll sein könnte, es um der Klimagerechtigkeit willen erst mal weiterproduzieren zu lassen, währen es bei den großen Staaten ein echtes Problem darstellen würde. Für Länder des armen Südens wie Nigeria gibt es Diskussionen um einen Schulden-Klima-Austausch: eine Kompensation, die angemesssen ist, weil der Norden das Problem ja zum Hauptteil verursacht.

Es zeigt sich, so Buck, dass der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen eine globale Anstrengung mit lokalen Nuancen sein muss. Es braucht detaillierte, ortsspezifische, gerechtigkeitsbewusste Planungen, die zusammen mit lokalen Expert*innen und Gemeinden diese Diskussion aufs nächste Level heben. Buck fordert, dass unser westlicher Klimaaktivismus sich stärker mit der Außenpolitik unserer Länder befassen muss. Da ist noch vieles in Sachen Wissen, Vernetzung und Solidarität nachzuholen. Und wir sollten lauter fordern, dass die reichen Länder die Transition zu sauberer Energie rund um die Welt mittragen, nicht nur in ihrer Nachbarschaft. Der Blick durch die Linse der internationalen Beziehungen gibt uns die Fähigkeit von einer lokalen gerechten Umstellung zu einer globalen zu gelangen.

Was bringt uns dieser Blick durch die kulturelle Linse auf das Problem? Empathie und einen Blick für Techniken für Transformation vor und über Regulierungen hinaus.

3. Infrastruktur

Der geplante Ausstieg sollte auch durch die Brille der Infrastruktur gesehen werden. Damit zum Beispiel Windenergie einen wirklich maßgeblichen Teil zur Energiegewinnung beiträgt, braucht es verdammt viel Landfläche für die Turbinen. Wäre es da nicht doch sinnvoller, die alten Kraftwerke weiterlaufen zu lassen und für einen Emissionsausgleich zu sorgen? Natürlich nicht, denn das würde nicht reichen, um die angestrebten Klimaziele zu erreichen, aber: es klingt so gut. Umgekehrt wird das Ausrangieren der alten Infrastruktur gern als ein “Erleiden” beschrieben, als wäre nicht schon das Errichten davon im Wissen um die Klimalage ein Fehler gewesen: Es wird von “vorzeitigem” Schließen geredet und von “gestrandeten” oder “verlorenen” Kapitalanlagen.

Sehen wir uns die Infrastruktur der fossilen Brennstoff-Industrie mal genauer an, gibt es drei Teile: Vorgelagerte Aktivitäten wie Erforschung und Extraktion, alles was mit den Reserven unter der Erde zu tun hat. Dann gibt’s Transport, wozu Pipelines, Zugstrecken, Schiffe usw gehören. Und es gibt die nachgelagerten Operationen wie Ölverarbeitung, Distribution wie an Tankstellen und Kraftwerke. Dank dem Niedergang der US Stahlindustrie in den 1970er und 80ern, und weil schon so viele Kraftwerke wegen Überalterung schließen mussten, gibt es schon genug Wissen über so eine große Deindustrialisierung und es lässt sich planvoll vorgehen statt einfach blindlings in Negativfolgen hinein zu laufen. Um Verzögerungen vorzubeugen, sollten alle beteiligten Interessengruppen gemeinsam einen Schließungsplan erarbeiten, der Punkte wie Finanzierung und Ersatzenergie, Auszahlung von Anleihen, einen Übergangsplan für Arbeiter*innen, und Kompensation für die allgemeine Öffentlichkeit enthält. Ein Ausstieg ohne dass viele Schaden nehmen, muss gut geplant sein.

Als unterliegende Frage zieht sich durch, wer für einen Fehler zahlen sollte. Wenn wir nach kapitalistischer Logik entscheiden, sollten die Konzerne, die in vollem Wissen schlechte Entscheidungen getroffen haben, einfach hängengelassen werden. In anderen Bereichen schützen wir solche Firmen ja auch nicht. Warum sollten fossile Brennstoffe etwas Besonderes sein? Egal, wie wir diese Frage aber beantworten: Klar sollte sein, dass unser Fokus darauf liegen sollte, Menschen vor den schlechten Entscheidungen zu schützen, die Unternehmensleitungen treffen. Und wenn wir sie eh schon finanziell retten müssen, dann doch bitteschön lieber früher als später, wenn noch mehr Klimaschaden erfolgt ist.

Buck stellt auch fest, dass es interessant ist, dass anzunehmen wäre, das ein Thema wie Infrastruktur sehr klinisch betrachtet werden könnte, aber tatsächlich in diesem Diskurs eine sehr emotionale Sprache geführt wird und die Zuhörenden immer wieder zu einer Identifikation mit der Infrastruktur gebracht werden sollen: Kraftwerke und ihre Besitzer sind darin die Sympathieträger statt die Leute, die geliebte Menschen an Luftverschmutzung durch fossile Brennstoffe verloren haben und noch mal: Das waren zum Beispiel allein 2018 8.7 Millionen Tote. Auf der anderen Seite sollte der Ton aber natürlich auch nicht zu jubelnd oder zu klinisch kalt ausfallen, da die Schicksale ganzer Gemeinden an solchen Unternehmen hängen. Insgesamt lässt uns die Betrachung des Problems durch die Linse der Infrastruktur einen räumlichen Blick dafür gewinnen, mit Bezug zu den menschlichen Geographien von Arbeiter*innen und Ökonomien.

3. Geopolitik

Um die Geopolitik des Ausstiegs aus fossilen Brennstoffen zu verstehen, müssen wir verstehen, wer auf Öl angewiesen ist und wer die Fähigkeit hat, auf andere Energiequellen umzusteigen. Es sind gerade einige der am wenigsten entwickelten Länder der Welt, die derzeit planen, die Fossilen als Hebel für ihre wirtschaftliche Entwicklung einzusetzen und auszubauen, weil sie ihre Exporte noch nicht diversifiziert haben. Dazu brauchen sie die Technologie und Finanzierung der großen internationalen Ölfirmen. Es könnte dadurch zu einer Situation kommen, in der der globale Norden nachbegrünt und sich für die Netto-Null feiert, während in der ärmeren Hälfte der Welt weiterhin massiv in die Ölindustrie gepumpt wird. Buck führt hier einiges zu den Besonderheiten US-amerikanischer, saudi-arabischer und russischer Wirtschafts- und Energiepolitik aus, und zu den Schwierigkeiten eines fairen Umstiegs. Ghana zum Beispiel ist ebenso auf die Ölindustrie fixiert wie Russland oder Saudiarabien, aber ist so winzig, dass es sinnvoll sein könnte, es um der Klimagerechtigkeit willen erst mal weiterproduzieren zu lassen, währen es bei den großen Staaten ein echtes Problem darstellen würde. Für Länder des armen Südens wie Nigeria gibt es Diskussionen um einen Schulden-Klima-Austausch: eine Kompensation, die angemesssen ist, weil der Norden das Problem ja zum Hauptteil verursacht.

Es zeigt sich, so Buck, dass der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen eine globale Anstrengung mit lokalen Nuancen sein muss. Es braucht detaillierte, ortsspezifische, gerechtigkeitsbewusste Planungen, die zusammen mit lokalen Expert*innen und Gemeinden diese Diskussion aufs nächste Level heben. Buck fordert, dass unser westlicher Klimaaktivismus sich stärker mit der Außenpolitik unserer Länder befassen muss. Da ist noch vieles in Sachen Wissen, Vernetzung und Solidarität nachzuholen. Und wir sollten lauter fordern, dass die reichen Länder die Transition zu sauberer Energie rund um die Welt mittragen, nicht nur in ihrer Nachbarschaft. Der Blick durch die Linse der internationalen Beziehungen gibt uns die Fähigkeit von einer lokalen gerechten Umstellung zu einer globalen zu gelangen.

4. Code

Im nächsten Abschnitt richtet Holly Jean Buck unseren Blick auf Beziehungen zwischen Digitalität und dem Ausstieg aus fossilen Brennstoffen. Visionen von der Netto-Null hängen daran, eine Art von planetarem Computer herzustellen. Das wird selten explizit so gesagt, aber ist eigentlich klar, denn irgendwie muss ja mit Emissionsmessungen usw. berechnet werden, wann ein Netto-Null-Status erreicht wird und die großen Plattformen dürften alle heiß darauf sein, dabei zu sein.

Helle Köpfe von Harvard, MIT, DeepMind, Google AI, Microsoft Research und anderen haben sich schon für ein Paper mit 111 Punkten zusammengetan, um festzuhalten, wie sich der Klimawandel mit Machine Learning bekämpfen ließe, z.B. kann Machine Learning intelligente Netzwerke ermöglichen, Vorrat und Bedarf vorhersagen, um bestimmen zu helfen, was für Energiekraftwerke gebaut werden sollten, Wetter in die Planung von Erneuerbaren einberechnen, Speicherplätze für Kohlenstoff identifizieren und managen, Satelliten dazu verwenden Emissionen zu messen, geteilte Mobilitäts-Services ermöglichen, Frachtrouting und Logistik, das Heizen und Kühlen industrieller Einrichtungen optimieren, präzise Landwirtschaft antreiben, Wiederbewaldung automatisieren, Kohlenstoffpreise vorhersagen und Kohlenstoffmärkte designen helfen und vieles mehr. Buck findet das eigentlich Interessante an dem Papier, wie unterentwickelt viele der Ideen erscheinen: Viele sind eher spekulativ als dass sie Entwicklungen beschreiben, die schon Fuß gefasst haben. Den Grund für die Unausgereiftheit der Technologien sieht sie nicht in deren Unmöglichkeit, sondern darin, dass derzeit kein offensichtlicher Profit aus dem Monitoring der Erde und der Kohlenstoffflüsse zu schlagen ist. Aber das ändert sich langsam, das Interesse des Venturekapitals steigt inzwischen massiv.

Bevor diese Infrastruktur designed wird, sollte allerdings beantwortet werden, was für Daten oder Kapital die Plattformen unterwegs extrahieren sollen. Wer ist das Subjekt bei der Kohlenstoffplattform, welche Beziehungen stellt sie her oder löst sie auf? Derzeit sind unsere Online-Netzwerke auf einem System von personalisierter Werbung aufgebaut, beruhen auf einem mentalen Modell aus der Finanzwelt. Wir sollten es nicht zulassen, dass die Kohlenstoffflüsse so beobachtet und gehandelt werden wie unsere Aufmerksamkeit jetzt. Es kann gut passieren, dass Microsoft oder Google die ersten Startups für ökologisches Sensing und Modeling aufkaufen und es damit endet, dass diesen Konzernen die ganze Infrastruktur gehört. Für eine bessere Alternative verweist Buck auf Benjamin Brattons The Terraforming, das wir auch schon in unserer Radical Utopias Reihe diskutiert haben. Wir brauchen das planeten-weite Computing und ökologische Messungen, aber wir brauchen sie in öffentlicher Hand und müssen sie auf öffentliche Ziele richten.

Ebenso wahrscheinlich ist allerdings, dass sich Big Tech und Big Oil zusammenschließen. Microsoft hat schon Interesse gezeigt und Geld investiert, um Kohlstoffmanagement und Emissionmärkte zu erschließen, und es will bis 2030 kohlenstoffnegativ sein, aber gleichzeitig stellt Big Tech genau die Infrastruktur, die Ölkonzernen hilft, ihr Geschäft effizienter zu verrichten. Aber es bedarf fähiger Plattformen für den Austausch von Emissionen und Kohlenstoffentfernung, und es ist schwer vorstellbar, dass Amazon, Google und Microsoft da nicht dabei wären. Und es ist ja auch fantastisch, dass mit Infrastruktur wie der von Amazon als Planungswerkzeug heutzutage eine demokratisierte Planwirtschaft tatsächlich vorstellbar ist.

Durch die Linse von Code über unser Problem, wie wir die fossilen Brennstoffe abschaffen können, zu blicken, ermöglicht uns darüber nachzudenken, wie Technologie hilft, das zu verwalten, was auf der anderen Seite der Abschaffung sein könnte. Die Infrastruktur der Fossilindustrie durch Datenzentren ersetzt Arbeiter*innen, die in die Wissensökonomie wechseln. Aber es könnte alles auch entsetzlich werden, wenn wir uns angucken, wie in der Vergangenheit Big Tech und Big Oil schon verflochten sind, denn es bleibt klar: Wir brauchen die Technologie, aber sie muss reguliert werden. Die Frage, wie das geschehen soll, und ob das Überführen in die öffentliche Hand machbar und effektiv sein kann, muss ernsthaft als Option geprüft werden und braucht ebenfalls einen gut geplanten Ausstieg.

5. Politische Macht

Im letzten Abschnitt dieses Teils geht Holly Jean Buck darauf ein, wie wir die politische Macht erringen können, die es braucht, um den Ausstieg aus den Fossilen zu forcieren. Es reicht nicht, unser Meinung kundzutun und es reicht nicht, wenn Regierungen erst in Krisenmomenten reagieren, sondern für einen planvollen sozial gerechten Ausstieg braucht es Planung und um zu den Manager*innen des Ausstiegs zu werden, muss politische Macht errungen werden. Dazu geht sie auf drei Beispiele ein, aus denen wir lernen und Mut schöpfen können: Plastik, giftige Chemikalien und Tabak, die alle drei bis zu einem gewissen Grad erfolgreich eingedämmt wurden.

Die Abschaffung der Plastikbeutel zeigt, wie weit es eine Bewegung von unten mit vielen lokalen Ursprüngen statt einer großen transnationalen Kampagne bringen kann. Fragen, wie die danach, was als Ersatz sinnvoll ist, oder dass der Fokus auf einzelne Produkte wie bei der Abschaffung von Strohhalmen vom größeren Problem ablenken können, sind auch für die Abschaffung der fossilen Brennstoffe wichtig. Die Lektion aus der Abschaffung von FCKW ist, dass öffentliche Meinung und große langanhaltende Verhandlungen Wirkung zeigten, ebenso wie das öffentliche Anerkennen der wissenschaftlichen Fakten dazu und das Zusammenwirken informeller Netzwerke für die Verhandlungen. Beim dritten Beispiel, Tabak, gab es wie bei den fossilen Brennstoffen eine Debatte, ob es eine komplette Abschaffung oder Kontrolle des Wann, Wo und Wie der Verwendung geben sollte.

Interessant ist, dass alle Beispiele mindestens zehn Jahre früher Arbeit brauchten, bevor sie überhaupt ernstgenommen wurden, und dass ein Aufmerksamkeitshöhepunkt und der Punkt, an dem sich eine neue kulturelle Norm herausbildet, noch nicht mit Erfolg verwechselt werden darf. Gerade da braucht es noch mal eine große Kraftanstrengung.

Es sollten auch die Unterschiede bedacht werden, zum Beispiel dass über fossile Brennstoffe schon viel diskutiert wird und neben der Industrie auch ein Dialog mit dem Klimawandel-Komplex der Think Tanks, Nachhaltigkeitsindustrie, NGOs usw. nötig ist, die schon an Regulierungen rund um Netto-Null arbeiten.
Ein weiterer Punkt in Sachen politische Macht ist die Kluft zwischen Stadt und Land, die Buck als nächstes anspricht. Wie lassen sich die Menschen in ländlichen Gegenden überzeugen, die gar nicht einsehen, warum sie Windräder auf ihre Felder stellen sollten, die dann einer Elite von Städtern zu gute kommen? Buck greift hier Xiaowei Wangs Konzept der “Metronormativität” auf, um klarzustellen, dass wir das Verständnis von der Stadt als Kern und dem Land als Peripherie oder bloßes Anhängsel aufbrechen müssen, da dies in ländlichen Regionen oft einen dunklen Populismus schürt. Ein Green New Deal, der auch tatsächlich den ländlichen Gegenden zugute kommt, wäre eine verbindende Perspektive, ebenso wie ein anti-monopolistischer Ansatz, der sich gegen die große Industrie stellt.

Der Blick auf das Problem des fossilen Ausstiegs durch die Linse der politischen Macht gibt uns ein Gespür dafür, was an organisatorischer Arbeit nötig ist, und weitere Themen an die Hand. Wir brauchen einen Ansatz, der all diese Fronten vorantreibt: die Infrastruktur, die kulturelle Veränderung, die Geopolitik, den Code und die politische Macht von unten.

Im dritten Teil des Buchs versucht Buck eine “Ausstiegs-Toolbox für die 2020er” zu entwerfen. Wie könnten konkrete Schritte zur Beendigung der Nutzung fossiler Energieträger aussehen? Holly Jean Buck ist sich sicher, dass es sehr unterschiedliche, große und kleine Maßnahmen sein werden. Doch was ist dazu nötig? Braucht es Militanz, wie etwa der Aktivist und Soziologe Andreas Malm argumentiert? Schließlich war diese auch nötig in den Kämpfen gegen Versklavung, in der Bürgerrechtsbewegung der USA oder beim Kampf der Suffragetten um Gleichberechtigung.

Auch wenn sie Aktivismus essenziell findet im Vorgehen gegen den Klimawandel um politische Möglichkeiten zu schaffen, konzentriert sich Buck bei ihrer “Toolbox” auf Ideen, die durch Regierungsprogramme, Gesetze oder wirtschaftliche Anreizprogramme umgesetzt werden können und liefert keine aktivistische Toolbox. Sie zitiert The Red Nation: “Wir ‘machen’ nicht nur Revolution, sie muss hergestellt werden. Sie muss organisiert werden. Es kein fortdauernder Aufstand auf den Straßen sein.” Buck geht es darum, was einen Aufstand begleiten muss: Die planvolle bedachte Organisation dessen, wohin wir wollen. Sie nennt fünf Punkte, die sie in eine grobe Reihenfolge bringt, in der sie sich gegenseitig am wirkungsvollsten verstärken könnten.

1. Moratorien, Verbote und Verweigerung der Finanzierung

Es braucht Abkommen und Gesetze um den Fossil-Ausstieg voranzutreiben. Buck ist für Verbote der Erkundung von Vorkommen, des Abbaus und der Förderung sowie des Exports dieser. Ein Verbot der Erkundung von Öl- und Gasvorkommen wäre ein guter Start, da es ein starkes Signal aussendet. Ein Moratorium der Förderung ist ein drastischerer Schritt, immerhin haben diesen aber einige Länder bereits durchgesetzt, z. B. Frankreich, Belize und Costa Rica. Ein Verbot zur Weiterverarbeitung gibt es bisher nur auf lokaler Ebene, in den USA z. B. im Staat New York. Immerhin laufen international bereits 106 Moratorien in 22 Staaten, was schon mal widerlegt, dass sie unmöglich wären. Auf länderübergreifender Ebene wird es schwieriger, daher ist es notwendig, klare Regelungen zu schaffen, denen auch transnationale Konzerne unterliegen. Bisher mangelt es an diesen.

2. Zuschüsse einstellen

Durchschnittlich fördern Regierungen die Fossilbrennstoffindustrie doppelt so stark wie die erneuerbaren Energien. Das muss sich schnell ändern. Doch die Politik tut sich schwer damit, schließlich möchte kaum eine Regierung die unpopuläre Entscheidung für höhere Energiepreise fällen. Diese Förderung passiert häufig auf Arten, die nicht sofort erkennbar sind, z.B. durch Steuernachlässe oder die günstige Überlassung von Landflächen. Daran etwas zu ändern wäre nicht nur für das Klima gut, viele dieser mehr oder weniger versteckten Fördermaßnahmen sind auch sozial ungerecht oder schaffen Wettbewerbsvorteile für große Firmen.

Das Gegenargument, die Reform der Förderung würde dem freien Markt huldigen, lässt Holly Jean Buck nicht gelten. Organisationen wie das Internationale Institut für nachhaltige Entwicklung haben längst Pläne entwickelt, wie eine sozial gerechte Umstrukturierung aussehen könnte.

3. Erlaubnis zur Gewinnung

Buck gibt zu, dass es ab diesem Punkt komplizierter wird. Es ist nötig, die Gewinnung und Produktion herunterzufahren, aber wie? Die meisten bisherigen Abkommen berücksichtigen nur die Emissionen. Eine Möglichkeit, die Produktion finanziell uninteressanter zu machen, wäre eine höhere Besteuerung, doch besteht hier immer die Gefahr, dass Energie teurer wird und die soziale Ungerechtigkeit steigt.

Sinnvoller wäre es, die Gewinnung von fossilen Energieträgern an eine Erlaubnis zu binden, die nicht endlos oft ausgestellt werden kann. Somit könnte eine Gesamtfördermenge kontrolliert und Schritt für Schritt eingeschränkt werden. Regelungen dieser Art gibt es bereits, z. B. seit Ende des 19. Jahrhunderts in Texas. Dort bestimmen gewählte Gremien, wo Öl oder Gas gefördert werden darf. Bisher wird dieses Instrument der Förderquoten nicht unter Klimagesichtspunkten eingesetzt, aber dies ließe sich ändern. Bei Grundnahrungsmitteln wie z. B. Rohzucker, Milch oder Butter sind hierzu längst Verfahren installiert, sie sorgen für Preisstabilität und regulieren die landwirtschaftlichen Ressourcen. Für das Instrument der Quotierung bräuchte es jedenfalls transparente Regeln und Vergabeverfahren, um Korruption zu verhindern.

Eine Quotierung der Produktion auf internationaler Ebene könnte etwas ermöglichen, was nicht nur Holly Jean Buck, sondern auch andere Denker*innen zum Thema Klima immer wieder andenken: eine durch AI gestützte, detailliert Überwachung der Produktion klimaschädlicher Güter.

4. Vergesellschaftung zum Ausstieg

Für wesentlich effizienter hält die Autorin allerdings die Vergesellschaftung der Energiekonzerne, so ließen sich auch Quotierungen leichter umsetzen. Den Ruf danach gab es vermehrt nach der Finanzkrise 2008, als die Regierungen weltweit Geld druckten um die Banken und damit auch die Konzerne zu retten. In der Coronakrise sind diese Rufe wieder lauter geworden, war durch den zwischenzeitlich stark gesunkenen Ölpreis die Branche doch stark angeschlagen.

Historisch gesehen, sind staatliche Eingriffe und Vergesellschaftungen keine Seltenheit, selbst in den USA. Beispiele sind die Zerschlagung des riesigen Rockefeller-Ölimperiums, die Verstaatlichung der Eisenbahnen sowie Eingriffe während der Weltwirtschaftskrise und auch 2008 und 2009 nach der Finanzkrise. Viele dieser Vergesellschaftungen waren temporär, in der Klimakrise müssten sie dauerhaft sein. Für besonders sinnvoll erachtet Buck nach einer staatlichen Übernahme die Schaffung eines Solarenergie-Fonds, mit dessen Hilfe dann ein staatliches Programm für erneuerbare Energien direkt in die Tat umgesetzt werden könnte.

Natürlich ist das Prinzip der Verstaatlichung nicht frei von Risiken. Was passiert z. B., wenn ein reaktionärer, den Klimawandel leugnender Präsident wie Trump gewählt wird? Bei einer Übernahme müsste also ein bindendes Ausstiegsabkommen aus der fossilen Energiegewinnung unterzeichnet werden, um eine Reprivatisierung zu verhindern. Bezahlbar wäre es durchaus: eine Untersuchung stellte 2017 fest, dass die 25 größten Öl- und Gasfirmen der USA 1,15 Billionen Dollar kosten würden. Die Kriege im Irak und Afghanistan kosteten geschätzt zusammen 4 bis 7 Billionen Dollar – und wurden ja auch finanziert. Wenn man dazu bedenkt, wieviel Geld aufgebracht werden wird, um in der Zukunft durch das Klima verursachte Schäden zu reparieren, wird die Idee immer attraktiver. Eine arbeiter*innen-zentrierte CO2-Removal-Industrie in öffentlicher Hand ist eine dringendes politisches Projekt.

5. Reverse Engineering

Der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen könnte die zugehörige Industrie irgendwann überflüssig machen. Holly Jean Buck sieht da aber eine Chance: Wenn die Konzerne nicht mehr ihrer ursprünglichen Aufgabe nachgehen können, sind sie trotzdem technologisch und personell in der Lage, an der Aufhaltung des Klimawandels mitzuwirken. Geologische Forschung, Tiefenbohrungen, Pipelines, Großlager, Tankschiffe: die Öl- und Gasindustrie unterhält eine riesige Infrastruktur, die für die Einlagerung von CO2 genutzt werden könnte. In Bereichen wie der CO2-Filterung aus der Luft entsteht eine neue Art Verwertungskette, die in großem Maßstab geplant und umgesetzt werden muss, auch dies wäre möglich. Das Schlagwort hierfür wäre “Reverse Engineering”.
Doch ohne Vergesellschaftung wäre dies nicht machbar, denn für einen Umbau bräuchte es enorme staatliche Unterstützung, die in privater Hand in dieser Form nicht passieren würde. Zugleich könnte die Allgemeinheit von den Einnahmen dieser verstaatlichten Konzerne profitieren, wenn die Umstellung gelungen ist. Es geht also, so Buck, nicht um Moleküle, die aus dem Boden gewonnen oder dort belassen werden, auch nicht darum, solche Konzerne zu zerschlagen – im Gegenteil, wir brauchen sie. Stattdessen geht es grundlegend um die Gestaltung unserer gesellschaftlichen Beziehungen, einer demokratischeren Verwaltung.

Im abschließenden Resümée ist sich Holly Jean Buck sicher, dass wir in diesem Jahrzehnt nicht die Lösung gegen den Klimawandel finden werden – aber es müssen wichtige Weichen gestellt und die Planungen vorangetrieben werden. Dazu müssen wir auch eine neue Art finden, über diese Prozesse nachzudenken und zu sprechen. Wir müssen Konzepte der Vergesellschaftung vorantreiben, die nötige Infrastruktur für die anstehenden Aufgaben erforschen und die Rolle von Energiekonzernen überdenken. In all diesen Prozessen ist das Konzept der “Netto-Null” wenig hilfreich, trifft es doch keine Aussage über kulturelle, wirtschaftliche und soziale Veränderungen, die dringend nötig sind. Die technischen Maßnahmen, mit denen wir dem Klimawandel begegnen können, sind nur da, um uns Zeit zu geben, tiefere Veränderungen vorzunehmen und dabei unseren Umgang mit Rohstoffen, Natur und Arbeit neu zu definieren.

Holly Jean Buck gibt uns hierfür fünf Ideen mit auf den Weg, die wir in unserem Umfeld diskutieren sollten:

1. Die Netto-Null ist das falsche Ziel für den Klimakampf, sie lenkt die Aufmerksamkeit weg von der Produktion, hin zu den Emissionen. Besser wäre es, die Gewinnung von fossilen Brennstoffen möglichst schnell und gut geplant auslaufen zu lassen.

2. Plattformmacht ist eine Macht für Veränderung. Das System der sozialen Medien, wie es jetzt angelegt ist, führt zu Polarisierung und macht uns anfällig für kollektive Täuschungen. Soziale Medien sind aber eine wichtige Informationsinfrastruktur und sollten deshalb vergesellschaftet werden.

3. Klimaschützer*innen müssen vorausschauender denken, um den Ausstieg aus den Fossilen und die Schaffung sauberer Energie-Infrastruktur zu planen. Sie müssen Entwicklungen wie die Entzauberung von erneuerbaren Energien oder Kampagnen für “saubere” fossile Brennstoffe vorhersehen und ihnen offensiv begegnen.

4. Es gibt große Risiken beim Auslaufenlassen fossiler Brennstoffe, aber die Vorteile überwiegen. Es muss offensiv über autoritäre Politik, Korruption, Ausbeutung und Unterdrückung gesprochen werden, die durch fossile Brennstoffe entstehen.

5. An das Auslaufenlassen muss multidimensional herangegangen werden. Kulturelle Transformationsprozesse müssen mitgedacht werden, globale und lokale Auswirkungen müssen gleichzeitig betrachtet werden. Eine demokratische Planung ist nötig, die von den fossilen Energieträgern auch auf andere Bereiche übertragen werden kann, in denen Menschen und Umwelt ebenfalls Schaden nehmen. Die Fähigkeit, Dinge zu beenden, ist zutiefst emanzipatorisch.

Olga Tokarczuk – Letzte Geschichten

Gerade habe ich Letzte Geschichten fertiggehört. Ich liebe Tokarczuks poetischen Umgang mit Sprache! Sie braucht eigentlich keine besondern Inhalte, ihr würde ich auch zuhören, wenn sie erzählt, wie jemand einen Apfel schält. Trotzdem wirkt sie immer besondere Geschichten ineinander: Hier sind es drei Frauenleben, drei Generationen. Raue Frauen, drei Getriebene, Rastlose, es geht um Flucht und Zuflucht, Weiterziehen und Begegnungen, Tod und Leben. Jede Frau in einem Moment der Krise und keine von ihnen besonders sympathisch, aber mit jeder säße ich jetzt gern für eine Weile an einer Theke in einer fremden Stadt und würde ihr einen Schnaps ausgeben, bevor sich unsere Wege wieder trennen.

Auerhaus von Bov Bjerg

Ich hab mir Auerhaus jetzt doch mal wenigstens als Audiobook angehört, nachdem so viel davon geschwärmt worden war, als es rauskam. Es ist ein gutes Mittel gegen 80er Nostalgie, das muss ich ihm lassen. Es ist aber weder sonderlich gut geschrieben, noch glänzt es durch eine herausragende Story. Die Figuren bleiben blass und entwickeln sich kaum. Die flapsige distanzierte Abgeklärtheit der Protagonisten ist im besten Fall als so etwas wie der Versuch, einen männlichen No Future-Zeitgeist rüberzubringen, im schlechtesten die Unfähigkeit des Autors, Figuren zum Leben zu erwecken. Themen wie Freundschaft, Suizid und Coming of Age so distanziert erzählt zu bekommen, schmerzt. Gerade Suizid so auf Rahmung und Handlungstreiber präsentiert bekommen, inhaltlich jedoch eher auf dem Lebel “ist halt so”, ist arm. Dazu kommt als Tüpfelchen auf dem “i” noch die misogyne Haltung, die aus der Darstellung der klischeegefangenen Frauenfiguren und einer schwulen Figur (die gleich auch noch Stricher und Dealer ist) spricht. Alles irgendwie so “wir haben Dinge getan, die andere ganz crazy fanden, aber ey, für uns ganz normal.” Nee, sorry, ärgerliches Buch und der Hype ist für mich nicht nachvollziehbar. Aber zum Audiobook noch: Robert Stadlhuber ist wieder mal hervorragend als Vorleser.

Gegenwartsbewältigung von Max Czollek

Großartige Analyse und Abrechnung mit der Selbstgefälligkeit der bürgerlichen “deutschen” Dominanzkultur, die noch immer nicht in der post-migrantischen Realität angekommen ist. Von deutschem Erinnerungstheater bis zu den Reaktionen auf den rechten Terror von Hanau, von Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit bis zu gesellschaftlichen Ungleichheiten während Corona: Czollek weiß zu ranten, ohne dass er der sprachlichem Gepfeffertheit die Genauigkeit der Kritik opfert. Was aber noch schön wäre: Wenn –vor allem im Kapitel zu intersektionalen Feminismus und Radikaler Vielfalt– nicht Kapitalismuskritik eine Leerstelle bleiben würde, die leider gerade dann dröhnend ins Gesicht und Gewicht fällt, wenn individuelle Wohltätigkeit als akzeptable Lösung zur Finanzierung künstlerischer Tätigkeit erhoben wird, und das ausgerechnet am Beispiel Engels / Marx. Dass dieses Beispiel kein Zufall ist, davon ist bei Czolleks scharfem Blick schon auszugehen. Aber das Buch ist eine wirklich lesenswerte, oder auch, wie ich es genossen habe: hörenswerte Polemik.

Kill All Normies – ein Faszinationsproblem

Eine englische Version dieses Posts ist hier veröffentlicht worden und eine tl;dr Version wird es in Druckform geben, in Analyse & Kritik.

“this is not a book about the alt-right. It is an anti-Left polemic.”
Jordy Cummings

‘the centre’ – as a proclaimed area of shared, sensible assumptions about the values, needs and possibilities of a political community, defined against threatening ‘extremes’ – is a frequently remade fiction, masking specific ideological commitments and positioning
Tom Crewe

Jetzt halt doch noch, ewig spät, ein paar Worte zu Angela Nagles Kill All Normies. Anlass ist, dass immer noch und immer wieder ärgerlicherweise neue Texte veröffentlicht werden, die sich kritiklos darauf beziehen. Aktuell gab mir den Anstoß ein Artikel von Klaus Walter, der einfach Nagles (wiederum von der Alt-Right-Selbstdarstellung kritiklos übernommene), These übernimmt, Alt-Right sei der neue Punk.
Manchmal wird in diesen Texten das Wörtchen “umstritten” eingebaut, eine Art magische Formel, die zwar signalisiert, dass geahnt wird, dass Kritik angebracht wäre, aber die gleichzeitig davon befreit, diese zu leisten. Ich würde mir bei dem Bekanntheitsgrad, den Kill All Normies inzwischen erreicht hat, aber eher wünschen, dass dieses Buch so kritisch diskutiert und zerpflückt würde wie der Sokal (Squared) Hoax und einen kleinen Beitrag dazu möchte ich hier leisten.

Keine Quellenangaben, gehässiger und schludriger Stil

Ein Grund dafür wäre schon allein Nagles “sloppy sourcing”: Es gibt keine Quellenangaben in diesem Buch. Das macht nicht nur eine Verifizierung schwierig, sondern es ist auch kaum möglich, Aussagen zu kontextualisieren. Libcom haben sich die Mühe gemacht, Quellen nachzuspüren, und ihnen ist aufgefallen, dass es Stellen gibt, die im Wortlaut Wikipedia-Einträgen gleichen. Wenn man so vorgeht, kann es denn schon mal passieren, dass man einfach die Selbstbeschreibung eines Faschisten übernimmt. In Nagles Fall Aleksandr Dugins Beschreibung seines eigenen Buches. Ähnlich Problematisches hat Charles Davis zusammengetragen, zum Beispiel dass Nagle Ereignisse basierend auf News-Artikeln beschreibt, die sie nicht zitiert, aber dabei die Stellen der Artikel weglässt, die nicht ihr Argument stützen (z.B. ihre Behauptung, dass Campus-Linke zunehmend unvernünftig und unzumutbar agieren würden).

Auch die boulevardjournalistische bissige Ausdrucksweise, die Kill All Normies prägt, einige Rechtschreibfehler und insgesamt ein Schreibstil, dem man die Schnelligkeit anmerkt, mit der dieser Text heruntergeschrieben wurde, finde ich kritisierenswert. Es wurde anscheinend kaum Arbeit ins Editieren gesteckt und, wie gesagt, auf überprüfbare Quellenangaben verzichtet. Das ist vielleicht für eine Bloggerin wie mich okay, die nicht viel Zeit und keinen redaktionellen Background und Ressourcen hat, aber für ein veröffentlichtes Buch, das inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt erschienen ist, und nun in großem Ausmaß die Runde macht und selbst von Menschen mit akademischem Background als angeblich seriöser Beleg verwendet wird, ist es eigentlich ein No Go. Ich kann nur annehmen, dass der Verlag Zero wohl darauf gesetzt hat, dass ein so reißerisches Werk ihm auch in dieser schludrigen Version aus den Händen gerissen wird. Und das hat ja auch geklappt. Clickbait in Buchform.

Jules Joanne Gleeson ordnet das Buch genremäßig ganz treffend als “Reiseerzählung für Internetkultur” ein, den exotisierenden Aspekt beschreibend: “Kill All Normies wirft einem Publikum, von dem sie erwartet, dass es das Erzählte als fremd und pikant empfindet, mit einer Reihe von Kuriositäten und Seltsamkeiten (von Neonazikults bis zu Teenagern mit undurchschaubaren Gendern) vor. Nagle versucht, sich selbst als distanzierte und ironische Forscherin darzustellen, aber an verschiedensten Punkten wird all zu klar, wo ihre Interessen liegen.”

[Hinweis: Die groben Übersetzungen aus dem Englischen sind alle von mir, die englischen Originaltexte zum Nachlesen verlinkt.]

Ablehnung des Femininem, internalisierte Misogynie

Nagles Buch durchzieht eine Ablehnung des Femininen und von Verletzlichkeit. Sie ist spürbar genervt von Feminist*innen und liest sich, als wäre sie gern “one of the guys”, a “cool girl”, es riecht hier geradezu nach internalisierter Frauenfeindlichkeit. Sie schafft schon allein in kleinen sprachlichen Details eine subtile Stimmung gegen Personen, die sie dem Tumblr-Liberalism zuordnet. So beobachtet z.B. Jordy Cummings dass Nagle bei Denkern, die sie schätzt, deren Titel (z.B. “Doktor” oder “Professor”) verwendet, aber bei Leuten wie Judith Butler den Titel weglässt.

Um Gamergate, eines der Initialereignisse im Entstehen der Alt-Right zu beschreiben, hält sie es doch tatsächlich für hilfreich, Folgendes zu schreiben:

“Gamergate itself kicked off when Zoe Quinn created a video game called Depression Quest, which even to a nongamer like me looked like a terrible game featuring many of the fragility and mental illness-fetishizing characteristics of the kind of feminism that has emerged online in recent years. It was the kind of game, about depression, that would have worked as a perfect parody of everything the gamergaters hated about SJWs (social justice warriors).
Nevertheless, her dreadful game got positive reviews from politically sympathetic indie games journalists, which turned into a kind of catalyst for the whole gamergate saga.”

Das sei auch mal deswegen in dieser Länge zitiert, damit ihr einen Geschmack von ihrem Stil bekommt. Wie Noah Berlatsky dazu anmerkt: Kein Wort darüber, dass Zoe Quinn selbst unter Depression litt, und dass die Tatsache, dass ihr Spiel sich um Traurigkeit und Zerbrechlichkeit dreht – und damit weiblich kodiert ist – einer der Hauptgründe war, warum sie dem Gamergate-Mob so ein willkommenes Opfer war (Quinn war eine der Frauen, die im Rahmen von Gamergate unter den massivsten misogynen Attacken zu leiden hatte).

An manchen Stellen, an denen Nagle so verächtlich über das offene Zeigen von Verletzlichkeit schreibt, wartete ich fast drauf, dass sie selbst gleich die Beschimpfung “snowflakes” verwendet. Wenn sie über die vermeintliche Schwäche einer Frau wie Zoe Quinn schreibt, die sich über Jahre hinweg mit Mord- und Vergewaltigungsdrohungen und dem Ausbreiten privater Details in der Öffentlichkeit herumschlagen musste, erschreibt sich Nagle dabei gleichzeitig implizit selbst als tough-minded Kritikerin von Feminismus und jedes Zeigens von Verletzbarkeit, und: als sehr konservativ, was Gender Politics angeht.

Sie beschreibt die Hässlichkeit rechter Propaganda im Netz schon deutlich, aber es klingt immer wieder durch, dass sie einen Tick zu viel Verständnis für die Alt-Right und Sexisten der Manosphere hat. So zum Beispiel wenn sie über die Wurzeln der Incels schreibt. In ihrem Kapitel über die Manosphere übernimmt sie unkritisch die Theorie der Incels, dass die sexuelle Revolution zu einer “steilen sexuellen Hierarchie” geführt habe und beschreibt den Rückgang von Monogamie ebenso unkritisch als Ursache für eine “Hackordnung” unter Männern, wie Donald Parkinson aufgefallen ist: “Die Idee, dass diese Männer einfach keinen Sex abkriegen und deswegen dazu verdammt sind, so reaktionär zu sein, nährt perfekt die Ideologie von Reddit Incels.” Es wundert kaum, dass Nagle auch Jordan Peterson nicht besonders kritisch sieht, der ja vergangenes Jahr mal Monogamiezwang als Lösung für misogyne Gewalt vorgeschlagen hat. Auch Jonathan Haidt feiert sie natürlich ab.

Was ich dem Büchlein zu gute halten ist, ist, dass es viele Subszenen dessen, wie sich die rechte US-Szene online darstellt, und ein paar feine Unterscheidungen vorstellt, aber das haben andere auch schon geleistet, und sachlicher. Nagles nerdige Faszination hat Schlagseite. Sie geht ellenlang auf Pat Buchanan und Milo Yiannopolous ein, zitiert diese auch wörtlich und übernimmt deren Thesen über einen angeblichen Autoritarismus der Linken, aber ihre Darstellung der Linken? Wow. Da erschreibt sie durch grobe Vereinfachungen und durch stimmungsmachende Beschreibung, wie zum Beispiel die (Vokabeln wie ”hysterisch”, “empfindlich”, “absurd” fallen immer wieder; sie nutzt die durch Feminisierung abwertende Sprache, die auch die Alt-Right nutzt) und durch Auslassungen überhaupt erst das undifferenzierte und unzutreffende Bild einer geschlossenen, allgegenwärtigen hypersensiblen PC-Zensur-“Linken”, das sie für ihre These braucht.

Konstruktion und Dämonisierung einer imaginären Linken: “Tumblr Liberalism”

Eine solche Auslassung ist es zum Beispiel, wenn sie, um die “Linke” als anti-free speech Bewegung darzustellen, die Proteste anlässlich des Besuchs von Milo “Feminism is cancer” Yiannopolous in Berkeley nur als Angriffe auf Redefreiheit beschreibt, aber mit keinem Wort erwähnt, dass der wichtigste Grund dafür, dass die Proteste so drastisch ausfielen, der war, dass Yiannopolous angekündigt hatte, dass er in seiner Rede Immigrant*innen ohne Papiere namentlich outen und so der Abschiebung preisgeben wollte, und er seine Fans aufrief, es ihm gleichzutun. Ein Angriff auf die Verletztlichsten unserer Gesellschaft, wie Andrew Stewart schreibt, und sich dem radikal entgegenzustellen, sich für diese konkret bedrohten Menschen einzusetzen, war das Anliegen der Protestierenden. Das in ihrer Beschreibung der Ereignisse einfach wegzulassen, ist schlicht verfälschend. Angela Nagle stellt sich hier auf die Seite eines Free Speech Absolutismus, und schlimmer noch: obwohl es auch ein Kernthema der rechten Propaganda ist, setzt sie ihre Haltung als Status Quo, und Gründe dagegen interessieren sie nicht. Es gibt noch weitere Beispiele, wie Nagle Campus-Konflikte einseitig und mit Auslassungen arbeitend darstellt, um sie als “anti-free spech” Zensur statt als politischen Protest darzustellen. Diese könnt ihr z.B. in Richard Seymours “The negative dialectics of moralism” finden.

So wie sie hier die komplexeren Hintergründe weglässt, geht Nagle auch vor, wenn sie progressive linke Ansätze, auf Diskriminierungspolitik im Alltag fokussierte Identitätspolitics und neoliberale Diversity-Ansätze und viele mehr einfach in einen Topf wirft und einen “Tumblr Liberalism” daraus konstruiert: Sie beschreibt ihn nur aus – meist verkürzt dargestellten – Extrembeispielen heraus: hyperempfindliche Call-Out Culture ist ihr Lieblingspunkt, ohne dass sie belegen kann, dass das tatsächlich den Großteil der Online-Linken prägt, und dass es sich nicht nur um einen kleinen, nicht repräsentativen, aber halt sehr lauten Teil handelt. Alltägliche Diskriminierungserfahrungen, die oft selbst in progressiven linken Kreisen ignoriert wurden, und aus denen heraus ”Identitätspolitics” entstanden, werden nicht erwähnt. Der nebulöse Tumblr-Liberalism erscheint aus einer emotionalisierten irrationalen Empfindsamkeit heraus geboren, die sie bestenfalls schlampig irgendwie auf Ideale der Hippiebewegung, die Mainstream geworden seien, zurückführt, dabei Rassismus, Antisemitismus, Ableismus u.ä. außen vor lassend.

Ich finde es faszinierend, wie Nagle sich selbst, wie gesagt, in Kill All Normies als empathiefreie Vernunft, eine Art Common Sense des Bothsideism, erschreibt, dabei implizit eine Leserschaft anvisierend, die sich selbst so sieht, als neutrale Position, eine Leserschaft, die sich höchstens wenig mit Diskriminierungserfahrungen auseinandersetzen muss und will. Sich als neutrale Position zu setzen, eine solche Anmaßung der Objektivät, ist leider ein häufiger Move, mit dem sich die bürgerliche Mitte als neutrale Stelle zu setzen, und weiße westliche Philosophie ihrer eigenen Verflechtung in Machtverhältnisse und Diskriminierungsgeschichte zu entziehen versucht. Anyway.

Noch ein Beispiel dafür, wie Nagle ihr linkes Feindbild konstruiert, ist ihr Lächerlichmachen von Ideen der Gender Theories, dem sie viel Raum gibt. Dass sie gleich zwei Seiten ihres auf mehreren Ebenen dünnen Büchleins einer Liste von Genderbegriffen von “gender-bending Tumblr users” widmet, spricht allein schon Bände: Es signalisiert ein “schaut euch diese Spinner an!” an die Leserschaft. Diese Liste als angeblich repräsentatives Beispiel zu setzen, ist hanebüchen. Da es keine Quellenangaben gibt und Nagle auf eine Anfrage nicht reagierte, haben Libcom auch hier selbst recherchiert und Nagle dürfte die Liste entweder von einer im Kontext von Gender-Tumblr klar als “list of poorly-attested nonbinary identities” bezeichneten Liste haben, oder von einem Alt-Right Forumthread, in dem sich User über die Liste lustig machten. Andere Quellen sind im Netz dazu nicht zu finden.

Ein weiteres Beispiel wäre ihr empathieloser Spott über Spoonies, eine Bezeichnung für Menschen, die mit einer chronischen Krankheit leben, meist mit Fokus auf jene, deren Krankheiten ihnen nicht anzusehen sind, und Menschen mit chronischen Schmerzen. Wer mehr dazu wissen möchte, z.B. Amanda Hess hat darüber geschrieben, wie sich unter dem Spoonie-Begriff auf Social Media Menschen gegenseitig austauschen und unterstützen, die oft niemanden sonst kennen, der ihre Erfahrungen als Crohn- oder Lupus-Kranke nachvollziehen kann. Wo früher nur offline Selbsthilfegruppen solche Austauschmöglichkeiten boten, ist das heute online leichter geworden und es wird offensiver damit umgegangen statt die Krankheit voll Scham zu verstecken. Aus der Not wird eine eigene Subkultur gemacht und der Löffel wurde zum Symbol auf Tassen, Schmuck oder Shirts, an dem man sich leicht gegenseitig wiedererkennt – wie oft in der Geschichte von gesellschaftlich Marginalisierten.

Nagle schreibt nichts über die positiven Aspekte, sondern stellt es lediglich als einen “cult of suffering, weakness and vulnerability” dar, deutet sogar an, dass die Krankheiten erfunden seien, wieder alles in negativer Extremform: “Young women, very often also identifying as intersectional feminists and radicals, displayed their spoonie identity and lashed out at anyone for not reacting appropriately to their under-recognized, undiagnosed or undiagnosable invisible illnesses or for lacking sensitivity to their other identities.” Irgendwie klingt sie echt oft wie so ein alter verbitterter Mann, der die Jugend von heute nicht packt. Oder wie Josh Davies etwas sachlicher feststellt: ”Nagles Fokus darauf wie Sachen gesagt werden, und ihr Widerwille, über die Politik und die Prozesse hinter dem, was gesagt wird, nachzudenken, führen dazu, dass sie anscheinend eine ähnliche Haltung zu Gender annimmt wie jene vieler Konservativer, die sie eigentlich kritisch sieht: Gender-Nichtkonformität ist etwas Fremdes, Esoterisches und Frivoles. So wie ihr Argument hier präsentiert wird, unterscheidet es sich kaum vom transphoben “I sexually identify as an attack helicopter” Meme, das quer durch’s Internet von edgy Verteidigern der Heteronormativität immer wieder hochgewürgt wird.”

Donald Parkinson weist darauf hin, dass Fans des Buches auf negative Reaktionen auf Kill All Normies aus der Ecke, die sie als “Social Justice Tumblr und Twitter” bezeichnen, reagieren, als wäre deren Kritik ein Beweis dafür, wie “empfindlich” und “hysterisch” diese Leute seien. “Was es aber tatsächlich beweist, ist, dass Linke keine Fans von konservativer Genderpolitik und dem Verspotten von Menschen mit Behinderung sind, was stimmt und womit sie auch recht haben. Der Grund dafür, warum Tumblr ID Politics existieren, ist, dass Leute tatsächliche Unterdrückung in ihren alltäglichen Leben erfahren, und ein Mangel an kollektiven Lösungen führt Menschen zu individualistischen Methoden, das zu bewältigen.”

Dass Teile dieser Kultur auch toxische Züge aufweisen, mit Gängelungen bestimmter Ansichten und Shaming und Call Out Culture, mag nicht von der Hand zu weisen sein, aber erstens gibt es negative Extreme auch bei jeder anderen politischen Kultur, wo sie nicht mit einer solchen Gehässigkeit kritisiert werden, die mich automatisch fragen lässt, worum es dieser Kritik eigentlich geht. Und zweitens: Den rechten Mythos zu übernehmen, dass es sich dabei um ‘die herrschende Elite’ handle und die Rechten quasi nur aus Notwehr so radikal würden, verkennt komplett, dass – so auch Donald Parkinson – es schon immer eine Taktik der Rechten war, sich auf Extremfälle zu berufen um progressive linke Anliegen zu dämonisieren.

Der Rechten in die Hände spielend, die damit einen Haken in die Mitte der Gesellschaft auswirft, übernimmt Nagle deren Jargon und Argumentation viel zu oft blindlings, noch mal ein Auszug aus Kill All Normies:

“This anti-free speech, anti-free thought, anti-intellectual online movement, which has substituted politics with neuroses, can’t be separated from the real-life scenes millions saw online of college campuses, in which to be on the right was made something exciting, fun and courageous for the first time since… well, possibly ever. When Milo challenged his protesters to argue with him countless times on his tour, he knew that they not only wouldn’t, but also that they couldn’t. They come from an utterly intellectually shut-down world of Tumblr and trigger warnings, and the purging of dissent in which they have only learned to recite jargon.”

Ist das noch ‘rationale’ Kritik an links, oder schon Werbung für die Alt-Right?

Was bei Nagle keine Erwähnung findet, ist die Diversität der linken und linksliberalen Gruppierungen, sind die zahlreichen, ausführlichen und kontroversen Diskussionen, die typisch für die meisten linken Online-Subkulturpraxis sind, und aus denen sich Ansätze immer wieder weiterentwickeln. Außerdem “on the Internet, nobody knows you’re a dog”: Es wird auch nicht erwähnt, dass hier, wenn auch wahrscheinlich keine Hunde, so doch teilweise Kids unterwegs sind, die Fanfic und Memes mit politischem Herumtheoretisieren vermengen, teilweise Selbsthilfegruppen sich gegenseitig mit ihren Problemen helfen wollen, teilweise Lai*innen ohne akademische Bildung versuchen, sich mit komplexen Theorien auseinanderzusetzen und aus ihnen Hilfe für eine politische Praxis im konkreten Alltag zu ziehen, und so weiter und das alles steht neben akademischen politischen Diskussionen und all das wird bei ihr gleichgemacht und erscheint bei ihr als eine Art völlig homogener dogmatisch-festgefahrener irrationaler Tribalismus, ein linkes Feindbild. Bei Nagle fällt sogar auch Hilary Clinton drunter, weil sie im Wahlkampf Begriffe wie “check your privilege” verwendet hat.

Dass Neoliberale viele progressive, konstruktive und nuancierte Ansätze kommodifiziert haben, und sie dabei auf Schlagworte verkürzt haben, wie im Marketing von Parteienpolitik bis zu Produkten, heißt nicht, dass diese Ansätze in ihrer radikaleren Form nicht berechtigt und sinnvoll sein könnten – es lohnt sich, zu differenzieren. Linke zeichnet es ja aus, dass ein Hive Mind immer wieder reflektiert, diskutiert, kritisiert, verwirft und weiterentwickelt, wie eine bessere Zukunft für alle erreicht werden könnte. Und ein klassenbasierter intersektionaler Feminismus zum Beispiel, der wie Andrew Stewart auch ganz richtig bemerkt, eine effektive Opposition zur Alt-Right sein kann, wird bei Nagle auch mit keinem Wort erwähnt.

Noch mal Josh Davies dazu: “Nagles pauschale Verallgemeinerungen verschleiern nicht nur ihre Unterschiede, sondern machen jegliche Auseinandersetzung mit der Geschichte und den politischen Ansätzen all der Bestandteile des amorphen ‘Tumblr Liberalism” unmöglich. Für ein Buch, dass sich so sehr auf die angebliche Unfähigkeit der Linken fokussiert, Ideen zu generieren und zu hinterfragen, liest es sich oft wie eine Einladung, nicht zu denken.

Ich musste bei diesem Buch oft an die (fast hätte ich “umstrittene” geschrieben! ^^) Essay-Sammlung Beißreflexe denken, und mir kam jetzt beim Schreiben in den Kopf: Eigentlich ließe sich Kill All Normies ganz wunderbar entlang der sieben Punkte durchanalysieren, die Floris Biskamp in der ultimativen Beißreflexe-Besprechung ausführt: Die Verallgemeinerung von Besonderem, alarmistische Übertreibung, die Effekte der Vereinheitlichung, unsichtbare Macht und ignorierte Handlungsfähigkeit, unverstandene Privilegienkritik, verdrängte Rassismuskritik, die Pathologisierung der Anderen. Zeit dafür, das im Detail auszuführen, habe ich leider nicht, aber es ist erstaunlich, wie diese Kritikpunkte auch auf Kill All Normies passen.

Begrenzter und Selbstinszenierung übernehmender statt kritisch und historisch einordnender Blick auf die Alt-Right

Nagle hat nach Kill All Normies inzwischen auch einen Text namens ‘The Left case against Open Borders’ veröffentlicht, in dem sie die Working Class gegen Immigrant*innen ausspielt und die linke Idee von Globalisierung mit deren neoliberalem Zerrspiegel gleichsetzt. (Den Gegensatz haben immer noch die Goldenen Zitronen am besten poetisiert auf den Punkt gebracht: “Über euer scheiß Mittelmeer käm’ ich, wenn ich ein Turnschuh wär’.”) Mit diesem Text hat sich Nagle dann auch von dem Weißnationalisten Tucker Carlson in einem Interview in dessen Show instrumentalisieren und feiern lassen. Ich weiß nicht, ob sie so naiv oder so ignorant ist, die rassistische, antisemitische, sexistische und nativistische Ideologie der Rechten nicht ernst zu nehmen, oder ob sie schlicht nichts dagegen hat, ihnen in die Hände zu spielen, Querfront quasi.

Auch Kill All Normies bekleckert sich hier nicht mit Ruhm. Es fehlt das Thema Rassismus, es fehlt auch die Verbindung zu älteren Trends der englischsprachigen Rechten, wie z.B. English Defence League oder National Action, kritisiert Jules Joanne Gleeson. Ebenso fehlt ein Aufzeigen der Vernetzung der Alt-Right über geographische Grenzen hinweg, zu Gruppen wie Griechenlands Golden Dawn oder Frankreichs Génération Identitaire, was ist mit internationalen Verknüpfungen zu Putins sogenannter Trollarmee oder dem Erfolg von Hindutva? Was ist mit Überschneidungen zum Counter-Jihad Movement, das sich auch stark online aktiv war? Und Gleeson bemängelt explizit: “Unglücklicherweise ist eines der anderen größten Versäumnisse des Buches das Fehlen einer dezidierten Behandlung von Antisemitismus.” Sie kommt darüberhinaus zum Schluss: “Nagle verlässt sich auf ein Schema, das von der Alt-Right selbst produziert wurde: der Trennung der richtigen Alt-Right (Hardcore Nationalsozialisten und White Supremacists) und Alt-Light (die größtenteils offensichtlichen Rassismus vermeiden, und stattdessen einen ‘zivilisierteren’ westlichen Chauvinismus einsetzen). Nagle entgeht es, zu bemerken wie diese Unterscheidung von der Alt-Right selbst instrumentalisiert eingesetzt geworden ist.

Sie analysiert die Taktiken der Alt-Right nicht als solche, und zeigt nicht auf, dass neben einem Dämonisieren von Gender Theories und Feminismus, von linker Kritik als Zensur, auch ein großes Propagandathema z.B. der Versuch der Alt-Right ist, ein Revival der amerikanischen Kommunismuspanik zu schüren, sowohl über das Aufkochen der antisemitistisch konnotierten Hetze gegen einen “Kulturmarxismus” oder direkt als Angst vor einer kommunistischen Revolution, als Red Scare Revival, worüber z.B. Jack Smith IV schrieb. Das ist auch weder neu noch internetspezifisch, sondern sollte historisch eingeordnet werden. Wie Smith IV feststellt: “Die Rhetorik ist antiquiert, aber der Zweck bleibt derselbe: Protest als Subversion darzustellen, den Kampf für Bürgerrechte zu unterhöhlen und die Linke davon abzuhalten, die Grenzen dessen zu erweitern, was in Amerika möglich ist, indem sie die Grenzen dessen überwacht, was es bedeutet ein Ameriker zu sein.”

Es ist bemerkenswert, dass, so Donald Parkinson, Nagle letztlich in ihrer Version davon, wie es zur Alt-Right kam, eine Herangehensweise nutzt, die viel mehr mit “liberal” Kulturtheorien gemein hat, als mit dem materialistischen Ansatz, den sie sich gerne selbst unterstellt. Es bleibt in Kill All Normies bei einer Analyse entlang ihrer Transgressionstheorie, es geht nicht um Klasse und Ökonomie. (Das verleiht auch der Vorliebe der linken Materialismus-Ecke für Nagles Buch eine gewisse Ironie.) Nagles Auseinandersetzung bleibt auf Online-Diskurse beschränkt und – so auch Donald Parkinson – Nagles Hauptproblem mit den Identitätspolitics des Tumblr-Liberalismus ist durch’s ganze Buch hindurch deren “Überempfindlichkeit” und “Extremismus” und nicht, dass sich damit Ausbeutung und Unterdrückung nicht adäquat ansprechen lassen würden.

Digital Dualism und fehlende Analyse der digitalen Mechanismen

Die Beschränkung ihrer Betrachtungen auf Onlinepräsenz (und Marketingstunts) führt Nagle zu Kapitelüberschriften wie “The joke isn’t funny any more – the culture war goes offline”. Sie scheint ganz im Denken des Digitalen Dualismus zu stecken, zwischen “realer” Offlinewelt und “virtueller” Onlinewelt zu trennen, wenn sie Formulierungen verwendet wie “spills into real life”. Erst war die “leaderless internet revolution”, dann die “identity politics” und als Antwort darauf der “irreverent trolling style associated with 4chan” und dann war das Netz so voll, dass es überlief und aus Tumblr auf den Campus floss usw. Vielleicht sollte einfach wer einen Stöpsel in die rechten Teile des Internets machen, und der ganze rechte Hass bliebe drin.

Da Nagle das Offlinewirken der Rechten ignoriert, übersieht sie wichtige Zusammenhänge und unterschätzt deren Gefährlichkeit und Wirkzusammenhänge. Donald Parkinson weist auf diese Schwäche von Kill All Normies hin: “Ideologen wie Richard Spencer und Kevin MacDonadl haben ihre Think Tanks und Affinity Groups schon seit einiger Zeit, und wie die Ereignisse von Charlottesville zeigen, sind sie gewillt, ihre Ideen ‘auf die Straße’ zu tragen. Es gibt einen Mangel an Informationen über die Alt-Right wie sie [offline] existiert. … Es wird nichts über die Anstrengungen von White Supremacist-Organisatoren wie Identity Europa oder Traditionalist Workers Party geschrieben, Studentenverbindungen und Arbeiter im ländlichen Raum zu organisieren, oder darüber, was für Visionen diese Gruppen haben (eine Balkanisierung der Vereinigten Staaten und die Erschaffung eines komplett weißen ‘Ethno-Staats’ ist eine gängige davon). Stattdessen präsentiert Nagle die Alt-Right nur als ein Onlinephänomen, obwohl diese Leute diese Politik schon seit Jahren promotet haben.”

Vielleicht ist es das Fehlen dieses breiteren Kontexts, der Nagle auch vernachlässigen lässt, wie taktisch die Anwerbung und Radikalisierung der Rechten online angelegt ist. Sie ist eben nicht einfach nur ein reflexhaftes Reagieren auf “politically correctness gone mad”. Selbst wenn ich darüber hinwegsehen würde, dass sie keinen Bezug zu Offline-Organisation und Offline-Wirken rechter Gruppierungen herstellt, würde ich von einem Buch, das sich in seiner Analyse auf Onlinediskurse beschränkt, doch auch wenigstens ein Kapitelchen zu dem Thema erwarten, was Aufmerksamkeitsökonomie, Social Metrics, Viralität usw., also was die spezifischen Strukturen und Mechanismen der gängigen Plattformen für Onlinekommunikation und -vernetzung zu Extremisierung beitragen. Dieses Thema findet auch keinen Raum in Kill All Normies.

Wen das interessiert, hier zwei Lesetipps (das copy+paste ich hier mal aus meinem Matrix und die Manosphere-Vortragsskript rein), aber Content Warning: Ist beides nicht so reißerisch geschrieben wie Kill All Normies:

1.) Julia Ebner zählt in ihrem Essay “Counter-Creativity” in Sociotechnical Change from Alt-Right to Alt-Tech drei taktische Ziele auf:

  • Radikalisierungskampagnen die an mögliche Sympathisanten gerichtet sind,
  • Manipulationskampagnen, die auf den gesellschaftlichen Mainstream gerichtet sind, und
  • Einschüchterungskampagnen, die politische Opponent*innen absehen.

In den rechten sozialen Netzwerken werden Anleitungen geteilt, strategische Dokumente, in denen erklärt wird, wie man Gespräche anfangen kann, Vertrauen aufbaut, weitverbreitete Missstände ausnutzen kann und wie man die Sprache auf die Person zuschneidert, der man seine Ideologie nahezubringen versucht.

2.) Alice Marwick und Rebecca Lewis erklären in ihrem hervorragenden Reader Media Manipulation and Disinformation Online, wie ein Amalgam aus Verschwörungstheoretikern, Tech-Libertären, weißen Nationalisten, Männerrechtlern, Trollen, Anti-Feministen, Anti-Immigrations-Aktivisten, und gelangweilten jungen Leuten die Techniken der partizapatorischen Kultur und den Angriffspunkten von Social Media einsetzen um ihre Überzeugungen zu verbreiten. Sie nutzen die Möglichkeiten, die ein wegen Werbungsfinanziertheit auf Aufmerksamkeitsökonomie hin strukturiertes Internet bietet, um gezielt Schwächen im Newsmedienökosystem auszunutzen. Da wird sich dann auch alles mögliche von Marketing- und Medientheorie Texten bis zu CIA-Trainingsmaterial geteilt.

(Wer mehr dazu hören statt lesen will, kann gerne zu meinem nächsten Vortragstermin von “Matrix und die Manosphere – verletzte und vernetzte Männlichkeit als Einstieg zur Radikalisierung nach Rechts” kommen: 28.3. in der Kantine Nürnberg, Eintritt ist frei.)

Aber zurück zum Thema: Kurz, wie Richard Seymour schreibt: “Was bestimmt nicht gebraucht wird, sind die zunehmend abgedroschenen Angriffe auf den Strohmann ‘Identitätspolitik’, sondern … was gebraucht wird, ist ein Bericht darüber, wie Aufmerksamkeit gewonnen, erhalten, gekauft und verkauft wird; wie Onlinepolattformen strukturiert sind und in ihren Effekten auf Nutzer*innen strukturierend wirken; wie existierende soziale und kulturelle Tendenzen von diesen Technologien ausgewählt und akzentuiert werden… Was dieses Buch liefert, ist, traurigerweise, ein Kreis um die gewohnte, schon gut ausgetretene Terrain, nicht nur was seine Theorie anbelangt, sondern auch was sein unreflektiertes ‘Backlash’ anti-moralisierendes Moralisieren betrifft. Es erhält die Dynamiken aufrecht, die es zu sezieren behauptet, Gezeter und Beschämen.”

Transgression in der bürgerlichen Mitte und deren Faszinationsproblem mit der neuen Rechten

Der zentrale Punkt, den Nagle machen will, ist, dass die Kultur der Grenzüberschreitung, der Transgression, die lange Zeit ein typisch linkes Mittel war, heute von rechts gekapert worden ist. Sie begründet das wie gesagt damit, dass die Mainstreamkultur so eine Art Political-Correctness-Gone-Mad eines von ihr konstruierten Tumblr-Liberalismus sei und dass darauf eben viele, die sich das nicht gefallen lassen wollen, mit einem Anti-Politische-Korrektheit-Move reagierten und sich zu Rechten radikalisierten.

Gegenkultur, Nonkonformistisches, die ganze Idee kleiner Subkulturen mit ihren Codes ist Nagle spürbar zuwider. Das trieft aus jeder Pore dieses Buchs. Bei Neocons gerät sie dagegen fast ins Schwärmen “intellectually equipped and rhetorically gifted”, “smart”, das sind Vokabeln für diese, und Milo Yiannopolous ist eine Figur, die sie sichtlich sehr fasziniert (satte 71 mal wird er auf den 247 Seiten erwähnt, und letztlich ist ihr Bild der Alt-Right auch schlicht von seinem vor ein paar Jahren erschienenen Definitionstext dazu auf Breitbart übernommen).

Nagles Ablehnung fußt unter anderem darauf, dass transgressive Kultur nicht populär, nicht für die Massen, sondern inhärent elitär sei und gegen die Working Class arbeite. Jordy Cummings empfiehlt als Entkräftung die Lektüre von Brian Palmers Cultures of Darkness: “Palmer erklärt, mit enormem und namhaftem Backing, dass es genau in den transgressiven Räumen war, – von prä-20.-Jahrhundert Freimaurerei bis zu langen Nächten am DJ Pult, von Kink Culture bis zu Tarotkarten, von spätnächtlichen Gewerkschaftsbeisammensein und betrunkener, zugekiffter Ausgelassenheit – wo die revolutionären und emanzipatorischen Ideale geformt wurden, durch aufrichtige Freundschaftlichkeit, die über den Versammlungsraum und den Streikposten hinausging. … durch die Geschichte des Kapitalismus und seine begleitende Geschichte des Arbeitskampfes würde man sich hart tun, auch nur eine soziale Bewegung gegen kapitalistische Sozialverhältnisse zu finden, ohne dass diese in irgendeiner Form in transgressiver Gegenkultur wurzelte.“ Die Verbundenheit stärkende und ermutigende Kraft, die darin steckt, wird oft in der Kritik als bloße “Identitätspolitik” gebrandmarkt und verkannt.

Und, das hier mal am Rande festgehalten: Bei aller zum Teil verständlicher Kritik an überzogenen Aspekten der sog. Identity Politics: Nötig sind sie geworden, weil die Probleme von Marginalisierten immer nur der “Nebenwiderspruch” blieben und diskriminierende Strukturen auch innerhalb der Linken aufrechterhalten wurden und werden. Linker Tumblr-Queerfeminism-&-Crip-&-Spoonie-Politics usw hat vielen heutzutage überhaupt erst Politik wieder als etwas eröffnet, das ihren Alltag betrifft und das sie aktiv mitformen können. Er hat vielen, die auch in linken Szenen marginalisiert waren, Räume zum Mitreden und zur Beteiligung eröffnet. Das ist etwas, was die ganzen weiß/cis-männlich/heterosexuell/able-bodied-dominierten Politzirkel nicht geschafft haben, in ihren um sich selbst kreisenden endlosen komplexen und abgeschotteten Theoriediskussionen oder in ihren Folk Politics rund um die Arbeiterrevolution. Diese Lust auf politische Beteiligung gilt es doch bitteschön dankbar aufzunehmen, freundschaftlich zu diskutieren, weiterzuentwickeln, sich einander anzunähern und zu ermutigen, und nicht sarkastisch zu bashen!

Aber zurück zur Transgression: Ich würde hier mal gerne wild herummeinen, dass das Problem nicht die Transgression als Kulturtechnik einer wie auch immer gearteten Linken war, genau so wenig, wie die Rechten der neue Punk sind, sondern dass die neoliberale bürgerliche Mitte Transgressionskultur aufgegriffen und zum Mainstream gemacht hat, einhergehend mit einer Radikalisierung des Kapitalismus.

Grenzen überschreiten, Ironie, Tabubruch – dass das zum Mainstream geworden ist, von Politik, Brands, Medien und Marketing verwendet wird, bis die zynischen Grenzen des Sagbaren und Zeigbaren so weit offen waren, dass rechte Ideologie dran anknüpfen konnte, weil niemand mehr nichts als “krass” oder “überraschend” empfindet, scheint mir viel eher das Problem zu sein. “Disrupt Everything” als gesellschaftlicher, als sozialer Konsens. Enttabuisierung und Entsolidarisierung sind Mainstream. Diese Radikalisierung machte alles sagbar, jede Kritik wird mit Free-Speech-Absolutismus gekontert. Über “Deutschland den Deutschen” diskutieren (z.B. “hart aber fair” TV am 25.2.), das wird man ja wohl senden dürfen! Die passende Kultur zur Mainstreamtransgression ist nicht, dass in einem kleinen Jugendzentrum eine Gruppe Queers keine Weißen mit Dreadlocks in ihrer Bastelrunde aufnehmen will, es sind auch nicht “I’m drinking male tears”-Memes von weißen Feminist*innen der Medien- oder Kreativen Klasse, nein, die Kultur dazu ist das hemmungslose Shaming und Stigmatisieren von Menschengruppen in Talkshows und Boulevardmagazinen, die endlosen Shows und Artikel, die Frauen oder Arme “verbessern” oder lächerlich machen, Stigmatisierung von Hartzer*innen als “faul”, Darstellung junger Mütter als Freaks, Erniedrigung von Migrantinnen als “Asylbetrüger”, das Umstylen zu “richtigen Männern” in Makeover Shows, usw. Die Liste der Verlierer*innen des merokratischen Hyperkapitalismus ist endlos und hemmungslos darf über sie hergezogen werden, alles andere wäre Zensur. Die Erniedrigung von Menschen dort normalisiert die damit einhergehende Austeritätspolitik, die via Überbürokratisierung eine Erniedrigungsmaschine der ärmsten Gesellschaftsmitglieder aufgebaut hat, anstelle eines Sozialstaats. Wenn das alles nichts mit der Transgression zu tun hat, die Nagle für so zentral hält, weiß ich auch nicht.

Ich stimme soweit mit Nagle überein, dass das Problem im sog. Mainstream, der Mitte, zu finden ist, aber ich übernehme nicht das rechte Narrativ, dass “Tumblr Liberalism” das ist, was diese bürgerliche Mitte ausmacht – die Rechte ist dort ebenso präsent, und noch andere mehr. Es gibt nicht eine Elite, deren Ansichten alles beherrscht – weder eine linksgrünversiffte alles genderisierende, noch eine nativistisch-rassistisch-sexistische, sondern verschiedenste. Donald Parkinson formuliert es etwas schärfer: “Die ganze Idee einer herrschenden Elite gehört weggeworfen, denn wir leben unter der Macht einer herrschenden Klasse. Darüberhinaus, ist die herrschende Klasse nicht homogen und konkurriert mit sich selbst. Niemand kann behaupten, dass eine monolithische Ideologie der herrschenden Klasse gibt, sondern es gibt vielmehr verschiedene miteinander konkurrierende Ideologien, die oft gegensätzlich sind. So ist liberaler Multikulturalismus genau so ein Teil der herrschenden Ideologie wie White Supremacy. Die bürgerliche Gesellschaft ist kein einheitlicher Block.”

Die BILD oder Fox News existieren eben parallel zum Bento-Quiz “Heidi Klum oder Donald Trump – kannst du ihre Zitate über Frauen unterscheiden?!” (danke, Lily! >< )

Kritik an Klum verkauft sich so gut wie Klum. Sexismus verkauft sich so gut wie Anti-Sexismus. Bento und Dove sind Extremismus der Mitte. Die Vermarktung von sozialen Kämpfen, von Sozialkritik braucht immer mehr davon: Wenn ich vom Thematisieren des Elends lebe, kann ich nicht ernsthaft an kollektiven Lösungen interessiert sein, denn die Zuspitzung, das Empören, die Emotionen funktionieren viel besser. Umgekehrt aber auch: Wenn ich keine andere Hilfe erfahre, mir diese immer weiter gekürzt wird und ich mich politisch machtlos fühle, dann mache ich eben wenigstens Geld aus dem Elend und vermarkte die Diskriminierung, die ich erfahre. Patreon statt Politik, individualistischer Lebenserhalt statt soziale Revolution.

Auf die Erfahrung, dass Gegenkultur meist keine großen Veränderungen anstößt, folgte die Erfahrung der Unmöglichkeit der Gegenkultur per se durch ein alles durchdringendes Produktscouting, das jede erblühende Subszene gleich im Entstehen kappt. Wir haben eher eine Kommodifizierungs-Police als eine PC-Police amirite… Wo war ich? Ach ja, bei Nagles Kill All Normies, dem Buch, dessen Thesen von so vielen kritiklos übernommen werden, obwohl das Buch letztlich einfach das Narrativ der Rechten verstärkt, die “Culture Wars” noch mal richtig anschürt. Kein Wunder, dass es auch bei den Rechten gut ankommt: “Prominent US fascist Richard Spencer has endorsed Nagle’s book on his Instagram, noting that it “gets” his movement and that its criticisms of “the Tumblr left” are “useful”. It should go without saying that such an endorsement — for an ostensibly left wing book on left and right-wing online cultures — ought to give pause. Apparently not.” So Josh Davies.

Dass Transgression sich über eine individualisierende Disrupt-Everything und Commodify-Everything Startup Culture, die in letzter Konsequenz eine demokratische staatliche Kontrolle am liebsten komplett abschaffen würde, viel gefährlicher in den Alltag eingegraben hat, bleibt als Thema in Kill All Normies unerwähnt – passt halt nicht in’s Narrativ der Culture Wars. Ist aber halt für eine materialistische Marxistin ganz schön dünn. Donald Parkinson erwähnt zu diesem Aspekt auch die Ron Paul Anhänger: “Nagle ignoriert auch komplett die Rolle des Ron Paul Libertarismus. Jeder, der die Alt-Right versteht, weiß, dass es eine Verbindung zwischen libertärer Politik und der Alt-Right gibt, und dass viele Leute, die vom Scheitern Ron Pauls enttäuscht waren, sich der Alt-Right zuwanden. … Libertarismus, eine Ideologie, in der alle Moral auf Besitzrechten basiert, in einem Land, das auf einem Fundament aus Sklaverei und Segregation gebaut ist, zieht Rassisten an. Der Schwerpunkt, den Libertäre auf Wettbewerb legen, kann seine Anhänger dazu bringen eine Position des Sozialdarwinismus einzunehmen und Ideen zu erforschen, die mit Race Realism verbunden sind. Das schafft eine Verbindung zwischen weißen Identitären und Libertären. … Es gibt eine Sorte vulgären Positivismus’ in libertärer Ideologie, die gut zu Race Realism passt. … Märkte als demokratischer anzusehen als irgendeine staatliche Institution, der Freie-Marktliberalismus steht selbst allem kritisch gegenüber, was sich für Gleichheit und Demokratie einsetzt, und passt daher in seiner extremsten Variante gut zur Ideologie der Alt-Right.”

Für Nagle sind beides, der Tumblr Liberalismus und die 4Chan-Alt-Right letztlich der überzogene Versuch, eine Gegenkultur zu schaffen, Stichwort “transgression”, ein Aufbäumen gegen einen Common Sense Status Quo. Deswegen trennt sie auch nicht zwischen einem linken Anliegen der Solidarität und Offenheit, und einem rechten des Rassismus, Sexismus, der nativistisch-nationalistischen Abgrenzung. Nagle formuliert letztlich die klassische bürgerliche Ablehnung von Extremismen. Es ist ein zutiefst antisolidarisches Buch. Ihr Bashing ist Empathielosigkeit als Vernunft getarnt, erschreckend konservativ. Deswegen auch ihre Fokussierung auf die Effektlosigkeit von Transgression: Nichts soll von der Norm ausscheren, dann wird alles gut. Alternativen hat sie nicht parat, wie auch Josh Davies kritisiert: “Die Verweigerung zu Reflektieren wird noch dadurch verschlimmert, dass das Buch keinerlei Idee dafür aufweist, dass es überhaupt irgendetwas gibt, was getan werden könnte. Es gibt viel Kritik an den politischen Praktiken derer, die sich gegen Rechtsextreme stellen, aber keine Ansätze dafür, was Nagle stattdessen vorschlagen würde.”

Dass trotz all dieser Mängel trotzdem so viele unreflektiert Nagles Thesen übernehmen zeigt in erster Linie das, was Niklas Weber feststellte: “Wir haben ein Faszinationsproblem mit den Neurechten.”

Buchbesprechung: Leonie Swann – Dunkelsprung

Ganz wunderbare leichte Lektüre. Ich mochte von Leonie Swann auch schon das Hörbuch von Gray, während ich Glennkill schnell wieder auf die Seite legte – zu langatmig, zu bieder.

In Dunkelsprung flicht Swann ähnlich wie in Gray eine Vorliebe für ein leicht angestaubtes Klischee-Großbritannien – you know, Tee, die pittoreskes Farmland und Küste, und ein London, das für immer die Spuren Sherlock Holmes und Jack The Rippers trägt. Ich bin für diese romantisierten Geschichts- und Traditionsfetzen wenn es um Großbritannien geht, auch recht empfänglich, verstehe aber alle Engländer*innen, denen dabei die Galle hochkommt, denn ich implodiere auch jedes Mal verzweifelt, wenn Nürnberg sich wieder und wieder nur über miefige Bratwürste und Bier, die Burg samt Altstadt und Dürerhasen inszeniert.

Mir kommt da immer wieder ein Essay von Sam Wetherell und Laura Gutiérrez in den Kopf, “It Just Won’t Die“, in dem sie anlässlich des Royal Wedding-Zirkusses über diese Art von “history factory” und die Folgen davon schreiben, wenn das Branding über eine verklärte, als abgeschlossen behandelte Historie läuft, die für Tourismus am Leben erhalten wird, und sich das an der Gegenwart bricht – oder eben nicht brechen kann:

“Amid the frantic attempts to represent Britain’s past as cobbled and quaint it gets harder each day to meaningfully connect the past and the present. This task requires the acknowledgement that the past is a process, whose structures, institutions and power relations still weigh heavily on the politics of the present. Instead, Britain’s history factory delivers the past as a finished object, something to be charmed by and nostalgic for.”

Dunkelsprung verfährt hier schon ebenso, darin auch Harry Potter oder den Peter Grant Romanen von Ben Aaronovitch ähnelnd: Es gibt keine Interaktion der Vergangenheit oder der mythischen Sphären mit der Gegenwart, keinen Dialog, sondern sie werden als einfach als skurilles Element in die Gegenwart geholt, wirken da aber nicht mal so sehr skurril, da Swanns Version eines Gegenwartsgroßbritannien die Züge des “history factory” UK trägt. Gerade darum funktioniert der Roman aber vielleicht auch so schön in seinem Verschwimmenlassen von Erleben, Erinnern und Vergessen.

Im Gegensatz zu vieler anderer Fantasy, in der Figuren zielstrebig wie in einem RPG-Computerspiel von einer Mission zur nächsten eilen, verschwimmen hier die Missionen, tun sich Seitenwege auf, Zusammenhänge werden hergestellt, Nebengeschichten von Nebenfiguren erzählt, Zusammenhänge werden wieder in Frage gestellt, so dass das Buch, wenn auch nicht sehr tiefschürfend, durchaus nicht ganz unkomplex ist. Die Geschichte ist sprunghaft wie die Flöhe, die eine durchaus zentrale Rolle in ihr spielen. Es wird sich Zeit genommen, Nebenfiguren detailreich zu entwerfen, von einem nach Erdbeeren duftenden Drachenbaby bis zu einer feuch glänzenden Schneckenfrau mit Alabasterarmen. Die menschlichen Figuren sind nicht minder skurril wie die Fabelwesen: Flohzirkusdompteur und Detektiv-oder-doch-Gangster – sie sind meist leicht verwirrt und sich nicht immer darüber ganz im Klaren, wer und wann sie sind, was real ist und was nicht.

So ganz im Klaren darüber ist sich Leonie Swann wohl auch nicht: Es ist kein ganz rundes, stimmiges Buch, nicht wie Grey, aber meine Dankbarkeit für einen so charmant-skurrilen Roman, der Fantasy ein wenig weg von immer wieder ähnlichen Plots führt, überwiegt.

Rubinrotes Herz, eisblaue See von Morgan Callan Rogers

Manche Bücher liegen bei mir ewig im Regal rum, bevor ich sie lese, und oft reut es mich dann, dies nicht schon eher getan zu haben. Ein solches habe ich heute ausgelesen: ‘Rubinrotes Herz, eisblaue See’ von Morgan Callan Rogers. Das Schmalzige des Titels war ebenso schuld daran wie dass ich mich nicht mehr erinnern konnte, wie es den Weg zu mir gefunden hatte. Gegenüber der sonst sehr gelungenen Übersetzung wundert es mich, warum der Titel von ‘Red ruby heart in a cold blue sea’ so übersetzt wurde. Der englische Originaltitel greift auf, wie Florine, die Hauptfigur, einen Halskettenanhänger in Form eines rubinroten Herzens ins Meer wirft, ein wichtiger symbolischer Akt in diesem wunderbaren Coming of Age Roman.

Das Leben in einem abgelegenen kleinen Fischerort in Maine in den 68ern wird von Morgan Callan Rogers in ruhiger liebevoller Erzählweise eingefangen. Die umtriebige, lebensfreudige Mutter der Hauptfigur Florine verschwindet von einem Tag auf den anderen, und von diesem zentralen Verlust fächern sich weitere ab. Der Vater, ein Fischer, ist nach einer Weile mit einer neuen Frau zusammen, was Florine so verbittert, dass sie zur Großmutter zieht – was in einem so kleinen Ort letztlich nur den Umzug auf die andere Straßenseite bedeutet. Aus den Augen verliert hier niemand niemanden. Der Umgang mit Verlust und Finden und Wiederverlieren und Wiederfinden von Menschen sind das zentrale Thema, ebenso wie Liebe und was dafür gehalten wird: von großmütterlicher Fürsorge bis zum ersten heißen Sex, von Freundschaft bis zu Angst vorm Alleinsein. Das Buch lebt nicht von aufregenden Geschehnissen, sondern von Entwicklungen der Beziehungen einer großartig widerborstigen und humorvollen und liebevollen und zerrissenen Hauptfigur zu den anderen Menschen in ihrem Leben. Habe ich am Anfang noch darauf gewartet, dass die vermisste Mutter wieder auftaucht, wurde das zunehmend unwichtiger und das Ausbleiben einer Auflösung, die dauernde Sehnsucht, das immer wieder hochkommende Vermissen, füllten bald mehr aus, als es jede Auflösung hätte tun können.

Hier ein Link zum Buch.