Die Stadt Nürnberg geht seit kurzem massiv gegen freies Plakatieren vor. Das halte ich angesichts des Mangels an Alternativen für kleine non-profit Veranstalter*innen nicht nur für unverhältnismäßig, sondern für blanken Hohn.
Als es vor ein paar Jahren darum ging, ob es Sinn mache, es Hamburg gleichzutun, und sich zu einer Gruppe von Konzertveranstalter*innen zusammenzutun, um seine Kräfte für Anliegen gegenüber der Stadt besser bündeln zu können, ging es erst mal drum, was es denn eigentlich für Anliegen gäbe. Als Veranstalterin in einem freien non-profit Kollektiv in Nürnberg, dem Musikverein, war eines der ersten, die mir einfielen: Von der Stadt zentrale kostenlose Plakatierflächen zu fordern.
Ich weiß nicht mehr, wie lange es her ist, aber ich erinnere mich noch an Zeiten, in denen in Nürnberg noch nicht alle Werbeflächen privatisiert oder unter städtischer Hand verkauft wurden. Als auch noch kulturell, sozial oder politisch engagierte Bürger*innen ihre Poster und Flyer an öffentliche Werbeflächen mitten in der Stadt hängen konnten und das war ganz schön interessant und großartig. Heute ist diese freie Kultur aus dem Nürnberger Stadtzentrum so gut wie komplett bereinigt: Dort ist nur noch Platz für die, die Geld haben, sprich Werbung für kommerzielle Massenkultur und -produkte. Der Rest ist im öffentlichen Raum unsichtbar.
Als wir das letzte Mal vor vielen Jahren für ein Konzert im Festsaal über offizielle Wege Plakatfläche buchten, kostete das bereits über 600€ für 100 DIN A1 Poster, die eine Woche lang hängen. Kleiner dürfen sie auch nicht sein. Das haben wir seitdem nicht mehr gemacht, weil wir es uns einfach nicht leisten können. Wenn ihr unsere Konzerte kennt, wisst ihr, dass wir meist so zwischen 7-10€ verlangen, wenn dann mal an einem Abend 50 Gäste da sind, heißt das, es kommen an der Tür ca. 400-500€ rein. Das reicht nicht mal für angemessene Band- und Technikerbezahlung. Von der Pacht und den Nebenkosten, die wir zahlen müssen, mal ganz abgesehen, um nur ein paar der Kosten zu erwähnen, die auch bei einem ehrenamtlich veranstalteten Konzert so anfallen.
Da es den meisten so geht, wird in Nürnberg in erster Linie in Konzertlocations selbst, in Kneipen und wenigen Geschäften plakatiert, die das erlauben – man unterstützt sich gegenseitig. Poster und Flyer drücken ja auch eine Zugehörigkeit der Kneipe oder des Geschäftes zu einer bestimmten Kulturszene aus. Sogenanntes Wildplakatieren ist in Nürnberg nicht nur verboten, sondern die Veranstalter*innen haften in jedem Fall, wenn ein Plakat, Flyer oder Aufkleber von einer ihrer Veranstaltungen an nicht dafür vorgesehenen bezahlten Werbeflächen im Stadtbild auftaucht – egal ob sie das selbst verteilt haben, oder es Fans der Bands oder DJs waren. Es gilt nicht einmal, wenn Ladenbesitzer*innen es ausdrücklich erlauben, dass an ihrer Hauswand etwas aufgehängt wird: Die Polizei ist in letzter Zeit massiv unterwegs und haut Anzeigen gegen alle möglichen kleinen Veranstaltergruppen raus.
Grund ist anscheinend, dass es der Stadt zu viel Guerrilla Marketing auch von größeren kommerziellen Firmen und Clubs gibt. Genaues weiß ich nicht. Wäre interessant zu erfahren, aber die Zeitungen in Nürnberg geben ja traditionell nur das weiter, was ihnen von Polizei und Stadtverwaltung vorgekaut wird oder als ein Mainstreamanliegen erscheint, so dass hier wohl auch keine kritische Berichterstattung zu erwarten ist. Oder?!
Die Stadtverwaltung muss hier in aller Deutlichkeit für ihre Unverhältnismäßigkeit kritisiert werden. Sie hat das komplette Stadtbild mit überteuerten Werbeflächen zugeballert, ohne dass die Bürger*innen sich gegen diese Inanspruchnahme des öffentlichen Raums, ihres öffentlichen Raums, wehren können. (Bis wir uns einmal Ad-Blocker für IRL-Werbung als App auf unsere AR-Brillen laden können, würde sich eigentlich durchaus auch mal ein Protest gegen die Durchkommerzialisierung des Öffentlichen Raums lohnen.)
Nachdem denen, die sich – oft in ihrer Freizeit – für ihre Art von Kultur engagieren, und die keine andere Möglichkeit mehr haben, als hin und wieder auch wild zu plakatieren, weil die Stadt alles andere unerschwinglich und damit schlicht unmöglich gemacht hat, ist es doch wirklich blanker Hohn sie jetzt dafür auch noch anzuzeigen. In welche Nischen sollen wir uns denn noch zurückziehen, in dieser Stadt, die alle Kreativität, die sich nicht unter die städtische Fuchtel bringen lassen will, und sich nicht für’s Stadtimage vermarkten lässt, mal mehr, mal weniger subtil auszumerzen versucht? Wer hier Freiheit will, kann sich ja bei der Blauen Nacht anstellen. Aber bitte innerhalb der dafür vorgesehenen Markierungen.
Davon abgesehen ist es auch doch ganz schön ignorant und kleinstädtisch gedacht, die ganzen liebevoll gestalteten Poster- und Flyer in ihrer gestalterischen Vielfalt nur als (unerwünschte) Werbung, und nicht (auch) als Ausdruck eines Zeit- und Gesellschaftsbildes in urbaner Kreativität zu schätzen. Aber es wird wohl immer Leute geben, die das erst 20 Jahre später anerkennen können, wenn sie sich dieselben Poster und Flyer dann im Museum oder in einem Fotoband angucken können, und denen lebendige Undergroundkultur ein Dorn im Auge ist.
Der Zusammenschluss von Konzertveranstalter*innen in Nürnberg, den ich eingangs erwähnte, ist nun längst gegründet: Er heißt Kulturliga und tümpelt so vor sich hin. Wir (musikverein) waren auch eine Weile dabei, aber sind wieder ausgetreten, weil uns da zu lange zu wenig geschah und wir neben all dem, was wir tun, einfach nicht die Zeit haben, uns jenseits konkreter Anliegen mit noch einem Verein zu beschäftigen. Und weil vielleicht auch einfach zu wenig Gemeinsamkeiten da waren. Was sich für mich z.B. an der Idee der Forderung nach kostenlosen Plakatflächen für nicht-kommerzielle kleine Veranstaltergruppen zeigte: Statt einer Umsetzung dieser gibt’s jetzt ein monatliches gemeinsames Übersichtsposter von Mitgliedern der Kulturliga. Das ist leider so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich mir darunter vorgestellt hatte: mehr corporate branding der Kulturliga statt Hilfe für den ganzen kulturell engagierten Underground dieser Stadt.
Nichtsdestotrotz hoffe ich, dass die Kulturliga ihre Relevanz nun beweist, und es als ihren ersten großen Auftrag annimmt, jetzt engagiert gegen das völlig unverhältnismäßige Vorgehen der Stadt gegen freie Plakatiererei anzutreten und endlich kostenlose Werbeflächen im zentralen öffentlichen Raum für non-profit Kultur zu fordern!
Once upon a pre-digital era, there existed a golden age of personal authenticity, a time before social-media profiles when we were more true to ourselves, when the sense of who we are was held firmly together by geographic space, physical reality, the visceral actuality of flesh.
Märchenstunden dieser Art kennen alle aus dem Feuilleton oder von YouTube-Clips wie “I forgot my phone” oder “Look up”. Parallel zur Verbreitung der Smartphones hat sich eine Bewegung entwickelt, die sie als sozial isolierend verdammt und jeden im Netz verbrachten Moment als einen betrachtet, den du im „echten“ Leben verpasst. “Digital Detox”, “Unplugging”, “Disconnecting” – die Abstinenz vom Netz, und sei es nur eine gemeinsame Mahlzeit im Freundeskreis lang, wird mit großen Gesten zelebriert und findet sich oft in das Umfeld von Wellness und ethischem Konsum eingebettet. Das gipfelt in Auswüchsen wie der Tap Project App von Armani und Unicef: Diese App misst, wie lange du es aushältst, dein Smartphone nicht zu checken, und pro zehn Minuten, die du offline verbringst, bekommt ein Kind in einer notleidenden Region für einen Tag den Wasservorrat, den es zum Überleben benötigt. Wenigstens wird dir dabei nicht ein sterbendes Kind – Tamagotchi-Style – angezeigt, falls du doch vorzeitig wieder online gehst. Bei so viel Besorgnis gegenüber digitaler Vernetzung ließe sich meinen, “unsere Integrität als Menschen stünde auf dem Spiel.” So Nathan Jurgenson, ein junger US-amerikanischer Soziologe, der sich intensiv damit auseinandersetzt, wie neue Webtechnologien uns und die Gesellschaft verändern.
Er schreibt seit Jahren gegen dieses Denken an, das er als “Digitalen Dualismus” bezeichnet. Dieser stellt eine falsche Nullsummenrechnung an: Die Zeit, die wir online verbringen, fehlt uns angeblich offline. Als würden wir aus der Offline-Welt verschwinden, sobald wir online gehen. Da wir aber nicht in der Filmwelt von Tron leben, tun wir das ebenso wenig, wie wenn wir telefonieren oder ein Buch zur Hand nehmen. Jurgenson sieht dies als konzeptionellen Fehlschluss: “Technologie, vor allem Social Media, wird als zu abgetrennt von denen betrachtet, die sie nutzen.”
Augmented Reality
Vor allem dank mobilem Web stehen unser Online- und unser Offline-Leben in einer immer stärkeren gegenseitigen Wechselbeziehung, die Jurgenson als “Augmented Reality”, als erweiterte Realität, bezeichnet: eine weiter gefasste “konzeptionelle Perspektive, die unsere Realität als Nebenprodukt der gegenseitigen Durchdringung von On- und Offline erschafft.” Der Begriff stammt ursprünglich von Technologien, bei denen das Digitale und das Physische sich überlagern, zum Beispiel in Form einer Reiseführer-App, bei der du zu einem Gebäude, das du durch die Fotolinse deines Smartphones betrachtest, Informationen eingeblendet bekommst. Augmented Reality ist von Jurgenson nicht als Gegenpol oder kulturhistorischer Nachfolgebegriff zum Digitalen Dualismus gemeint, sondern ersetzt eine von Beginn an falsch konzipierte Beziehung zur Technologie:
Diese Digital Dualists entwerfen das Web ähnlich wie in dem Film Matrix (1999), in dem On- und Offline getrennte Räume sind. Dagegen hält die Perspektive der Augmented Reality, dass unsere Realität da entsteht, wo On- und Offline verschwimmen, wie es im Film vielleicht am besten in Cronenbergs Body-Horror Film Videodrom (1983) veranschaulicht wird, der die Implosion von Technologie, Medien und materiellem Körper aufzeigt.
Wem an dieser Stelle Cyborgs in den Sinn kommen: Nicht von ungefähr heißt der Blog, den Jurgenson zusammen mit PJ Rey ins Leben gerufen hat, Cyborgology.
Das Facebook-Auge
Die Struktur und Logik von Social Networks und Smartphones verändert die Art, wie wir die Realität wahrnehmen und strukturieren – auch offline. Jurgenson erklärt das in “The Facebook Eye” am Beispiel des “Kamera-Auges”, das Fotograf*innen entwickeln: Das Auge wird zum Sucher, und auch wenn sie ohne Kamera unterwegs sind, sehen Fotograf*innen überall mögliche Motive und nehmen den Lichteinfall wahr. Social Networks wie Facebook beeinflussen uns in ähnlicher Weise, da sie uns “die Welt immer als potentielles Foto, als Tweet, als Check-In oder als Statusupdate erleben lassen.” Das bezeichnet Jurgenson als “Facebook-Auge”. Nebenbei sei hier auch mit dem Vorurteil vom unsozialen Netzmenschen aufgeräumt: “Und eben weil Social Media unsere Offline-Leben erweitern (nicht ersetzen), zeigen Untersuchungen, dass Facebook User mehr Offline-Kontakte haben als Nicht-User, sich mehr engagieren, und so weiter.”
Augmented Dissent
Nathan Jurgenson ist davon überzeugt, dass es nicht als historischer Zufall betrachtet werden wird, sondern dass “das Aufkommen von Mobiltelefonen und Social Media für immer mit globalen Massenmobilisierungen von Menschen im physischen Raum verbunden sein wird.” Vom Arabischen Frühling über Occupy bis zu den Gezi-Park-Protesten spielten Social Media eine große Rolle und manifestieren par excellence “Augmented Dissent.” Wo andernorts politisches Engagement im Netz oft als “Slacktivism” zerredet wird, also als faules und letzlich wirkungsloses Engagement, betont Jurgenson auch hier die dialektische Verschränkung von On- und Offline. Ob zur Organisation lokaler Besetzungen, großer Proteste oder um Neuigkeiten zu verbreiten, ob als Hashtag-Aktion auf Twitter, ob als Fotos oder Smartphone-Filme auf YouTube: Ohne auf traditionelle Medien angewiesen zu sein, haben Social Media Proteste und Protestformen in vielschichtiger Weise durchdrungen und geprägt. Diese sind durch das Netz partizipatorischer denn je geworden, und auch die Solidarität und Teilnahme Außenstehender wird besser wahrnehmbar. “Eine tiefliegende Bedrohung für jede Protestbewegung besteht darin, dass der Ehrgeiz und die Motivation sowie das Gefühl der Hoffnung, jedes Individuum könne etwas bewegen, schwindet. Mit Social Media können Leute den Unterschied, den sie machen, auch sehen. Sie konsumieren Dissenz nicht nur passiv, sondern beteiligen sich aktiv daran, ihn zu schaffen.” Social Networks bieten ein Publikum für Inhalte:
“Protestierende rufen nicht mehr nur in den (aus Atomen bestehenden) Wind, sie rufen auch in ein (aus Bits bestehendes) Netzwerk.” Ebd. Facebook-Kommentare, Twitter-Retweets und -Replies stärken uns: “Erweitert um das Internet scheint das, was wir tun, mehr zu zählen. Das ist die nicht-mehr-ganz-so-geheime Waffe der ‘Augmented Revolution’.”
Utopia for whom?
Das Netz wurde lange Zeit eher als Ort, denn als Werkzeug für Alternativen gesehen. Die trügerische Wild-West-Verheißung des frühen Internets: ein neuer freier Raum zu sein, in dem sich etwas Großartiges , jenseits der unterdrückenden Realitäten von Geschlecht, Hautfarbe, körperlicher Fähigkeit, Ressourcenknappheit aufbauen lasse, in dem alte einengende Strukturen von heldenhaften Cyberpunks und Hacker-Cowboys weggefegt werden würden … ja, genau, unterbricht Jurgenson seine eigene Beschreibung schneidend: “Those were boy’s clubs”. Diese alte Utopie wischt er beiseite, denn: Nichts davon hat es jemals außerhalb der alteingesessenen sozialen Konstruktionen, Institutionen und Ungleichheiten gegeben, nein, diese sind der Technologie sogar ins Innerste eingeschrieben.
Als Beispiele nennt er die versteckten Profitmotive der Open-Source-Bewegung, wie sie Fred Turner aufgezeigt hat oder die Tatsache, dass Wikipedia die Kreation von Wissen ein paar weißen Männern aus den Händen genommen hat, nur, “um sie in die Hände von ein wenig mehr weißen Männern zu legen.” Er führt Lawrence Lessig und Saskia Sassen an, die die soziale und historische Bedingtheit von Computer Code erläutern, oder Danah Boyd, die gezeigt hat, wie stark Coding-Entscheidungen auf sozialen Netzwerkseiten aus den Voreingenommenheiten der (zum Großteil männlichen) Webingenieure resultieren – und das nicht selten zum Nachteil weniger mächtiger und verletzlicherer Menschen. Dass, wie Jurgenson meint, dominante Gruppen sich selbst als “neutrale” bzw. “natürliche” Menschen betrachten, hat eine lange Tradition. Und wer behauptet, Technologie sei objektiv und entsprechend in ihrem Rahmen handelt, ist ein Teil davon: Die Annahme einer Objektivität des Netzes und generell von Technologie ist ebenso wie der gesamte Digitale Dualismus nicht einfach nur falsch; sie ist auch gefährlich, da auf diese Weise Formen sozialer Ungleichheit unsichtbar gemacht werden.
“Im Falle von Onlinedrohungen gibt es eine Person, die die Realität des Internets ganz intuitiv zu spüren bekommt: Die, die bedroht wird”, sagt Jurgenson. “Dass das, was im Netz passiert, nicht real sei, ist eine Konstruktion, die denen, die eine Drohung äußern, und denen, die sie rechtlich untersuchen, viel leichter fällt, als denen, die von ihr unmittelbar betroffen sind. Einer Frau zu sagen, sie solle doch ihr Laptop einfach eine zeitlang nicht mehr benutzen, ist, als würdest du ihr empfehlen, ihre Familie eine zeitlang nicht mehr zu sehen.” Trotzdem wird genau dieser Ratschlag von nicht besonders netz-affinen Polizist*innen nicht selten Frauen erteilt, die eine Internet-Vergewaltigungsdrohung zur Anzeige bringen wollen. Die Journalistin Amanda Hess erklärt: “Das ist für viele Frauen aber keine Option: Digitale Netze werden verwendet, um Communities zu finden, die sie unterstützen, um Geld zu verdienen oder um Auffangnetze zu spannen. Für eine Frau wie mich, die alleine lebt, ist das Internet kein Zeitvertreib zum Spaß oder zur Zerstreuung. Es ist eine notwendige Ressource für die Arbeit und gibt mir die Möglichkeit mit Freund_innen oder meiner Familie Kontakt zu halten.” Nathan Jurgenson kritisiert: “Silicon Valley hat die Macht, die Gesellschaft nach seinen Werten zu formen, die Offenheit und Konnektivität priorisieren. Aber warum wird es Ingenieuren [zum Großteil sind es Männer, Anm. E.M.] in Kalifornien überlassen, für Menschen überall auf der Welt zu entscheiden, was eine Belästigung ausmacht?”
Auch hier zeigt sich von welch großer Bedeutung die Perspektive der Augmented Reality ist: “Wenn wir begreifen, dass Politik, Strukturen und Ungleichheiten der physischen Welt ebenso Teil der digitalen Sphäre sind – einer Sphäre, die von Menschen mit Geschichten, Standpunkten, Interessen, Moralvorstellungen und Voreingenommenheiten errichtet wurde – dann ist das der erste Schritt um sie sichtbar zu machen und reflektieren zu können.” Und erst von diesem Punkt aus kann sinnvoll kritisiert und wirkungsvoll interveniert werden. Netzabstinenz aber ist weder eine Lösung für Belästigung im Netz noch um wieder in “Einklang” mit unserem vermeintlich “authentischen” Selbst zu gelangen.
The Liquid Self
“And our selves are not separated across these two spheres as some dualistic “first” and “second” self, but is instead an augmented self. A Haraway-like cyborg self comprised of a physical body as well as our digital Profile acting in constant dialogue.”*
Zwischen Konzepten des Selbst als vermeintlich authentischem Ausdruck einer seelenhaften Essenz und dem Selbst als Produkt sozialer Konstruktion und Performanz besteht ein Konflikt, den Jurgenson weit vor die Zeit der Social Networks zurückverfolgt: Von Max Weber über Zygmunt Bauman, von Jean Baudrillard bis zur Frankfurter Schule gibt es eine lange Tradition, die davon ausgeht, dass, wann immer die „natürliche“ Welt im Namen von Bequemlichkeit, Effizienz oder Sicherheit eine Veränderung erfährt, dies stets mit einem Verlust eines Teils ihrer Essenz oder Wahrheit einhergeht. Ganz besonders gilt das für Identitätstheorien. Von Cooleys „Looking Glass Self“ über Foucaults „Arts d’existence“ bis zu Butlers „Identitätsperformativität“: Theorien des Selbst setzen sich schon lange mit der Spannung zwischen Realem und Pose auseinander. Die genannten Theorien sind sich, so Jurgenson, auch einig darin, dass Menschen in der westlichen Gesellschaft generell ungern zugeben, dass das, was sie sind, strukturiert oder performt wird: „Poser“ oder „Selbstdarsteller*in“ genannt zu werden, stellt eine Beschimpfung dar; sich selbst treu sein dagegen drückt eine fixe Wahrheit des Selbst aus.
Der Diskurs der Digitalenthaltsamkeit nimmt genau diese Spannung auf: „Wenn das Digitale als ausschließlich virtuell missverstanden wird, dann fühlt sich das Ausklinken wie ein mutiges Wiedereintauchen in die Wildnis und Natur der Realität an. Wenn Identitätsperformance als Nebenprodukt von Social Media abgetan werden kann, dann haben wir eine neue Lösung für das alte Problem der Authentizität: „Klink dich aus! – Deine Menschlichkeit steht auf dem Spiel!“ Als ob durch die Abkehr von Technologie ein fixes authentisches Selbst wiederhergestellt werden könne. Jurgenson hält fest: „Wir können nicht weiterhin die Person als das zeitlich und kausal Vorgängige ansehen, und das Profile als etwas, das nur eine Darstellung derselben ist. Wir haben klare stichhaltige Belege dafür, dass die Person vom Profile* mitkonstruiert wird. Das Erleben erschafft die Dokumentation, und die Dokumentation erschafft das Erleben.“
Umso wichtiger ist es, ein dynamischeres Verständnis des Selbst durchzusetzen: „Anstelle eines einzigen, sich nicht verändernden Selbst, sollten wir uns ein fließendes Selbst, ein ‚Liquid Self’ vorstellen, eines das mehr Verb als Substantiv ist.“ Je mehr wir allerdings darauf beharren, dass digitale Vernetzung unser authentisches Selbst bedroht, desto mehr stärken wir die Fiktion eines fixen Selbst.
Pathologisierung des Digitalen
The smartphone is a machine, but it is still deeply part of a network of blood; an embodied, intimate, fleshy portal that penetrates into one’s mind, into endless information, into other people. These stimulation machines produce a dense nexus of desires that is inherently threatening. Desire and pleasure always contain some possibility (a possibility — it’s by no means automatic or even likely) of disrupting the status quo.
Der Aufruf zur digitalen Abstinenz geht oft mit einer Pathologisierung einher, wie Jurgenson feststellt. Kaum verwunderlich, wenn du bedenkst, dass es ja letztlich bei der Authentizitätsbesessenheit um eine Festschreibung dessen geht, was als normal gelten soll. Und was ist das Normale anderes, als eine Form des Gesunden? An Foucault erinnernd, der gesagt hat, beim Diagnostizieren einer Krankheit ginge es immer gleichermaßen darum, festzulegen, was gesund sei, fragt Jurgenson, was hier als neue Formen von Gesundem, von Normalität erschaffen werden soll. Es soll uns eine Technologieverantwortlichkeit auferlegt werden, die einen neuen Typus der Regulierung von Lust darstellt: Das digitale Verlangen gehört, gesehen und informiert zu werden, soll kontrolliert werden.
Das kennen wir zum Beispiel von den Beschwerden über hochgereckte Smartphones bei Konzerten. Das Unsound Festival hatte 2013 sogar ein Smartphoneverbot ausgesprochen – ein Statement für das authentische Erleben? Jurgenson stellt das in einem Interview mit Jason Farman in Frage: Wenn wir jede Technologie als etwas sehen, das uns am „echten“ Erleben hindert, sollten wir einmal unsere Handies wegstecken und eine Liste der Dinge erstellen, durch die das Konzert immer noch durch Technologie vermittelt erfahren wird. Die Architektur des Raums, dass wir Richtung Bühne blicken, ist eine Technologie, die unser Erlebnis formt. Auch was wir zum Konzert anziehen, markiert eine Technologie der Selbstpräsentation. Jurgenson wehrt sich dagegen, dass wir gegenseitig unsere Authentizität kontrollieren oder einander bewerten, wer nun authentischer und damit menschlicher ist. Wir sind alle Poser, selbst jene Leute, die bewusst keine Fotos auf Konzerten machen, um uns zu damit zeigen, dass sie für den Moment leben. Ein Konzertfoto oder Selfie heischt nicht unbedingt eitel um Aufmerksamkeit, sondern kann auch einfach der Kommunikation dienen; kann sagen, wo wir gerade sind oder dass wir es schön fänden, wenn noch andere da wären. Wir sollten Leuten gegenüber Verständnis haben, die ein soziales Erlebnis kommunizieren, ganz gleich auf welche Weise sie das tun. Besteht nicht, fragt Jurgenson, der eigentliche Narzissmus der Social Media in der kollektiven Vertiefung darin, sie regulieren zu wollen und zu entscheiden, was für andere erlaubt und gesund sei?
Die digitale Regulierungswut äußert sich oft unreflektiert. Ein Beispiel dafür lässt sich dort finden, wo sich sexuelles und digitales Verlangen vermengen: Sexting, das, vor allem wenn es um Jugendliche oder Frauen, geht, geradezu dämonisiert wird. Jurgenson enlarvt das als Teil einer gesellschaftlichen Tendenz, die sexuelle Handlungsmacht von Jugendlichen und Frauen auszublenden: als ob Sexting automatisch etwas wäre, das ihnen angetan oder von der Technologie auferlegt wird. Als ob es auf keinen Fall als Handlungsmöglichkeit betrachtet werden könne, bei der sie sich aus eigener Entscheidung spielerisch ausprobieren. Dass Sexting gerade für sozial verletzlichere Menschen eine sicherere Option sein kann, als sich auf körperliche sexuelle Interaktion einzulassen, wird dabei meist ignoriert.
Was hier eigentlich reguliert werden soll, ist das sexuelle Verlangen von Jugendlichen und Frauen: „Die Probleme, die mit Sexting assoziiert werden, haben mehr mit Sexismus als mit Sex oder Technologie zu tun.“ Jurgenson fordert stattdessen mehr Respekt im Umgang mit Privatsphäre und dem sexuellen Einverständnis, das an die Stelle von Victim-Blaming treten soll, wenn beim Sexting die Privatsphäre verletzt wird. Das wiederum verlangt nach einer Kritik der Geräte und sozialen Plattformen, die dafür zur Verantwortung gezogen werden sollten, wie viel Kontrolle sie den Nutzer*innen darüber einräumen, wie, mit wem und für wie lange sie etwas teilen.
Mehr Privatheit denn je
Es besteht kein Zweifel, dass wir durch Social Media öffentlicher geworden sind: Wir posten mehr Informationen über uns. Durch Smartphones sind wir häufiger mit dem Netz verbunden als früher, und ständig werden neue Informationsschichten erfunden: vom geographischen Check-In bis zum Herzschlagmesser der Health-App. Stärker noch als zu der Zeit, als Anonymität und Fakenamen noch üblich waren, sind unsere Onlineaktivitäten bei Facebook, wo die meisten Nutzer*innen mit ihrem Realnamen angemeldet sind, oder beim Online-Shopping mit unserer physikalischen Welt verknüpft. Jurgenson behauptet allerdings, dass mit unserer wachsenden Öffentlichkeit auch unsere Privatsphäre gewachsen sei: „Wir stellen uns Privatheit und Öffentlichkeit als Konflikt vor. Tatsächlich aber sind sie wie der Fächertanz ein sich gegenseitig verstärkendes System.“ Jurgenson und PJ Rey zitieren dazu den frühen Hacktivisten Eric Hughes: „Privatheit bedeutet, die Macht zu haben, selbst zu wählen, was der Welt von uns gezeigt wird.“
Um ihre Position zu illustrieren, greifen sie zu einem Bild aus der Burleske: dem erotischen Fächertanz. Nicht der komplett entblößte oder gänzlich verhüllte Körper des/der Tanzenden kennzeichnet ihn. Sein Reiz entsteht aus dem kreativen Wechselspiel, bei dem manches gezeigt und anderes verdeckt wird. Privatsphäre liegt in der dialektischen Performance und ist kein fixer, vor den Augen der anderen verborgener Ort. Wie aber kommt Jurgenson darauf, dass dies bedeute, dass mit unserer Öffentlichkeit auch unsere Privatsphäre wächst? Jedes Stück Information, das wir preisgeben, verbirgt genauso viel von uns, wie es enthüllt. Auf Bataille zurückgreifend erklärt Jurgenson, dass immer, wenn wir etwas Neues lernen, zugleich unser „Vorrat an Nicht-Wissen“ anwächst. Mit jeder neuen Information können wir Fragen stellen, die wir zuvor nicht hätten stellen können. Genauso verhält es sich mit unseren Informationen im Rahmen der Social Media: Wenn jemand ein Foto postet, können wir uns fragen, wer es gemacht hat, wer dabei noch anwesend war, wie es in Verbindung zu anderen in einem Album steht. Auch wenn wir uns diese Folgefragen nicht bewusst stellen, wissen wir doch stets, dass jede einzelne Information nicht die ganze Geschichte eines Ereignisses enthalten kann.
Ethik der Straßenfotografie
Neben der Kontrolle darüber, was wir zeigen, gehört zu einer funktionierenden Privatsphäre auch die darüber, wann und wo wir das tun. Nathan Jurgenson erläutert, wie die Überwachung durch Konzerne und Regierungen genau so wie allgegenwärtige Handyschnappschüsse zu einer kulturellen Perspektive geworden sind, bei der die Welt mit der Ethik von Straßenfotograf*innen behandelt wird: „Menschen in der Öffentlichkeit sind Objekte, die für sich beansprucht und ausgestellt werden können.“ Der Blick des oder der Straßenfotograf*in fängt ein, was provokativ oder catchy an jemandem ist – ihre Viralität, in Webspeak ausgedrückt. Im richtigen Moment wird abgedrückt und das Flüchtige eingefangen, um es in etwas Produktives zu verwandeln: Es wird gesammelt, zur Schau gestellt und sogar zu Geld gemacht.
Dieses „public’s public“-Denken, das alles Öffentliche als dokumentarisches Freiwild betrachtet, bleibt nicht auf den Bereich der Fotographie beschränkt: Tweets werden aus ihrem Zusammenhang, ihrem Stream, gerissen und auf News-Sites gepostet. Jurgenson erzählt auch von einer App, die öffentlich gepostete Facebook- und Foursquare-Daten dafür nutzte, um Frauen in der Nähe anzeigen zu lassen. Kritik erfolgt meist ähnlich wie beim Sexting als Victim-Blaming. Jurgenson zitiert dazu aus einem Artikel von Kashmir Hill aus der Forbes: „’You’re too public with your digital data, ladies,’ may be the new […] ‘your skirt was too short and you had it coming.’“ Einen Höhepunkt dieser Logik sieht er mit Google Glass erreicht, denn hier ist nicht einmal mehr erkennbar, ob du gerade gefilmt wirst oder nicht. Inzwischen gibt es vermehrt auch kritische Stimmen, z.B. die Datentheoretikerin Helen Nissenbaum, die Einwilligung und kontextuelle Integrität fordern, also dass Erwartungen, die dadurch entstehen, wo etwas gepostet wird, auch eingehalten werden. Denn: Öffentlich ist eben nicht gleich öffentlich.
Endloses Archiv
Ein anderer Zenit ist im Überhandnehmen des Dokumentierten erreicht. „Ein Foto“, so Jurgenson, „ist genauso aus Zeit gemacht wie aus Licht.“ Theoretiker wie Andreas Kitzmann („museale Geste“) oder Jean Baudrillard („Museumifizierung“) haben die Logik der Kamera als Inbesitznahme eines Erlebnisses interpretiert. Wo früher nur wichtige Ereignisse fotografisch festgehalten wurden, ist heute infolge der Allgegenwart von Fotografie der Punkt erreicht, an dem es einem besonderen Augenblick letztlich mehr Gewicht verleiht, ihn nicht zu dokumentieren, als ein Foto davon zu machen. Je mehr Fotografien es gibt, desto weniger bedeuten sie. Instagram mit seinen nostalgischen Faux-Vintage-Filtern sieht Jurgenson als einen exemplarisch gescheiterten Versuch, Bildern durch optische Angleichung an historische Fotos wieder mehr Gewicht zu verleihen: zu „versichern, dass gegenwärtiges Leben genauso authentisch und nostalgiewürdig ist wie die scheinbar seltenen Bilder unserer analogen Vergangenheit.“
Das Festhalten an einem kategorisierbaren archivierten Selbst, wie es unsere Selbstdarstellung auf Social Networks wie Facebook verlangt, engt uns ein. „Dahinter steht eine Philosophie, die das Unordentliche und die Fluidität des Selbst nicht einfängt und daran scheitert, Wachstum zu feiern, und die vor allem schlecht für die am sozial Verletzlichsten ist.“ Nostalgie ist für Jurgenson eine Form der Besitzstandswahrung: Ihr gehe es darum, das Leben anzuhalten, zu behalten, in soziales Kapital umzumünzen – im Gegensatz zu einer Perspektive, für die es in Ordnung ist, dass Dinge vergehen, weil es Raum für Veränderung schafft. Bei den meisten Social Networks gehe es jedoch nur darum, die Gegenwart als zukünftige Vergangenheit zu fixieren. Facebook prägt unser Erleben dahingehend, dass wir unser Leben als etwas betrachten, bei dem wir jederzeit kurz die Pausetaste drücken können, um es zu dokumentieren, als wären wir sammelwütige Museumskurator*innen. Unser Leben wird in die statischen Kategorien des Profils gepackt. Schon immer gab es eine Spannung zwischen dem Erlebnis um seiner selbst willen und dem Erlebnis zum Zwecke seiner Dokumentation, aber Social Media haben sie bis zum Zerreißen ausgereizt.
Temporäre Social Media
Als einen radikalen Einschnitt empfand Jurgenson Snapchat, eine App, mit der sich Leute gezielt Bilder zusenden können, die nur für wenige Sekunden sichtbar sind, bevor sie automatisch wieder gelöscht werden: temporäre Fotographie. Auch Snapchat ist ein „Versuch der Re-Inflation“. Nathan Jurgenson sieht Parallelen zu temporärer Kunst wie sie Eisskulpturen oder Objekte der Decay Art darstellen. Solche Fotos würden nicht gemacht, um gesammelt oder archiviert zu werden. Sie sind schwer fassbar und entziehen sich der Systematisierung und Taxonomie im Rahmen eines Bewertungsschemas. Sie lassen die Gegenwart dort, wo du sie vorgefunden hast, statt sie als zukünftige Vergangenheit einzufangen. „Temporäre Fotografie fühlt sich mehr wie das Leben selbst, und weniger wie eine Dokumentation desselben an. … Als solche, ist die temporäre Fotografie zwangsläufig weniger sentimental und nostalgisch. Indem sie schnell ist, ist temporäre Fotografie ein kleiner Protest gegen die Zeit.” Archivierte Social Media fokussieren auf die Details eines Fotos, während temporäre Social Media darauf fokussieren, was es bedeutet und in dir bewegt hat. Sie inspirieren die Erinnerung, weil sie die Möglichkeit des Vergessens feiern.
Derzeit ist Archivierung die Standardeinstellung der Social Networks und Angst vor Inkonsistenzen prägt die damit einhergehende Identitätspolitik. Temporäre Social Networks könnten dazu beitragen, dass wir unsere Identität weniger als archivierte (bzw. als die Möglichkeit zur Archivierung implizierende) begreifen, und stattdessen eine mehr in der Gegenwart verortete Identität annehmen.
„Die Standardeinstellung von Social Media-Nutzer*innen die danach verlangt, sich ständig aufzunehmen und zur Schau zu stellen, beeinträchtigt die unschätzbare Bedeutung des Spiels mit Identitäten. Anders gesagt: Viele von uns sehnen sich nach Social Media, die weniger wie ein Kaufhaus und mehr wie ein Park sind. Viel weniger standardisiert, eingeschränkt und kontrolliert, ja, der Park ist ein Ort, an dem Du etwas Dummes anstellen kannst. … Fehler jedoch sollten gar nicht erst vermieden werden, weil das genau das ist, was die dominanten sozialen Netzwerke von uns verlangen, und was sich in unserer ständigen Über-Vorsicht dabei niederschlägt, was wir da posten.“
Stattdessen wären Plattformen sinnvoll, die Raum dafür bieten, sich auszuprobieren, ohne dass dieses Verhalten immer gleich festlegt, wer du bist und was du tun kannst. Das könnte unsere Beziehung zu Onlinesichtbarkeit, Datenprivatsphäre, zu Rechten an Inhalten und dem Recht auf Vergessen sowie sozialem Stigma und Shaming verändern. Langfristig hält Nathan Jurgenson es für wichtig, dass wir insgesamt unsere kulturelle Normen ändern, die derzeit Perfektion, Normalisierung und sich nicht veränderndes Verhalten als höchstes Gut ausgeben. Stattdessen sollten wir unser sich stets veränderndes Selbst annehmen: „Wir könnten die Norm der Identitätskonsistenz aushöhlen, weil diese Norm sowieso niemand erfüllen kann, und Veränderung um ihrer selbst willen feiern. Veränderung wäre dann kein Makel mehr, sondern etwas Positives ein Beleg für unser Wachsen; ein Identitätsmerkmal und kein Identitätsmakel.
* = Nathan Jurgenson benutzt „Profile“ als Term für das Daten-Set unserer kompletten Onlinepräsenz, während „profile’“die Präsenz auf einem spezifischen Webservice ist.
“The Fan Dance: How Privacy Thrives in an Age of Hyper-Publicity”, in: Geert Lovinkg und Miriam Rasch (Hg.): Unlike Us Reader. Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2013. S. 61
Mir gingen gestern ein paar Gedanken als Nachwehen durch den Kopf, die halte ich hier mal eben fest. Ich finde Christian Simons “Kontext ist Queen” für unseren Social Media Watchblog ja richtig gut, da er die Leute einfach mal beim Wort nimmt, die Jung verteidigen indem sie sagen, das Bild sei doch nur ein Scherz. Christian geht dem nach, nimmt Kontakt zu der Frau auf dem Bild auf und holt sie damit auch – ganz nebenbei, ähem – mal aus dem Objektstatus heraus, den sie bei der ganzen Story bis jetzt hatte, und er bekommt sogar die Bestätigung: Ja, das Bild war als Scherz gemeint, der in völligem Konsens entstand. Und genau das verwendet Christian dann, um uns vorzuführen, dass es schnurzpiepegal ist, wie dieses Bild von der Frau und dem Fotografen gemeint war, sondern dass es darauf ankommt, wie Jung das Bild eingesetzt hat. Und dass er dafür zu Recht kritisiert wird. Oder wie @Autofocus das so hervorragend in einem Tweet zusammengefasst hat: “Für konsensuelles in den Sand stumpen. Gegen sexistische Herrenwitze zum Frauentag. Beides ist drin!”
Was ich intern bei uns als kleinen Abstrich angemerkt habe (und was mir auch wichtig ist, weil ich da selber bestimmt auch öfters mal misformuliere und Sensibilität für Sprache zu erarbeiten für einen andauernden Prozess halte und es ist gut, sich drüber auszutauschen, gerade für Vielschreibende): Ich persönlich finde es wichtig, nicht bei dem Framing von “feminist” als Gegenteil von “sexist” mitzuspielen, das in den letzten Jahren medial aufgebaut wurde, denn das trägt immer ein bisschen dazu bei, Kritik an Diskriminierung mundtot zu machen. (Ähnlichkeiten zum “rechts” vs “links” Diskurs natürlich völlig zufällig. ^^) Zu oft werden Meinungskundgebungen in Social Media auf einen (suggerierten) Tonfall reduziert – “die regen sich mal wieder auf” – statt dass Inhalte ernstgenommen werden. Deswegen hätte ich die Kritik an dem Bild nicht als “den Empörer und die Empörten” beschrieben, wie es Martin im Teaser für den Text durchgerutscht ist.* “Empört”, das ist das neue “hysterisch” und die kleine Schwester vom “Shitstorm” und dem “Twittermob”. Und der Großneffe von “Social Justice Warrior”, “PC-Polizei” und “Gutmensch”. Es hat einen abwertenden Beigeschmack, der die damit gekennzeichnete Meinung als nicht ernstzunehmend markiert, sie rhetorisch zu entmachten sucht, die Kritik als nicht berechtigt abtut. Und ist mindestens so hoffnungslos überstrapaziert wie dass ich hier mit dem x-ten Text zu #tilogate aufwarte. Auch wenn’s in dem gar nicht mehr wirklich um Jung geht. Ich finde jedenfalls dieses ganze Aufregervokabular ähnlich problematisch wie das Verwenden der Floskel “sich bekennen” im Kontext von Homosexualität oder wie das explizite Erwähnen von nichtweißer Hautfarbe oder nichtdeutscher Herkunft von Tätern in sonst sehr knapp gehaltenen Nachrichtentexten. Indirekte sprachliche Diskriminierung ist oft an die Stelle gerückt, wo direkte inzwischen gesellschaftlich verpönt ist.
In Christians Text wird auch ein Essay von Lasersushi verlinkt, und sie war auf Twitter etwas verschnupft darüber, dass ihr Text auf das Zitat “sickly sexist” reduziert wurde. Das kann ich nachvollziehen, denn ihr Artikel versucht einen konstruktiven Ansatz von Kritik an dem “blinden Fleck”, mit dem von Krautreporter, sowie von vielen in der Journalismusszene allgemein, bei einer jahrelangen Geschichte von Sexismen Tilo Jungs geflissentlich weggesehen wurde. Dem wird das kurze Zitat natürlich nicht gerecht, vielmehr kann die Verkürzung sogar als Andeutung gelesen werden, das sich dahinter ein Text aus der konstruierten Klischeeecke des “empörten Twitterfeminist*innenmob”™. Um das mitzudenken, musst du aber schon wirklich tief im Onlinediskurs von Feminismus, und all diesen Versuchen, ihn zu einem Witz seiner selbst zu stilisieren, drinstecken, was bei Christian einfach nicht der Fall ist.
Lasersushis Reaktion mag von manchen als empfindlich gesehen werden; sagte sie sogar selbst, und ich kenne diese Geste von mir auch nur allzugut: dieses sich selbst gleich für seine Empfindlichkeit zu entschuldigen während du deine Kritik äußerst, immer mit einem “vielleicht könnte man das auch so sehen” die Höflichkeitstür aufhaltend, aber es gibt eben auch einen Grund dafür, dass gerade die an solchen Punkten gereizt sind, die sich trauen gegen Diskriminierung den Mund aufzumachen. Denn egal, wie sachlich sie dabei vorgehen, sind es genau sie, die diese Erfahrung immer und immer wieder machen, und das scheuert und verpasst dir eine wunde Stelle, die natürlich empfindlich ist. Es sind irgendwann keine Kleinigkeiten mehr, sondern ist konstantes Nudging, das dich ein Stückchen mehr Richtung Schweigen stupsen will.
Ich tue mir hart, das Problem überhaupt zu kommunizieren. Wie wir Sprache verwenden, hat viel mit Gewohnheit zu tun. Dementsprechend kommt die Kritik an solchen sprachlichen Feinheiten leicht als pingelig rüber und wird als kleinlich abgeschmettert oder ins Lächerliche gezogen. Wenn sie sich aber so häufen, wird aus tausend Kleinigkeiten dann eben doch etwas Großes, eine grundlegende Haltung kristallisiert sich heraus. Um sie zu erklären, muss ich sie aber wieder in ihre granularen Bestandteile zerlegen. Und das klingt dann wiederum übertrieben, als ob ich mich nur über Kleinigkeiten aufrege. So funktioniert Nudging, so werden Meinungen gemacht, so entstehen Normen und so verändert sich gesellschaftlicher Konsens zu Themen. Aber auch: So halten manche irgendwann lieber ihren Mund.
Ich finde es spannend und wichtig, dass kontextuelle Integrität immer häufiger zum Thema bei Diskussionen um soziale und Medien im Allgemeinen wird, wie es Christian eben hier so schön mit Tilo Jungs Gewalt gegen Frauen verharmlosenden Tweet vorgeführt hat, denn es kann ein verdammt komplexes und mächtiges Ding sein, etwas aus einem Kontext herauszulösen und verkürzt in einem anderen wiederzugeben, ob bewusst eingesetzt oder unbewusst geschehen. Sehen wir ja gerade auch bei Varoufakis’ Mittelfinger, auf den ich jetzt aber nicht auch noch eingehe, keine Angst. Ein totgerittenes Pferd aus dem Grab zerren reicht selbst mir pro Tag.
Donnerstag, 5.3., hatte ich das Vergnügen, für die Kunstwochen im Edel Extra, einem kleinen Raum für ästhetische Prozesse, neben drei anderen Vorträgen folgenden von mir zu halten. Beeindruckend war Hermann Glaser, vor dessen scharfen Verständnis und Witz ich mich wieder mal verneige. Von seinem Credo “Jeder muss ‘Klopstock’ sagen können!” bis zur Kritik an affirmativer Kultur, ach ja, und wie er, als jemand meinte, die Kunstfreiheit sei durch Political Correctness bedroht, elegant und knapp, mit dem Hinweis auf den Unterschied zwischen Präskription und moralischer Kritik als Vorschlag, abwinkte – I’m fangirling.
Hier aber nun wie versprochen das kleine Brainstorming zum Thema, das ich dort beitrug:
“Was ist Kunst, was kann Kunst sein, wie ist ein Kunstbegriff zu definieren” – als ich gefragt wurde, ob ich heute hier einen kurzen Vortrag zu diesem Thema halten würde, sind bei mir gleich schaudernd Erinnerungen an ein Philosophieseminar wieder hochgekommen, das ich vor 100 Jahren belegt hatte, und in dem wir ein Semester lang in unglaublich trockener Weise Kunst zu definieren versuchten, in dem wir uns an der Geschichte entlanghangelten. Von Geniebegriff über Wahrheit, Schönheitblablubb, und was es nicht alles gab. Ich hatte die ganze Zeit insgeheim tatsächlich die naive Hoffnung, dass der Professor am Ende des Semesters doch noch eine befriedigende zeitgemäße Definition aus dem Ärmel zaubern würde, was aber natürlich nicht geschah und so ließ mich dieses Thema so unzufrieden zurück, dass ich eigentlich bis heute noch mit der Kunst hadere. Deswegen habe ich auch etwas gezögert, zuzusagen, und komme heute mit durchaus diffusen Gedanken zu euch.
Es gibt in New York eine zwischen Kunst und Unternehmensberatung changierende Gruppe namens K-Hole. Bei ihnen verschwimmt die Grenze zwischen Business und Kunst: sie machen keine Kunstwerke, die sich ausstellen liesen, liefern aber auch keine Unternehmensberatung, die aus Daten bestünde, aus denen eine Firma einfach so Nutzen ziehen könnte. Eher lässt sich das, was sie tun, als ästhetische Fiktion bezeichnen, die meines Erachtens zwar den Geist von kritischer Kunst atmet, aber sich bewusst nicht als kritisch sieht. Für K-Hole würde sich, denke ich, die Frage nach einem, mir bei der Definition hilfreichen, Spannungsfeld zwischen Kunst und Business nicht mehr stellen. Ist Kunst heute, wenn sich die kreativsten Köpfe nur noch auf das Designen von Start Ups oder im Marketing bewegen?
Marken nehmen die Rolle ein, die vielleicht eher der Staat einnehmen sollte, wenn er dies von einer neutralen demokratischen Warte aus täte. Kunstsponsoring wie der Place de la Liberté, den meine Lieblingszigarettenmarke vor ein paar Jahren am Quellegelände als zeitlich begrenzten Freiraum für Kunst ausrief, dabei auch noch Street Art subsumierend, wird von vielen als Erschließung neuer Möglichkeiten gesehen, um bekannter zu werden und von Kunst leben zu können und würdigt nicht die Kunst zum Werbeträger herab. Ihr merkt an meiner Wortwahl, dass ich das nicht so sehe. Ich bin ja schließlich auch etwas älter und mit einem Kunstbegriff groß geworden, der irgendwo zwischen DIY Punk, Soziokultur mit Fokus auf Underground-Musik und Literaturtheorie hin- und her irrt. Für mich ist es eine Entwertung von Kunst, wenn sie benutzt wird, um ein Produkt zu bewerben. Und das geschieht für mich auch, wenn eine Bank oder ein Ölkonzern ein Museum finanziell unterstützt. Oder wenn Red Bull eine Music Academy macht. Derek Walmsley hat im Wire im Kontext der Red Bull Music Academy u.a. als Problem von Mäzenentum festgehalten, dass es die Szenen und das Publikum ignoriert, die Untergrundmusik zu einem so dynamischen System machen. Das trifft, denke ich, nicht nur auf Musikmäzenentum zu, sondern auch auf die Kreativszene. Context matters, das ist ein Punkt, bei dem ich bei den verschiedensten Themen, die mich beschäftigen immer wieder stoße und der ziemlich vernachlässigt wird. In gemanagter Kunst wird deren eigentlicher Kontext meist zugunsten eines Zwecks, sei es Profit, sei es Imagearbeit im Feld von Marketing, neutralisiert oder entfernt.
Das geschieht auch, wenn die Stadtplanung selbst hier in Nürnberg, wenn auch mit 10 Jahren Verspätung, Richard Florida liest und die Kultur- und Kreativwirtschaft für sich entdeckt. Und tatsächlich hat die Stadt in den letzten Jahren auch hier genug Beinflussungskraft bewiesen: Plötzlich schossen lauter Creative Mondays und Fablabs aus dem Boden und Kreativität steht plötzlich in erster Linie dafür, kreativ aus irgendwas Geld machen zu können. Plötzlich sind Jobs einer der Hauptthemen im Kultur- und Kreativbereich, und es sind darin lauter Leute damit beschäftigt, sich zu vernetzen und Ideen herauszumelken, aus denen das nächste Start Up erblühen kann, das die Branche very kreativ disruptet. Kreative Communities bestehen plötzlich daraus, sich gegenseitig daraufhin zu beschnüffeln, wie dir der oder die andere nützlich sein könnte. Connections und so. Unglaublich, wie schnell sich da in den letzten Jahren wie viel Idealismus verflüchtigt hat und die Grenze zwischen Kunst und Wirtschaft verschwimmt. David Liese hat das auf Regensburg Digital, einem kritischen lokalen Blog, sehr schön in der Warnung zusammengefasst: “Denn wer „kreativ“ sagt und damit die prosperierende Designagentur ebenso meint wie den kleinen Künstler, der trägt dazu bei, dass sich der Unterschied zwischen einem kritischen und einem pragmatischen Kunst- und Kulturbegriff zugunsten des zweitgenannten verflüchtigt.”
Michael Cirino, ein ehemaliger Künstler, der inzwischen unter dem Namen A Razor A Shining Knife außergewöhnliche kulinarische Events macht, zieht in einem Interview für den Pacific Standard (mit dem passenden Titel: How Do You Make a Living, Producer of Experiential Weirdness?) die Grenze am Beispiel Musik ganz deutlich: “Du bist ein Künstler bis zu dem Moment, in dem du bei einer Plattenfirma unterschreibst. Dann wirst du zum Musiker und dein Job ist es, Musik zu verkaufen. Wenn du die Idee Musik zu verkaufen nicht magst, dann bleib weiterhin ein Künstler. Mach deine Platten, verkauf sie selbst, aber bitte niemanden anders in sie zu investieren, weil sie von der Sekunde an, in der sie das tun, ein Mitspracherecht haben.”
In meinen Augen ist die Kultur- und Kreativwirtschaft für die Künstler*innenszene einer ganzen Stadt ein bisschen das, was in der Musik so etwas wie die Red Bull Music Academy (oder auch ein großes Plattenlabel für Musiker*innen) ist: Förderer und Parasit, der, solange die Künstler und Künstlerinnen alle Kunststückchen machen, die erwünscht sind und damit Imagearbeit für’s Produkt leistet, egal ob das ein Energy Drink oder eine Stadt ist, oder gar Geld in die Kassen spült, an ihnen herumnuckelt, ihnen den Kopf tätschelt und ein Häppchen abgibt, und sie danach ausgeblutet zurücklässt. Es entsteht eine Kunstszene, die nur noch darüber als förderungswürdig betrachtet wird, dass sie entweder durchökonomisierte Kunst abliefert, die als Elite gekürt und gefeiert wird. Oder Kunst, die in den Nischen am ausgestreckten Arm verhungernd als exotisches Lockmittel existieren darf, solange sie nicht zu kritisch, laut und dominant wird. Ein Lockmittel, um das Stadtbild ein wenig bunter und wilder wirken zu lassen, denn das bringt Kundschaft in die Stadt.
In diesem Bild von Kunst steckt soviel Respektlosigkeit, dass sich die Künstler*innenszene eigentlich wirklich langsam mal auch hier überlegen müsste, wie sie dagegen in die Puschen kommt und sich nicht nur auf ein brav konformes unkritisches Schmuckwerk einer Stadt reduzieren lässt, das instrumentalisiert wird, um das Eckchen aufzuwerten, das gerade attraktiver gemacht werden soll oder von Missständen ablenken soll. Damit wird aus Kunst dann doch irgendwie bloßes Design oder Handwerk. Oder Entertainment. Je nach “Branche”. Aber dank Austerität und Prekariat ist eben dann doch jeder und jede froh, wenn sie irgendwie ein Stücken vom Kuchen abbekommt und von irgendwas muss man ja leben und Kunst … mei, Idealismus ist halt Luxus. Ist natürlich auch wiederum nachvollziehbar.
Es ist schwer, diesen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen, in einer Zeit, in der Stadtplanung alles durchzieht und es kaum mehr blinde Flecken gibt, in denen Kunst auch mal aufregend und gefährlich, zweck- und sinnfrei, oder anonym agieren und wachsen kann. In der Kunst nicht erst die Versammlungsstättenverordnung auswendig können, und mit Blut die Verantwortlichkeit für jegliche möglichen Folgeschäden für Räume und Publikum einer Ausstellung oder eines Auftritts unterzeichnen muss, sondern in der Kunst sich ausprobieren, fließen und wuchern kann. Wie World/Inferno Friendship Society in einem Philipp K. Dick gewidmeten Song sangen: You can’t change the system from within, the system changes you. Es ist ein ziemlich ekliges Gefühl der Hilflosigkeit, dem ganzen Bereich der durchinstutionalisierten und städtisch geordneten Kultur eigentlich gar nicht mehr entkommen zu können, wenn es nicht Kunst im kleinen abgeschotteten quasi-privaten Kreis sein will, der dann aber auch nur Wenige erreicht und recht wirkungslos bleibt. Und Reibung und Begegnung mit Fremdem sind auch wichtig für Kunst. Kultur als ernstzunehmende kritische Instanz ist eigentlich schon ziemlich abgewürgt.
Noch mal zurück zu K-Hole. Ein Kunst-/Mode-/Zeitgeistbegriff, der von ihnen 2013 in ihrer Youth Mode Veröffentlichung geschaffen wurde, und den vielleicht ein paar von euch kennen, ist Normcore. Es wurde oft viel zu vereinfachend als Angepasstheit und Mittelmäßigkeit ausgelegt (wofür K-Hole auch einen Begriff haben: Acting Basic). Etwas genauer betrachtet, entspringt der Begriff eher aus dem Gedanken, dass wir keine fixe authentische Identität besitzen, sondern diese in jedem Moment erst erschaffen, indem wir sie performen. Wir verändern uns ständig. Wenn es keine festen Identitäten gibt, dann gibt es auch keinen Mittelwert, und demnach gibt es auch keine Normalität. Normcore besteht deswegen nicht darin, möglichst normal zu sein, sondern darin, sich jeder Situation gemäß zu verändern und anzupassen, das aber jeweils mit vollem Einsatz. Grund für diesen Zeitgeist ist, wie es K-Hole in Youth Mode ausdrücken: “In der Vergangenheit wurden Menschen in Communities hineingeboren und mussten ihre Individualität finden. Heute werden Menschen als Individuen geboren und müssen ihre Communities finden.”
Vielleicht ließen sich daraus für einen kritischen Kunstbegriff zum Abstecken Begriffe wie ‘der Schwarm’ und ‘das Fließen’ herbeispinnen. Nicht mehr das Schaffen von zeitlosen Werken sondern fließende Kunst, die nicht auf Etablierung aus ist. ‘Schwarm’ statt Communities, weil in einem Schwarm Anonymität mitschwingt und das einem Künstlerbegriff des Genies ebenso entgegensteht wie dem Künstler oder der Künstlerin als Marke. Kunstaktionen wie das Entführen der Gedenkkreuze der Mauertoten durch das Institut für politische Schönheit mitsamt dem Crowdfunding für die Fahrt vieler zum Grenzzaun Europas, oder auch einiges, was Schlingensief geleistet hat, ließe sich vielleicht grob darunter fassen.
Aber nicht nur kritisches und durchdachtes, auch Pop kann so etwas sein: Internet-Memes sind zum Beispiel eine Kunstform des Schwarms, der Hive-Mind, die außerhalb von Verwertungslogik, Copyright ignorierend entsteht und die von unzähligen anonymen Leuten variiert, weiterbearbeitet und im Netz weiterverbreitet wird, und wieder verschwindet. Das Meme ist tot, wenn es nicht mehr im Netz kursiert. Die Bewegung, das Fließen, gehört zu ihm, macht es mit aus. Sobald es nicht mehr weiterentwickelt wird, sobald es auf einem T-Shirt oder einer Tasse landet, sobald eine Marke es sich für Werbung aneignet, oder sobald eine Zeitung es aus seinem natürlichem Lebensraum, aus ihrem Kontext, herausreißt und abdruckt, ist es schon tot. Darin ähnlich der offiziell legitimierter ‘Street Art’.
Die Flüchtigkeit im Sinne von Vergänglichkeit, die Ephemeralität, fände ich auch tatsächlich einen spannenden Ansatz für einen Kunstbegriff heute. Sie kann sowohl dafür sorgen, dass sich einer Verwertungsmöglichkeit entzogen wird, als auch dem konservativen musealen Charakter von Kunst etwas entgegensetzen. Und sie bietet auch der endlosen Dokumentation, dem endlosen Archiv, das wir dank Digitalisierung aus unseren Leben machen, die Stirn. Nichts mehr von Wert schaffen? Kunst als Modus statt als Werk? Das Kunstwerk nur noch als nostalgischer Fetisch, ähnlich der Vinylplatte? In Bewegung bleiben, auf neue Situationen mit ständiger Veränderung reagieren statt einen Stil, eine Marke zu verfestigen? Das als Aggregatszustand von Kunst? Oder ist das dann gleich die Auflösung von Kunst?
Auch irgendwie unbefriedigend, ich weiß.
Das waren dann auch schon meine paar bescheidenen Gedanken zum Thema. Danke für’s Zuhören.
Hans-Jürgen Arlt interpretiert auf carta das Selfie als Ausdruck eines Gesellschaftszustands, der “PR-Society”, die geprägt ist vom Streben nach Erfolg durch Selbstdarstellung statt Leistung. In einem Gedankensprung interpretiert er Journalismus als Gegensatz zu Selfies, weil dieser sich nicht wie diese nach den Wünschen der Dargestellten richte, “sondern stattdessen unabhängig an Kriterien der Realitätsnähe und kollektiver Relevanz” orientiere. Nun, da Selfies gar nicht die Ansprüche von Journalismus haben, ist es natürlich leicht, sie ihnen abzusprechen und sie darüber zu verdammen. Aber um mal spaßeshalber mitzuspielen: Ist das Kritisierte überhaupt spezifisch für das Problem?
Ja, Selfies sind inszeniert. Ja, sie greifen nur einen Ausschnitt aus einem Geschehen heraus, der uns in dem Licht darstehen lässt, das wir uns aussuchen. Das ist aber nicht spezifisch für Selfies, sondern gilt zum Beispiel auch für eine Anekdote, die wir über uns erzählen: Auch da beschränken wir uns auf einen Ausschnitt einer Situation und lassen gern mal Sachen weg, die uns peinlich aussehen lassen könnten.
Journalismus wiederum ist ebenfalls nicht unabhängig und auch er zeigt oft nur eine Perspektive, und das nicht mal erst dort, wo er kommentierend wird, sondern bereits durch Themenauswahl oder dadurch, was und wer in einem einzelnen Artikel erwähnt wird und was weggelassen wird.
Es ist im Journalismus gängige Praxis, das als Objektivität auszugeben und lange hat es auch halbwegs funktioniert: Indem eine weitverbreitete Perspektive eingenommen wird, wirkt sie fast unsichtbar. Aber daraus folgt kein Anspruch auf objektive Wahrheit. Das wird in unserer Social Media Ära immer deutlicher, in der Menschen aus anderen Perspektiven heraus lautstark Kritik leisten.
Wahr ist nicht mehr, was von Bestand ist
Wie ist es mit Fotografie und Wahrheit? Wir leben in Zeiten von Photoshop und Instagramfiltern und inszenierten Pressefotos, wie dem jüngsten vielfacher Kritik anheimgefallenem Beispiel des Bildes von Regierungsoberhäuptern auf der Hebdo-Demo in Paris. Da ausgerechnet das Selfie als Beispiel für Verlust von Authentizität durch Selbstdarstellung zu beklagen, ist verwunderlich.
Den oder die Fotograf_in als eine unsichtbar die objektive Wahrheit über eine Szene herstellende Instanz heraufzubeschwören, das klingt einfach zu sehr nach lamentierendem Altherrenjournalismus, der vor ein paar Jahren noch das Aufkommen von Blogs als unseriös beklagt hat und heute durch Social Media Posts und Kommentare den Untergang seiner Alleinherrscherposition über die relevante Sichtweise nahen sieht.
Mercedes Bunz hat in “Die stille Revolution” eine Verschiebung im Verhältnis zwischen Wahrheit und Fakten beschrieben: wahr ist nicht mehr, was von Bestand ist. Der digitale Fakt verändert sich schnell und ständig, da er dauernd aktualisiert wird. Und dieses Fehlen gewohnter Fixpunkte kann verunsichern.
Die Digitale Öffentlichkeit als Kontrollorgan
“Die Polyphonie, die Vielheit der Stimmen im Netz, ermöglicht uns eine neue Art der Objektivität: die Qualität der Wahrheit der digitalen Öffentlichkeit ist Unmittelbarkeit von vielen verschiedenen Stimmen – eine Pluralität, die verlangt, dass wir uns ein eigenes Bild machen. Statt nur auf eine einzige von Expert_innen (Journalist_innen, Historiker_innen, usw.) abgesegnete Perspektive zu vertrauen, ist der sich wiederholende Bericht aus unterschiedlichen Quellen das neue Kriterium für Wahrheit. Die aktive Einbindung des Adressaten ist eine zentrale Eigenschaft der digitalen Öffentlichkeit.”
Der Journalismus, wie ihn seit neuesten Reported.ly betreibt, versucht sich in spannender Weise darauf einzulassen. Über die Veränderung der Rolle des Journalismus ist in Bunz’ Buch etwas zu lesen: Sie stellt gleichwohl kritisch fest, dass bereits früher ein Gleichgewicht von Presse und Politik nicht immer gegeben war und nennt als Beispiel, wie in Deutschland die öffentlich-rechtlichen Medien und damit die Meinungsbildung durch die Politik beeinflusst wurden.
In den modernen Mediendemokratien von heute haben sich die Positionen noch weiter verschoben: Die Medienbranche ist zum Business geworden, Politikerinnen nutzen sie für Imagearbeit, Medienmogule streben für sie günstige politische Regelungen an, kurz: Interessenskonflikte everywhere, durch gegenseitige Abhängigkeiten. Bunz kann sich hier die Digitale Öffentlichkeit, die smarte Masse, als Kontrollorgan vorstellen.
Digitale Öffentlichkeit wird von einer viralen Logik getrieben
Spannend ist dabei auch ihr Hinweis darauf, wie veraltet die journalistische Aufmerksamkeitslogik ist. Während sie noch auf Ereignisse und Breaking News ausgerichtet ist, wird die digitale Öffentlichkeit von Interessen der Nutzer_innen getrieben: einer viralen Logik.
“Wenn eine Nachricht wichtig ist, wird sie mich finden”, stellt Bunz auf Chris Andersons mediale Longtail-Logik der semantischen Nische verweisend, fest. Sich wiederholende Inhalte sind dabei nicht nur als virale Kommunikation, sondern auch als Kriterium für Wahrheit von Bedeutung.” (Ausschnitt aus meiner Rezension zu Mercedes Bunz, Die stille Revolution, in testcard #24: Bug Report. Digital war besser.)
Dass Journalismus sich der viralen Logik in erster Linie leider nur zur Verbreitung seiner Nachrichten und Etablierung seiner Marke bedient, ist eine Entwicklung in eine fragwürdige Richtung. Dazu möchte ich noch mal zum Selfie zurückkehren. Arlt geht davon aus, dass im Selfie jede_r die Möglichkeit hat, sich so darzustellen, wie er oder sie will. Das ist eine verfängliche Annahme. Zum Selfie gehört das Zirkulieren in Social Networks. Sie sind nicht unabhängig davon denkbar.
Eine Selbstinszenierung zum Meme
Ein Selbstporträt ist kein Selfie. Dementsprechend sind sie inszeniert, um in der Logik von Social Networks zu funktionieren. Der Blick der anderen wird bereits beim Erstellen mitgedacht, er ist Teil des Selfies. Es sind Bilder, die unseren Freund_innen oder Followers statt unserem Blick auf eine Situation uns in einer Situation oder in einer Pose zeigen. Sie können zum Beispiel einfach nur durch unseren Gesichtsausdruck als non-verbaler Kommentar zu der Situation dienen, in der wir uns auf dem Bild befinden. Eine Selbstinszenierung zum Meme. Das Selfie verweist aber auch immer aus den Social Media hinaus, zurück zu uns, verweist darauf, dass die Selbstinszenierung kein spezifisches Netzphänomen ist.
Ich muss dazu nicht einmal auf die Ebene vom Selbst, das nur in seiner Performance vorhanden ist gehen. Ganz banal gesagt: Benimmregeln für verschiedenste Situationen, Konsens über angemessene Kleidung für verschiedenste Gelegenheiten, Geschlechter, Figuren sind Vorgaben, wie wir uns zu inszenieren haben.
Gleichzeitig aber sollen wir uns so inszenieren, dass es möglichst niemand als inszeniert empfindet. Wer ertappt wird, wie er oder sie sich stylt, wird oft zum Opfer von Gewitzel. Gar nicht so unähnlich dem Spott, den Presse und Regierungsoberhäupter nach dem oben erwähnten Bild auf der Charlie-Hebdo-Demo von der Internet-Community abbekamen.
Social Media macht die Spannung zwischen Authentizität und Inszenierung sichtbar
Wir können Social Media eigentlich dankbar sein, dass sie die Spannung zwischen einem sich verändernden Verständnis von Wahrheit und Authentizität und Inszenierung sichtbar macht und Diskussionen aufwirft. Gerade weil es kein social-media-spezifisches Thema ist.
Nur, gerade in Social Media wird nun freiwillige lustvolle Selbstinszenierung kritisiert. Aus der Kritik an Selfies spricht immer wieder der Versuch Kontrolle darüber zu erhalten, wie sich Menschen selbst darstellen, das bekommen vor allem Frauen und Jugendliche ab. Wenn sich die meist eine männliche Perspektive einnehmenden Selfie-Kritiker ebenso vehement gegen die im Alltag omnipräsente Darstellungsform der sexuellen Objektivierung weiblicher Körper stellen würden, wie sie es kritisiert, wie sich Frauen selbst in Selfies darstellen, könnte ich ihre Kritik vielleicht sogar in irgendeiner Weise ernst nehmen. Aber derzeit wird als selbstsüchtig meist nur das beschimpft, was nicht vom und für den gesellschaftlich dominanten Blick reguliert wird. Um nur eine problematische Facette herauszugreifen.
Wahrheit ist eine endlose Annäherung
Wie sehr es in der Kritik an Selfies um Angst, die Definitionsmacht zu verlieren, geht, zeigt auch Arlt, wenn er schreibt: “Selbstvermarktung als wirtschaftliche Existenz- und soziale Karrierebedingung: Keine Mietwohnung, kein Arbeitsplatz, keine Bewerbung, keine Beziehung ohne ‘Selfie’, ohne die Herstellungskosten in Kauf zu nehmen für die Darstellung seiner selbst von der besten Seite. Doch diese Shows bleiben unter der Kontrolle der jeweils Anwesenden, die intervenieren können.”
Solange die Kontrolle bestehen bleibt, solange interveniert werden kann, ist Selbstvermarktung okay, denn mit einer “unerwarteten Zwischenfrage” lässt sich nach Arlt doch die “Wahrheit” ans Licht zu bringen, die er auch noch an Leistung festmacht.
Als ob eine gelungene Selbstdarstellung keine Leistung wäre. Wie sehr er an eine objektive Wahrheit, an authentische Identität glaubt, zeigt sich auch sehr schön in einem Bild: er beklagt “das Öffentliche als Gezerre zwischen Verdunklung und Entblößung”. Aber genau das ist Wahrheit: sie ist eine endlose Annäherung, sie entsteht im Spiel verschiedenster Perspektiven, die verschiedene Stellen ins Licht rücken und andere im Schatten halten.
Berechtigte Kritik an der Social-Media-Strategie der traditionellen Medien
Ich musste darüber schmunzeln, wie nahe Arlts “Gezerre” am Bild eines “Fächertanzes” aus der Burleske ist, das Nathan Jurgenson von Marc Smith übernommen hat, um unsere Selbstdarstellung auf Social Media zu beschreiben. Es lässt sich letztlich ausweiten auf alle Arten von Selbstdarstellung, vielleicht sogar auf alle Formen von Darstellung: wir zeigen mal mehr, mal weniger, je nach Kontext verschiedene Seiten, und Identität wie Wahrheit entstehen nur in diesem Tanz, nur in der Bewegung. Arlt würde das wahrscheinlich nicht sehr sexy finden.
Es ist nicht so, dass ich nicht mit Teilen der Journalismus- und Gesellschaftskritik einverstanden wäre, die Arlt vorbringt, sonst hätte ich mich auch nicht zu diesem Text angeregt gefühlt. Aber es lässt sich nicht so, wie er es getan hat, an Selfies festmachen.
Die Nabelschau, die Journalismus auf Social Media betreibt und wie Eigen-PR-bewusst viele Journalist_innen dort aktiv sind, um sich selbst und ihre Zeitung oder ihren Sender als Marke zu inszenieren – das ist durchaus kritisierenswert und geht an dem vorbei, wie Social Media bereichernd für die älteren Medien sein können.
Wenn Social Networks selbst Publisher geworden sind
Was bei Arlt zu kurz kommt, ist das konsequente Weiterdenken der Kritik bis an die Wurzeln. Da ist die very german Sehnsucht nach einer Zeit in der Leistung noch etwas galt, und nicht nur Selbstinszenierung zum Vermarktungszweck (und als solche dürfte er auch jede Form von Social Media Strategie von Journalismus begreifen, womit ich nicht ganz nicht einverstanden bin).
Da ist die very manly Sehnsucht nach damals, als man noch blindlings als Gatekeeper akzeptiert wurde, als diese eine Perspektive noch als Objektivität verkauft werden konnte, und andere Perspektiven bestenfalls mal durch ein paar Leser_rinnenbriefe lästig werden konnten. Aber da ist keine schlüssige Verfolgung des Selbstinszenierungszwangs bis zu seinen Ursachen, sondern stattdessen werden Ärger und Ängste einfach auf neue Kulturtechnologien abgelenkt, mit denen er sich nicht wirklich auseinandersetzen will.
Journalismus krankt in großen Teilen nichtsdestotrotz tatsächlich an der Überzeugung, der Logik von Social Networks aus monetären Zwängen vermeintlich folgen zu müssen. Dadurch werden Artikel konzipiert um Schnelligkeit und Reichweite zu erlangen, während Gesichtspunkte wie Tiefe und gesellschaftliche Relevanz meist auf der Strecke bleiben, da ihnen in diesen Netzwerken keine Bedeutung zukommt. Ob Medien damit nicht mehr aufgeben als sie gewinnen, werden sie wohl erst merken, wenn auch das letzte Social Network selbst zum Publisher geworden ist.
too long, didn`t read
Die Krise des Journalismus resultiert zum Teil aus der Orientierung an “Werbung, PR und Unterhaltung” und den Strukturen von Social Media, aber: Please leave Selfies alone.
P.S.: An meine Nummer 1 der kuriosen Selfie-Angst-Artikel kommt Arlts übrigens lange nicht heran, das ist immer noch dieser hier.
Die US-Comedian Chelsea Handler hat vor ein paar Tagen ein Bild auf Instagram gepostet, das ein Bild von ihr neben einem von Putin zeigt – beide auf einem Pferd, beide oben ohne. Beschriftet hat sie es mit: “Anything a man can do, a woman has the right to do better #kremlin.” Instagram löschte das Bild mit einem Verweis auf die Community Guidelines.
Die einfachste Reaktion darauf wäre gewesen: “Nun ja, das ist eben wie beim Hausrecht: Wenn ich bei so einem Service etwas poste, dann muss ich mich auch dessen Regeln unterwerfen.” Andererseits ist den Usern ja zunehmen auch bewusst, dass sie eine gewisse Mitsprachemacht haben, da ihre Inhalte die Bausteine sind, ohne die dieses Haus nicht existieren würde. Wenn ein Service sich zu weit von dem entfernt, was seine User wollen, werden diese ihn verlassen.
In diesem Geiste postete Chelsea Handler das Foto einfach noch mal. Diesmal mit dem Zusatz, dass es sexistisch sei, das Bild zu entfernen. Als es abermals von Instagram gelöscht wurde, postete sie einen Screenshot der Löschmeldung mit dem Kommentar: “If a man posts a photo of his nipples, it’s ok, but not a woman? Are we in 1825?” Damit löste sie in den Kommentaren und anderswo eine Diskussion über die Angemessenheit aus. Viele Kommentare pflichteten Handlers Position bei, es als sexistisch zu betrachten, aber es gab – surprise, surprise! – auch süffisante Kommentare in Richtung “höhö, wenn es um nackte Brüste geht, dann ist das genau meine Sorte Feminismus”.
Solche Dispute sind nicht wegen Celebrity Content oder Sensationalisierungspotential interessant, sondern weil sie Problemzonen der Social Networks aufzeigen.
Solche Dispute sind nicht wegen Celebrity Content oder Senastionalisierungspotential interessant, sondern weil sie zeigen, wo das Mauerwerk bröckelt. Sie machen es einfacher, Problemzonen von Social Networks zu finden, zu kritisieren und zu verbessern. Sie einfach nur als belanglose Aufreger zu ignorieren kann Gefahr laufen, in der Tradition des Abtuns weiblicher Kritik als “hysterisch” zu liegen. Auch wenn der Tonfall von Onlinediskussionen oft erhitzt und polemisch ist, sollten sie als Marker von Problembereichen ernstgenommen werden. Dass in den Medien oft eher sie als Problem benannt werden als ihre Auslöser, spricht für sich. Die Medien sind of Teil oder Plattform des Problems.
In der Time gibt es einen Beitrag von Charlotte Alter, der titelt: “Instagram is right to censor Chelsea Handler”. Darin argumentiert sie, dass um das Wohl der Kinder willen auf Social Networks wie Instagram alle Bilder nackter weiblicher Brüste gelöscht werden sollten, selbst die von stillenden Frauen (davon ist meines Wissens selbst Facebook inzwischen abgekommen. Zumindest offiziell). Die Begründung Alters: “because that kind of monitoring helps keep revenge porn and child porn off of the network. It’s not that kids on Instagram need to be protected from seeing naked photos of Chelsea Handler–it’s they need to be protected from themselves.” Wie sie in ihrer Argumentation vom Foto einer selbstbewusst satirisch posierenden erwachsenen Frau auf Kinderpornographie kommt, spiegelt letztlich deren entmündigenden Gestus wider. Dass Jugendliche sicherer im Umgang mit Social Media sind, als es die Sorge von verängstigten Erwachsenen, die nicht mit diesen großgewordenen sind, oft vermuten, lässt sich bei Expert_innnen wie z.B. Danah Boyd gut nachlesen. Ebenso bekannt ist, dass großflächige Zensur nicht den Nutzen bringt, den sich simplifizierende Hardliner davon versprechen. Beides setzt auf Freiheitseinschränkung und auf Kontrolle mit grob vereinfachenden Kritierien statt auf Auseinandersetzung. Beides scheitert immer wieder an der Komplexität menschlichen Sozialverhaltens. der wie es Astra Taylor und Joanne McNeil in “The Dads of Tech” schreiben: “Complicated power dynamics do not fit neatly into an Internet simple enough for Dad to understand.”
Die Grenze des Zulässigen beim Anblick von weiblichen Nippeln zu ziehen ist recht beliebig.
Nude Pix sind ein gutes Beispiel für dieses Scheitern. Die Grenzen zwischen der Darstellung asexueller, erotischer und pornographischer Nacktheit sind fließend und komplex. Eine medizinisch-unterkühlte Ganzkörpernacktillustration ist weniger erotisch als ein Bild auf dem ein Körper mit Dessous bedeckt ist. Was als anstößig empfunden wird, hängt von kulturellem Background, Alter und anderen Kontexten ab. Fest steht: Es ist es ein recht beliebiges Vorgehen, die Grenze des Zulässigen beim Anblick von nackten weiblichen Nippeln zu ziehen. Das bringt auch Amanda Marcotte bei Slate sehr schön auf den Punkt:
“The taboo around the nipple encapsulates how ridiculous and contradictory our expectations about women, fashion, and sexuality really are. On the one hand, women are expected to be sexually appealing, even to the point of mutilating our feet to achieve that forever-sexy mystique. But we’re also expected to avoid being too sexual, or else we’re considered scandalous. The conflicting demands reduce us to counting inches of cloth and arbitrarily deciding that the nipple is a step too far. We’d all be better off in a more sensible society where women could walk around topless to look sexy but wearing 3-inch heels was considered over the top.”
Verschiedene Netzwerke mit verschiedenen Ansätzen für verschiedene Bedürfnisse?
Netzwerke wie Twitter oder Ello haben andere Ansätze. Statt solche beliebige Grenzen des Erlaubten zu ziehen, geht Twitter, wo Chelsea Handler ihr Bild nach ihrem Abgang von Instagram gepostet hat, von mündigeren Usern aus und setzt ein Stück weit auf Vertrauen. Es wird der Komplexität und der subjektiven Natur dessen, was Menschen anstößig finden, gerechter: Die Nutzer_innen können selbst entscheiden, was sie sich ansehen. Wenn Nutzer_innen öfter solche Inhalte posten, sind sie dazu angehalten, ihren Account selbst so einzustellen, dass vor allen Bildern oder Videos mit “sensitive content”, also potentiell anstößigem Inhalt (Nacktheit, Gewalt, medizinische Prozeduren usw.) eine Warnung angezeigt wird, die bewusst weggeklickt werden muss, um das Bild zu sehen. Erst bei mehrfachen gemeldeten Verstößen schreitet Twitter ein. Einen ganz anderen Ansatz hat letzte Woche der Gamer Video Service Twitch gewählt: Er verbietet Frauen und Männern gleichemaßen, sich mit entblößten Oberkörpern zu zeigen. Puritanisch oder gleichberechtigt? Solidarische Geste oder prüde Bevormundung? Das sind Themen, die offline auch alles andere als geklärt sind und wir können aus den Onlinediskussionen darüber auch dafür lernen. Die unterschiedlichen Ansätze was die Handhabe von potentiell anstößigen Inhalten anbelangt deuten daraufhin, dass die sinnvollste Art der Nutzung und auch der Entwicklung von Social Networks ist, verschiedene Netzwerke für verschiedene Bedürfnisse zu verwenden. Was aber, wenn Netzwerke die eierlegende Wollmilchsau sein wollen, weil es mehr User bringt und damit mehr Profit? Was aber, wenn ein Netzwerk die eierlegende Wollmilchsau sein will, weil es mehr User bringt und damit mehr Profit.
Es wird Zeit, den nächsten Schritt zu gehen: Wie lassen sich Social Networks sozialer gestalten?
Noch mal zurück zu Charlotte Alters Artikel, in dem sie schreibt: “This is also a question of practicality. Ideally, Instagram would be able to distinguish between a naked 13-year old and a breastfeeding mom. In reality, it would be unrealistic to expect Instagram to comb through their content, keeping track of when every user turns 18, whether the user is posting photos of themselves or of someone else, and whether every naked photo was posted with consent. …”
Noch mal auf deutsch: Es sei eine Frage der Praktikabilität und von Instagram könne keine angemessene Inhaltsmoderation erwartet werden. Dem möchte ich in aller Deutlichkeit entgegensetzen: Doch, das ist genau die Forderung, die wir an Social Networks stellen müssen: angemessene Inhaltsmoderation und Restrukturierung. Sie sind zunehmend Teil von zu vielen Bereichen unseres Lebens, um ihre Unzulänglichkeiten zu ignorieren. Immerhin verdienen sie gutes Geld an ihren Usern und deren Inhalten und investieren eine Menge davon ja schon in fein-strukturierte und höchst effiziente Filterung dieser Inhalte – nur eben für Werbekundschaft. Die Interessen beim Bauen, Strukturieren und Verwalten von Social Networks lagen lange genug nur auf Technik und Marketing. Es wird Zeit, den nächsten Schritt zu gehen: Wie lassen sich Social Networks sozialer gestalten? Die Vereinfachung komplexer Zusammenhänge darf gerade bei solchen sozial-ethischen Themen nicht länger als Argument gelten, die billigsten einfachsten Wege zu wählen. Dass ein Bedürfnis dafür gewachsen ist, darauhin deutet die Größenordnung und Intensität von etwas wie Gamergate und das derzeitige Entstehen von zahlreichen neuen Social Networks wie Ello oder Heartbeat.
Charlotte Alter endet in ihrem Artikel bei der Frage: “So which is more important: the rights of a few bold comedians or breastfeeding moms to feel validated by their Facebook followers, or the privacy of people who might have their private photos posted without consent? I would side with the latter any day of the week.”
“So lasset uns Freiheit für Sicherheit opfern!” – ein Credo, das wir aus privilegierten konservativen Kreisen nur allzugut kennen. Die Freiheiten und Rechte von Wenigen als unvermeidlichen Kollateralschaden zu betrachten, den es für ein übergeordnetes Wohl zu bringen gälte, ist nichts als eine ignorante Weigerung, sich mit komplexeren Dimensionen auseinanderzusetzen. Es sollte nicht vergessen werden: Im Gegensatz zu der sonst in Medien und Marketing immer noch überwiegenden sexuellen Male Gaze-Objektivierung weiblicher Körper bieten Social Media Plattformen Frauen die Freiheit, dem eine selbstbestimmte öffentliche Abbildung des eigenen Körpers entgegenzusetzen – egal ob erotisch oder stillend oder satirisch oder medizinisch. Es wäre traurig, solche Möglichkeiten unüberlegt zu opfern. Stattdessen sollten Wege eingefordert werden, die solche Arten der Selbstermächtigung ermöglichen und der Vielschichtigkeit der User gerecht werden, ohne dass es in Konflikt mit dem allgemeinen Zugang für Jugendliche zu diesen Social Networks gerät. Pleasantville ist keine Lösung.
“Bei Twitter und in anderen Teilen des sozialen Netzes herrscht ein Konformitätsdruck, der durch die Furcht ausgelöst wird, am virtuellen Pranger zu landen. (…)
Auf Dauer sorgt es aber für ein vergiftetes Klima und einen Konformismus, der Meinungsfreiheit und Demokratie mindestens ebenso bedroht wie die Überwachung durch Geheimdienste und Regierungen.”
Weigert zitiert dazu den ‘Blogger und Professor Joshuah Neeley’:
“Er sieht die entscheidende Schwäche am Prinzip der Bestrafung durch die Masse darin, dass dabei nicht schädliche oder falsche Sichtweisen zum Verstummen gebracht werden, sondern vorrangig unbeliebte Perspektiven.”
Ein neugieriger Blick auf Twitter bestätigt mir, wo ich diesen Neeley zu verorten habe, denn er retweetet z.B. einen Satz wie diesen: “In a land of freedom we are held hostage by the tyranny of political correctness.” Mal abgesehen davon, dass ich mich gefragt habe, ob es schon ein Godwin’s Law-Äquivalent für Vergleiche mit der NSA-Überwachung gibt, wundere ich mich angesichts dessen was für Meinungen er hier gegen vermeintlichen Konformismuszwang verteidigen will schon darüber, wer mir alles diesen Artikel in den letzten Tagen beipflichtend in die Timeline gepostet hat. Das war für mich denn auch der Anlass dafür, etwas dazu zu schreiben.
Martin Weigert hat sich als ein Beispiel für Opfer von Twitterstorms Pax Dickinson ausgesucht, damals noch Chief Technology Officer von Business Insider (was auch in seiner Twitterbio vermerkt war), und in dieser Position z.B. auch über Einstellungspolitik entscheidend. Dieser twitterte über Monate hinweg Dinge wie: “In The Passion Of The Christ 2, Jesus gets raped by a pack of niggers. It’s his own fault for dressing like a whore though.” oder “aw, you can’t feed your family on minimum wage? well who told you to start a fucking family when your skills are only worth minimum wage?” oder “A man who argues on behalf of feminism is a tragic figure of irony, like a Jewish Nazi.” oder den Tweet, der dann eine Lawine von Retweets und Protestreplies ins Rollen brachte: “feminism in tech remains the champion topic for my block list. my finger is getting tired.” Kurz darauf wurde er gefeuert, weil BI das zu viel Negativwerbung war. Ein anderes Beispiel Weigerts ist der Fall von Justine Sacco. Die Frau, die einen hochrangigen PR Job hatte, twitterte: “Going to Africa. Hope I don’t get AIDS. Just kidding. I’m white!” Sie war am nächsten Tag ihren Job los, ihren Account hat sie gelöscht.
Von diesen Beispielen ausgehend fordert Martin Weigert mehr Empathie und Entschleunigung von den KritikerInnen dieser Tweets: Sie sollten doch erst mal durchatmen bevor sie auf sowas reagieren. Nun, ich fände es angebrachter, wenn er diesen Ratschlag Leuten wie Dickinson und Sacco gäbe. Ich finde es schade, dass so aus einem aktuellen interessanten Thema bei Weigert letztlich bloß wieder mal das Aufwärmen vom guten alten “Das wird man doch wohl mal sagen dürfen!” wurde. Protecting hate speech, yay. Es sind wieder mal die Stimmen der ‘Anderen’, die im Konsens des Mainstreams stören. Pardon, aber es hat halt wirklich so ganz und gar nichts mit Konformismus zu tun, wenn ich mir vor dem Posten überlege, ob das was ich schreibe, sexistisch oder rassistisch ist. Eher mit… ähem… Empathie?
Es mag für Privilegierte ungewohnt sein, dass sie im Internet nicht immer so konsequenzlos sexistisch und rassistisch sein können wie im Gespräch unter Vertrauten oder im Beruf, aber mein Mitleid hält sich da ähnlich in Grenzen wie wenn sich jemand über Konformitätszwang beschwert, weil alle dauernd Katzenbilder posten. Grundlegend ist es erst mal eine schöne Seite des Internets, dass in Blogs oder Social Networks diejenigen, die sonst z.B. im Job ständig aus Furcht selbigen zu verlieren ihren Mund zu Diskriminierungen halten müssen, sich trauen können auch mal dagegen zu protestieren. Und auch mal die Möglichkeit haben lautstark die Mehrheit zu sein, die Hatespeech ein Konter bietet. Und eines kann ja anscheinend dieser Tage wieder mal nicht genug betont werden: Meinungsfreiheit ist nicht die Freiheit von Konsequenzen aus dem Äußern der Meinung.
Es ist ja auch letztlich nicht die Angst vor den Äußerungen anderer User, die den ‘Konformismuszwang’ ausmacht, au contraire, denen sind solche Leute wie Dickinson ja eher gewohnt vor den Latz zu knallen, dass sie einfach keinen Humor hätten. Und dass Jim Knopf nun mal schwarz sei. Es ist die Angst vor Konsequenzen z.B. im Berufsleben. Pech für die, die einen Ruf zu verlieren haben. Oder an Sacco angelehnt: “Going on Twitter. Hope I don’t get fired. Just kidding. I’m self-employed!” (Jon Henke). Weigert jedenfalls scheint auch gar nicht Konformismusdruck an sich zu interessieren, sonst hätte er auch ein gelungeneres Beispiel wählen können, z.B. wie manche Frauen im Netz nur weil sie für Gleichberechtigung eintreten, mit Vergewaltigungs- und Morddrohungen überschwemmt wurden und werden. Genauso wenig geht es Weigert anscheinend um das Thema der Bedrohung der freien Meinungsäußerung im Netz, denn dann hätte er auch Beispiele anführen können wie das Twitter Joke Trial oder das des englischen Studenten, der wegen eines Twitterscherzes über “diggin’ up Marilyn Monroe” und “destroying” America deportiert wurde, um nur zwei zu nennen, die mir auf die Schnelle einfallen, und in denen es nicht andere User sind, die zum ‘Konformismus’ zwingen, sondern staatliche Behörden. Ich finde ‘Konformismus’ in diesem Artikel auch eher einen problematischen Begriff, weil er den Verzicht auf Hatespeech negativ auflädt, ebenso wie ‘Meinungsfreiheit’ ein zynischer Begriff ist um Rassismus und Sexismus zu verteidigen.
Aber noch mal zurück: In Echtzeit auf Twitter mitverfolgen zu können, wie Pax Dickinson dank massiver Kritik an seinen Hass-Tweets seinen Job verlor, fand ich gleichermaßen erschreckend und befriedigend. Erschreckend, weil es einfach ungewohnt ist, dass öffentlich mitbeobachtet werden kann, wie jemand für seine Bemerkungen zur Rechenschaft gezogen wird, und das auch noch so schnell. Befriedigend, weil da jemand, der zum Problem für Frauen in der Technikbranche gehört, hier mal tatsächlich Konsequenzen zu spüren bekam, und das nur weil sich eine Gruppe von Menschen zusammentat, um die Hassäußerungen zu kritisieren. Und dann gleich noch mal auf einer anderen Ebene erschreckend: Erschreckend vor mir selber, dass ich das als gut empfand. Es ist bei so etwas ein feiner Grat zwischen solidarischem Zusammenschluss und Mobverhalten.
Dieses Mobverhalten ist ja eigentlich der Punkt, der kritisch angesprochen werden sollte. Dieses ist ebenso wie die Gier nach Sensationen im Netz auch nicht immer negativ behaftet, sondern wird bei sowas wie Hypes und viralem Content ja durchaus auch als positiv empfunden, und gerne von der Werbebranche oder von Nachrichtenmedien ausgenutzt. Dabei wird es auch als angemessenes Verhalten bestärkt: Sei es eine extraprovokative Clickbait-Schlagzeile die Fremdenhass schürt oder ein sexistische Grenzen überschreitender Werbeclip – in solchen Fällen soll der User ja dazu gebracht werden mit Klicks und Kommentaren die Auflagenstärke 2.0 zu steigern. Dass diese Mobmentalität und das schnelle (Über-)Reagieren und ebenso schnelle Vergessen im Netz aber auch ganz Unbeteiligte oder Unschuldige in Abgründe stürzen kann (hier drei Beispiele via @machinestarts 1, 2, 3) wird dabei genauso schnell vergessen. Das läuft alles auf so unbedarftem niedrigen Instinktlevel ab, das nichts aus solchen Beispielen gelernt wird und keine Konsequenzen bedacht werden. Einen Gedanken wert ist es auch, dass es sich hier nicht um internetspezifisches Verhalten handelt, denn Mobbing und Outing finden auch seit jeher außerhalb des Internets statt, aber da finden sich nicht so schnell so große (anonyme) Gruppen, die sich beteiligen, und es gibt eine andere Sensibilität für Dos und Don’ts und ‘ungeschriebene Gesetze’.
Im öffentlichen Bewusstsein wurde viel zu lange der Mythos des digitalen Dualismus gepflegt: der Mythos vom Internet als uneigentlichem virtuellen Raum, der mit dem ‘echten’ Leben’, das als eigentliche Realität begriffen wird, nicht so viel zu tun hat, und deshalb auch keine Konsequenzen darin findet. Es herrscht oft eine Unbeholfenheit beim Kommunizieren im Netz – ist es nun wie öffentliches Reden, ist es wie Lästern im Freundeskreis? Soziologische, kulturelle und ethische Gedanken im Bereich der technischen Erweiterungen unseres Lebens hinken oft hilflos dem Einfluss dieser hinterher. Verhaltensforschung im Netz ist meist eher an Ergebnissen und Themen interessiert, die sich für die Werbebranche nutzen lassen. In Medien werden solche Themen meist nur zu einem breiter diskutierten Thema, wenn sich was Spektakuläres ereignet. Wo vor einer Weile noch die Abgründe der Kommentarbereiche oder die Shitstorms als Zeichen der Apokalypse gefürchtet wurden, ist es jetzt das Public Shaming und die Mobmentalität auf Twitter. Vielleicht hat es ja wirklich Menschen stärker als angenommen geprägt, dass sie seit langem in fast allen Lebensbereichen einer hypersensationalistischen empathiearmen Medien- und Werbekultur ausgesetzt sind, und es erscheint ihnen die adäquate Art und Weise jetzt dort wo sie selbst ‘Nachrichten’ posten können, ähnlich zu verfahren. Gelernt ist gelernt. Ich hoffe ja, dass sich auch hierzulande bald mal mehr schlaue Leute aus nicht-rein-technischen Disziplinen tiefergehend damit beschäftigen, wie wir mit unserer technisch-erweiterten Realität so umgehen und was für Folgen das hat, und die das mal soziologisch auseinandernehmen, diskutieren und mit allen negativen und positiven Facetten für eine breite Öffentlichkeit verständlich aufzubereiten. Dann liefe das vielleicht auch nicht immer nur auf Glorifizierung oder Dämonisierung (so wie im Text von Weigert gleich das Ende der Meinungsfreiheit und Demokratie heraufbeschworen wird) hinaus.
In einem Text zum neuen Beyoncé Album schreibt die britische Feministin Laurie Penny im New Statesman:
“Mehr als alles andere ist Beyoncé eine Künstlerin des Marktes. Sie würde niemals ein Album veröffentlichen, für das ihr Publikum nicht in maßgeblicher Weise bereit ist, und die Mainstreamwelt, die Dance Pop hört, war hierfür bereit. Sie war bereit für ein Album über Feminismus und sexuelles Selbstvertrauen und eine Sorte Mitgefühl, dass dich auf deine Füße reißt und dich anfangen lässt Schönheitskultur zu kritisieren und dann durch die Straßen zu ziehen und Polizeiautos anzuzünden in einer irrsinnig glamourösen Version des Black Blocks.” (Übersetzung von mir)
Dass der Pop-Mainstream nichts herausbringt, von dem er nicht zu wissen glaubt, dass die breite Masse dafür bereit ist, lässt sich gewiss auch von der Welt der Fernsehserien auf HBO oder Fox sagen. Aus diesem Gedanken heraus fand ich es auch interessant, für die ‘Sexarbeit’-themed Dezembersendung von ‘Gender. So What?’ auf Radio Z ein Pop-Thema zu wählen, nämlich sich die Darstellung von Sexarbeit in ein paar TV-Serien ein bisschen näher anzugucken. (Das hier ist die Textversion des Radiobeitrags.) Dafür möchte ich zwei Bälle aufnehmen, die von der Frankfurter Allgemeinen und dem Missy Magazine aufgeschlagen wurden: Sexarbeit in ‘Deadwood’ und ‘Firefly’.
In der FAZ stellt Volker Zastrow seinen Standpunkt klar: “Prostitution ist ein anachronistischer Überrest der Unterdrückung von Frauen. Sie ist Missbrauch, dem man nicht zu Leibe rücken kann, indem man ihn umtextet, rhetorisch normalisiert.” Zur Verbildlichung zieht er die HBO-Serie ‘DEADWOOD’ heran.
Es ist die Geschichte der Goldgräberstadt Deadwood in den 1870er Jahren, als es vom Goldgräbercamp zur Stadt wuchs. Die Hauptidee der Serie ist laut Produzent David Milch das Entstehen einer Gesellschaft aus dem Chaos heraus indem sie sich um ein Symbol herum (in der Serie ist das das Gold) organisiert. Darum werden verschiedene Themen, neben Prostitution und Frauenfeindlichkeit auch Einwanderung, Rassenhass, Drogen und die Entstehung des amerikanischen Kapitalismus angerissen. Es ist eine Western-Serie, die recht unverschönt Geschichte aus der Perspektive von Losern schreibt, voller Dreck und Gewalt.
Zu den Verliererinnen dieser Ära gehören die Prostituierten, die zentrale Rollen in der Serie einnehmen. Sie sind nicht die strahlenden Federboaschönheiten, die wir aus traditionellen Western kennen, sondern sind schmutzige, gelangweilte Frauen, denen Gewalt widerfahren ist und die wissen, dass ihnen weiterhin jederzeit Gewalt zugefügt werden kann. Keine Spur von Glamour, keine Spur von freiwillig gewähltem Job, nein, eher eine Geworfenheit in ein Schicksal, das durch die Position in der Gesellschaft quasi vorgezeichnet ist. Die Frauen des Gem, eines der Deadwood Bordelle, wurden von dessen Besitzer aus einem Waisenhaus abgekauft, in dem er selbst als Sohn einer Prostituierten aufgewachsen war. Mit Joanie und Trixie gibt es gleich mehrere Sexarbeiterinnenfiguren, die als eigenständige Charaktere in Deadwood tragende Rollen einnehmen. Es gibt Selbstermächtigungsversuche, aber Joanies Versuch ein eigenes Bordell aufzumachen scheitert ebenso wie Trixies Schritt in einen Job jenseits der Sexarbeit. In der FAZ hält es Sarkow für ein Argument, dass sich in der Rezeption der Serie über die Rollen der Frauen aufgeregt wurde:
“Es wurde ja nicht nur die Entrechtung von Frauen in Szene gesetzt, sondern auch die von Chinesen, Schwarzen, von Behinderten, von Grubenarbeitern. Niemand in Deadwood ist vor Gewalt sicher, die Ermordeten, denen man kein Begräbnis gönnt, werden den Schweinen zum Fraß vorgeworfen, die Verbrechen bleiben ungesühnt. Auch darüber hätte man sich aufregen können. Tat aber keiner. Vielleicht, weil es vorbei ist. Die Unterdrückten sind frei. Die Menschenrechte sind garantiert. Es gibt diese Greuel nicht mehr. Bis auf die Prostitution.”
Davon abgesehen, dass ich das insgesamt für etwas naiv halte, weil ‘Prostitution’ in der Form von Menschenhandel und Vergewaltigung gewiss nicht das einzige in Deadwood angerissene Greuel ist, dass noch gibt, ist mir wichtig, dass er bei all seiner Aufregung über Prostitution als unmoralischer frauenfeindlicher Akt per se die Selbstermächtigungsakte der beiden von mir erwähnten Figuren übersieht. Es lässt sich durchaus sagen, dass Sexarbeit, der Frauen selbstbestimmt nachgehen, in Deadwood in Form eines von Frauen selbstgeführten selbstgewählten Bordells durchaus als möglicher positiver Ausweg vorgestellt wird. Ein Ausweg der aber – und darin, das in aller Brutalität auszuführen ist DEADWOOD wirklich großartig – ein Ausweg, der aber nicht funktionieren kann, solange die Ideologie und die herrschenden Verhältnisse der Gesellschaft sich nicht ändern. Das ist nämlich er eigentliche Punkt, der bei DEADWOOD gemacht wird: Nicht, dass Sexarbeit ausschließlich Menschenhandel und Vergewaltigung bedeutet, sondern dass selbstbestimmte Sexarbeit an der Form der Gesellschaft wie sie in DEADWOOD dargestellt wird, nicht möglich ist.
Die Redaktion des Missy Magazine hatte die schlagfertige Idee in einem Gegenartikel zu Zastrow eine andere TV Serie wegen ihrer Darstellung der Sexarbeit heranzuziehen: FIREFLY.
FIREFLY spielt in der Zukunft, 2517 um genau zu sein, und es ist ein Space Western, eine Science Fiction Utopie, in der ganz pioniersmäßig die Menschen ein neues Sternensystem besiedeln. Die Hauptfiguren stehen auf der VerliererInnenseite eines Bürgerkriegs, und führen ein Leben außerhalb der Gesellschaft, die aus der Allianz besteht, einer Supermacht, die westliche und fernöstliche Kultur vereint. Sie überleben mit Schmuggeldiensten auf einem Raumschiff namens Serenity, dass der Firefly-Klasse angehört – daher der Serienname. In dieser Serie gibt es eine Figur die sowas wie eine ideale Form der Sexarbeit praktiziert: Inara Serra, ein ‘Companion’. Die Missy schreibt:
Warum wurde „Firefly” damals als feministische Serie gefeiert? Schließlich zeigte Joss Whedon Frauen darin nicht nur als Wissenschaftlerinnen oder Waffenspezialistinnen, sondern auch als Prostituierte. Vielleicht lag es daran, dass die „Companions”, wie SexarbeiterInnen in „Firefly” heißen, keine unterdrückten und misshandelten Frauen waren. Sondern angesehene hochausgebildete Expertinnen, die unter anderem auch in Schwertkampf, Kalligraphie und Psychologie glänzen mussten. Die die Regeln ihrer Arbeit selbst bestimmten – etwa, welche Klienten sie annehmen wollten. Prostitution, wie sie auf der vormaligen Erde existierte, war längst abgeschafft, ersetzt von der staatlich anerkannten „Companion’s Guild”, die ihre eigenen Regeln schuf. So durfte kein Haus je von einem Mann geleitet werden, die Ausbildung in den einzelnen Häusern war umfassend geregelt und beinhaltete Tanz und musische Bildung ebenso wie akademische Fächer. Frauen wie Männer wurden hier ausgebildet, Frauen wie Männer bedienten KlientInnen beiden Geschlechts. Wer ein Mitglied der Gilde je respektlos behandelte, wurde für immer auf eine schwarze Liste gesetzt und könnte nie wieder die Dienste einer Companion in Anspruch nehmen.
So lässt sich über FIREFLY festhalten, dass hier eine Form der Sexarbeit in einer zukünftigen ‘besseren’ Gesellschaft entworfen wird, die das Argument von GegnerInnen, dass Prostitution immer frauenfeindlich und menschenunwürdig sei, entkräftet und damit auch die Trennung zwischen Menschenhandel und Sexarbeit in ihrer Wichtigkeit unterstreicht.
Ich möchte noch ein drittes Beispiel nennen, wie Sexarbeit in einer aktuellen TV Serie dargestellt wird, und zwar in TRUE BLOOD, einer Serie in der Vampire sich durch Massenproduktion von künstlich hergestelltem Menschenblut outen können und für ihre Gleichberechtigung als Teil der Gesellschaft eintreten. In der Rezeption wird das gern als Anspielung auf den Kampf um LGBT*-Rechte gesehen, nicht zuletzt weil die Serie auch Wortspiele aus dem LGBT*-Kontext verwendet, z.B. wird dort aus dem christlich-homophoben ‘God Hates Fags'(‘Gott hasst Schwuchteln’)-Spruch hier ‘God Hates Fangs’ (‘Gott hast Fangzähne’) wird, oder ‘breeder’ (Brüter als Ausdruck für Heteros) zu ‘breather’ (also: die Atmenden).
Ein Vampir, die im Laufe der Serie von einer Neben- zu einer Hauptfigur wird, ist Pam, Pamela Swynford De Beaufort. Bevor sie zum Vampir wurde, war sie Mitte des 18. Jahrhunderts Bordellchefin in San Francisco. Im Gegensatz zu den Menschen in DEADWOOD, denen kein Ausweg aus ihren Klassen und kaum einer aus ihren Geschlechterrollen möglich ist, kam Pam nicht aus einer Zwangslage heraus zur Sexarbeit. Im Gegenteil: Pam wuchs als Kind wohlhabender Eltern auf und langweilte sich in der höheren Gesellschaft. Sie hatte zahllose Affären, und als bisexuelle Femme die ihre Sexualität frei und ungehemmt ausleben wollte, führte ihr Weg zwangsweise aus der lustfeindlichen höheren Gesellschaft hinaus. Sie wurde Bordellchefin. Auch ihre Entscheidung Vampir zu werden war selbstbestimmt: Sie schlitzte sich die Pulsadern auf und stellte damit einen Vampir, mit dem sie eine Freundschaft verband, vor die Wahl sie sterben zu lassen oder zum Vampir zu machen. In ihrem Vampirleben lernen wir sie in der quasi-Gegenwart dann als Besitzerin von Fangtasia kennen, eines Nachtclubs, einem erotisch-aufgeladenen Treffpunkt für Vampire und Menschen, die sich zu Vampiren hingezogen fühlen: ‘Fangbangers’, wie sie moralisch abwertend von der konservativeren Bevölkerung genannt werden.
Ein weiterer Charakter in True Blood bedient sich zeitweise der Sexarbeit: LaFayette, schwuler Koch, Medium und Drogendealer, verdient nebenbei auch noch durch Sex und eine Sexcam-Website Geld, mit dem er u.a. für die Kosten der Klinik für seine Mutter aufkommt. Die Droge, die er vercheckt, ist Vampirblut, das Menschen in kleinen Dosen high macht, und das er im Tausch gegen sexuelle Dienste von einem Vampir bekommt. Wie Pam im 18. Jahrhundert als Frau, die ihre Sexualität offen auslebt, zur gesellschaftlichen Außenseiterin wird, wird LaFayette es in einer Südstaaten-Kleinstadt der Gegenwart durch seine offen ausgelebte Homosexualität. Beide sind also schon bevor sie zur Sexarbeit kommen gesellschaftliche Outlaws, wodurch sich beide aber keineswegs in eine Opferrolle drängen lassen, sondern der Stigmatisierung durch die Gesellschaft eher ein “Fuck You” entgegenwerfen. Sie werden beide als starke charismatische und leidenschaftliche Charaktere skizziert, sowohl was das selbstbewusste Ausleben ihrer Sexualität anbelangt, als auch das Eintreten für Menschen, die ihnen nahestehen; und beide zeichnen sich durch eine großartige Prise schlagfertigen schwarzen Humors aus. Die Sexarbeit wird hier als freiwillig eingegangener Handel dargestellt, bei dem sie selbstbestimmt agieren und selbst entscheiden mit wem sie was tun.
Soweit diese kurz angerissenen drei Beispiele, in denen sich bei genauerer Betrachtung verschiedene Ansätze zur Verbesserung oder Idealvorstellungen davon finden, wie die Bedingungen für Sexarbeit aussehen könnten oder was falsch läuft. Bei Deadwood, in einer historischen Annäherung, scheitern die Ansätze an den brutalen patriarchalisch-kapitalistischen Verhältnissen. Bei Firefly, in einer Zukunft in einer anderen Galaxie, bekommen wir utopische gesellschaftliche Verhältnisse vorgestellt, in denen Sexarbeit sogar als relativ hoch angesehener Job gilt, der nicht nur auf die sexuell-körperliche Ebene reduziert wird, sondern zu dem auch eine psychologisch-betreuende Ebene gehört. Bei True Blood, in einer parallelen Fantasy-Gegenwart bekommen wir die Sexarbeit als etwas präsentiert, das selbstbestimmt ausgeübt werden kann. Das Problem kann hier eher in der Stigmatisierung des Auslebens von nicht-heteronormativen Sexualvorstellungen gesehen werden, das die Betroffenen gesellschaftlich ausgrenzt und dadurch automatisch in die Nähe eines kriminalisierten Milieus rückt.
Abschließend möchte ich noch einen Punkt ansprechen, an dem sich die derzeitige Diskussion um Sexarbeit gern aufhängt: Die Frage nach der Freiwilligkeit, der freien Wahl als Kriterium. Diese hat in unseren drei Beispielen nur die Sexarbeiterin der Zukunft in einem utopischen Gesellschaftsentwurf. Deadwood zeigt letztlich wie nicht nur die Sexarbeiterinnen, sondern alle Menschen in einem hyper-patriarchal-kapitalistischen Umfeld Zwängen unterworfen sind, denen sie nicht entkommen. True Blood gibt uns Figuren, die durch ihre Sexualität bereits von den Moralvorstellungen der Gesellschaft in ein Außenseiterdasein gedrängt wurden, von dem aus der Schritt zur Sexarbeit kein großer mehr war. In keinem der Fälle träge ein Sexarbeits-Verbot zu einer Verbesserung der Situation der Betroffenen bei. In allen Fällen wird das deutlich, was wir bei der aktuellen Diskussion um die Sexarbeit nicht vergessen sollten: Die ‘freie’ Wahl gibt es nicht, sie ist immer an sozio-ökonomische Bedingungen gekoppelt. Diese sozio-ökonomischem Bedingungen zu verbessern sollte also, wenn wir uns auf den Weg zu einer Utopie machen wollen, statt einer partiellen Verbotskultur unser großes Anliegen sein.
Vor ein paar Tagen hat das deutsche GQ Magazin eine Kampagne namens ‘Mundpropaganda‘ gestartet. Es handelt sich dabei um eine Fotoserie von sich küssenden männlichen Hetero-Berühmtheiten. Viele meiner schwulen Freunde scheinen die Kampagne zu mögen. Manche weil sie es sexy finden. Manche weil sie sie als Verbündete empfinden. Wie so oft werde ich mal wieder die Spielverderberin sein.
Lasst mich einen Satz aus dem GQ Editorial herauspicken um zu erklären warum:
“Sich küssende Heteros – dieser Mut ist absolut männlich.”
Dieser Satz sollte es klar machen: Dies ist kein GQ-Willkommensgruß für Schwule sondern es geht bei der Aktion um gefakte gleichgeschlechtliche Küsse als heroischer Akt von heterosexuellen Männern. Vielleicht war die Intention eine andere, oder vielleicht zielt GQ darauf ab, Schwule als Zielgruppe einzukassieren ohne tatsächlicher schwuler Sexualiät Raum zu geben, oder sie wollten einfach bloß eine medienwirksame rührselige soziale Konflikt-Sache für die Weihnachtsausgabe haben. Mir ist die Intention herzlich egal, für mich zählt das Resultat.
Dass sie es zu einem Hauptstatement der Aktion gemacht haben dass es Männer Mut kostet einander zu küssen ist das ‘No Homo’ dieser Kampagne. Auf den ersten Blick mögen die Bilder erotisch erscheinen, aber die sie umgebenden Texte und der ‘Making Of’ Clip tragen die deutliche Botschaft: “Es ist echt hart für uns, das zu tun, aber wir haben unseren Ekel überwunden um Solidarität mit euch zu zeigen – sind wir nicht toll?” Es wird so explizit betont, dass die Küsse fake, also falsch, unecht sind, dass es diese Küsse selbst des bloßen Schattens von schwulem Verlangen beraubt. Die Interviews sind dazu da, dass die Küssenden sagen können, wie schwer es für sie war, in dieser Art solidarisch zu sein und dass sie viel lieber Frauen küssen. Der ‘Making Of’ Clip zeigt wie manche von ihnen vor Lachen halb zusammenbrechen als sie versuchen sich zu küssen, usw. Partiell ist das ganze gefährlich nah dran schwule Sexualität als abstoßend und unnatürlich zu redämonisieren, egal ob sie eigentlich das Gegenteil bewirken wollten. Umgeben von all diesem Gerede über die Gefaktheit werden die eigentlichen Bilder zu einem zutiefst desexualisiertem Bro-Ding. Dadurch trägt der Kuss letztlich mehr dazu bei, die Heterosexualität der Küssenden zu reaffirmieren als tatsächlich der homoerotische Protest zu sein, den sie erzeugen wollten. (Für mehr zu diesem Phänomen empfehle ich “Bro-Porn: Heterosexualizing Straight Men’s Anti-Homophobia”, von Tristan Bridges und C.J. Pascoe).
Ich weiß nicht, ob GQ die Idee von der tatsächlich existierenden kreativen Protestform der queer Kiss-Ins hat. Da sind oft ‘straight allies’ (‘heterosexuelle Verbündete’ klingt nicht so schön, also belass ich’s lieber beim englischen Begriff; ebenso wie beim Titel dieses Beitrags sehe ich da keinen Sinn in einer Übersetzung) dabei. Es ist nicht so, dass es für gleichgeschlechtliche Heterosexuelle, grundsätzlich immer eine schlechte Idee ist, als Protest gegen Homophobie miteinander rumzuknutschen, aber wenn sie dabei sofort auch markieren, dass sie nicht wirklich homosexuell sind, dann ist das ein klares Zeichen dafür, dass hier gleichgeschlechtliches Verlangen nicht respektiert oder gar sich darüber lustig gemacht wird. Außerdem könnte es kontraproduktiv sein, es zu nur zu tun um von queeren Leuten Applaus zu bekommen.
via pourmecoffee twitter
Ich versuche mal, nicht nur zu rumzukritisieren, sondern auch ein wenig Queer Ally For The Straight GQ zu spielen: Wie hätte diese Kampagne aussehen müssen, damit sie mir taugt? Im besten Fall hätte sie sich um queer-inklusives sexy Küssen gedreht, und mit ‘queer’ meine ich: alle Geschlechter und sexuellen Orientierungen. So dass Leute die Bilder ansehen und keinen Unterschied festmachen können, sondern als Eindruck nur das Küssen als süßer sinnlicher erotischer Akt zwischen allen möglichen Menschen bleibt. Wenn ihr es auf ‘Fake-Küssen’ einschränken müsst, warum dann nicht auch eine lesbische Frau die einen schwulen Mann küsst neben diesen Heterotypen abbilden? Wenn ihr keine Frauen mit reinnehmen wollt, weil es ein ‘Gentlemen’s’ Magazin ist, warum nicht wenigstens schwule oder Trans*-Männer unter die Heteromänner mischen? Das absolute Minimum aber wäre gewesen: Wenn ihr nur Heteromänner dafür zeigt, dann markiert sie NICHT auch noch als solche.
Um es in Celebrities auszudrücken: Es ist ein wenig wie der Unterschied zwischen George Clooney und Jake Gyllenhaal. Beide wurden oft gefragt, ob sie schwul seien, beide sprechen nicht gern über ihr Privatleben. Gyllenhaal macht es aber sehr klar, dass er nicht schwul ist und fügt noch eine ‘Titten und Ärsche’ Bemerkung hinterher, in einem nicht ganz so schönen ‘echte Männer sind sexistisch’ Beweis. Clooney dagegen sagt, er würde niemals behaupten nicht schwul zu sein, weil er damit Schwulsein als etwas kennzeichnen würde, von dem er das Bedürfnis hätte sich zu distanzieren, etwas Negatives, und das fände er nicht respektvoll der Gay Community gegenüber. In diesem (zugegebenermaßen ziemlich-hinkenden aber Clooney-in-einen-Blogpost-einzubauen-schadet-nie) Vergleich steht die ‘Mundpropaganda’ Kampagne ganz offensichtlich viel weiter auf der Gyllenhaal-Seite der Dinge.
GENTRIFICATION IS REAL via sophfierce twitter
Anderer Kerl, ähnliche Sache: Macklemore. Ich habe erst so richtig realisiert wie wenig ich den großen Macklemore Hit ‘Same Love’ ausstehen kann, als ich hörte, wie Angel Haze den Song für sich eroberte:
https://soundcloud.com/angelhazeym/same-love-angel-haze
Ihre Version (hier die Lyrics) ist um so vieles ermächtigender. Manche Versuche ein Straight Ally zu sein lassen keinen Raum in dem tatsächlich homosexuelle Menschen gehört werden könnten. Sie können Queers auf die Position verdammen, die sich engagierenden Heteros aus der Ferne zu begehren und/oder ihnen zu applaudieren für… – nun ja, im GQ Fall, wenn du drüber nachdenkst: letztlich dafür öffentlich hetero-männliche Abscheu vor männlich-gleichgeschlechtlichem Küssen auf’s neue festzuzementieren. Wenn ein oft übelst homophobes Blatt wie die BILD auf meiner Seite ist, oder der Playboy sich mit dem Posten eines misogyn-lesbophoben Bildes zweier sich offensichtlich für den männlichen Blick küssenden Frauen kontert, und beides freudig auf der GQ Website als Zeichen dafür geteilt wird, wie gut die Kampagne läuft, dann zeigt (gentle)man ja ziemlich deutlich, wie unwichtig ihm die Positionierung gegen Diskriminierung wirklich ist.
Wieviel Anerkennung verdient Macklemore für sein Coming Out als Straight Ally? (Und er lässt uns wissen, dass er hetero ist, erwähnt es zu Anfang des Songs, dass er schon immer Mädchen geliebt hat.)” [Übersetzung von mir]
Sie vergleichen die Situation mit dem ‘Wirtschaftssystem der Dankbarkeit’ (‘economy of gratitude’), das es oft bei Heteropärchen gibt:
In ihrer Untersuchung fand (Ariel) Hochschild heraus, dass Ehemännern oft mehr Dankbarkeit für das Mitmachen bei Hausarbeit entgegengebracht wurde als Frauen. Das heißt, bei Männern wurde sich subtil – aber systematisch – für ihre Hausarbeit ‘über-bedankt’ und das in einer Weise, die ihren Ehefrauen nicht zuteil wurde. Dieser einfache Fakt, argumentierte Hochschild, war viel folgenschwerer als es zunächst erscheinen mochte. Es war ein indirekter Weg Männer symbolisch darüber zu informieren dass sie sich an einer Arbeit beteiligten, die von ihnen nicht verlangt wurde. Tatsächlich haben wir eine ganze Sprache für die Teilnahme von Männern an Hausarbeit, die Hochschilds Ergebnisse bestätigt. Wenn Männer etwas übernehmen, sagen wir, dass sie ‘aushelfen’, ‘einspringen’ oder ‘babysitten’. Diese Begriffe erkennen ihre Arbeit an, aber rahmen gleichzeitig ihre Teilnahme als ein ‘Extra’ ein – eher als eine fürsorgliche Geste als eine Verpflichtung.
Wir würden sagen, dass etwas ähnliches mit männlichen Straight Allies passiert. Wir alle sind daran beteiligt, die Arbeit an der Gleichheit so zu definieren als wäre sie nicht ihre Sache, indem wir ihnen zuviel Dankbarkeit erweisen, genauso wie Hausarbeit als ‘keine Männerarbeit’ definiert wird. Indem wir diese ‘mutigen’ Männer in Machtpositionen (racial, sexual, gendered, und machmal auch classed) für ihre Anerkennung loben, sagen wir zu ihnen und zu anderen: Das ist nicht euer Job, also danke, dass ihr in Sachen Gleichheit ‘aushelft’. [Übersetzung von mir]
Tristan Bridges und C.J. Pascoe schließen daraus warnend:
Lasst uns nicht Anti-Homophobie zum Äquivalent von ‘Babysitting’ für Väter und Aktivismus zur de facto ‘zweiten Schicht’ für marginalisierte Leute machen. Die Bewegung für Gleichheit sollte in der Verantwortung aller liegen und ein Auftrag für alle sein.
Ein weiterer Punkt, der mir bei dieser Kampagne in den Kopf kam, ist dass GQ indem sie so eine Kampagne auf die Schwulen-Community mitausrichten zu einer bereits existierenden Kluft zwischen Schwulen und Lesben beitragen. In der Welt von GQ, einem Männermagazin, das für eine stylishe Sorte Frauenfeindlichkeit steht, die mich ein wenig an old school James Bond erinnert, existieren Heterofrauen fast ausschließlich als das fickbare Andere und lesbische Frauen existieren eigentlich gar nicht.
Ich folgte einem Twitterlink zu einer anderen GQ Story, die inzwischen gelöscht wurde: Eine Geschichte, in der ein Mann uns erzählt, dass er die Sorte Kerl ist, der jede Frau kriegen kann und sich deshalb als neue Herausforderung vornimmt, eine Lesbe zum Hetero zu bekehren. Das gelingt ihm dann wohl auch vier Seiten später. (Ich hab nur den Anfang überflogen und das war ganz und gar so wie du es dir vorstellst: Frauenfeindlich, Stereotypen davon wie Lesben aussehen, und der Anspruch dass Lesben nur Heterofrauen seien, die noch nicht von Mr. Right gefickt worden sind.) Als die ersten Zeichen eines Social Media Shitstorms aufkamen, nahm GQ diese Geschichte vom Netz, und zwar mit dem Argument sie sei schon älter und würde nicht mehr ihre Einstellung repräsentieren. Inzwischen haben sie sogar ein Interview mit der lesbischen Aktivistin Yelena Goltsman online. PR Disaster vermieden? Scheint so.
Natürlich ist die GQ Kampagne nicht in erster Linie eine Werbekampagne für das Magazin, aber die Übergänge sind dieser Tage fließend und ich sehe Parallelen zu einem gewissen Typ von Werbung, die Sozialkritik benutzt. Nimm zum Beispiel die #whipit Pantene Werbung, die sich um geschlechterspezifische Doppelmoral dreht:
http://www.youtube.com/watch?v=kOjNcZvwjxI
Die Botschaft ist: “Don’t let labels hold you back. Be strong and shine.” Nun, so lange das nicht auf die Art von ‘shining’ anspielt, die mit Frauen zu tun hat, die Jack-Nicholson-mäßig mit einer Axt hinter den Labels her sind, die sie zurückhalten, kann ich nicht wirklich sehen, wie ‘Glänzen’ gegen geschlechterspezifische Doppelmoral helfen soll. Einer der Kommentare auf youtube oder facebook dazu war: “Verkaufe dein Produkt indem du deinen angestrebten Markt davon überzeugst, dass du mehr darin investierst zu gefühlsmäßig aufgeladenen, global relevanten (…) Problemen etwas beizutragen, als darin für dein Produkt Werbung zu machen.”
Oder nehmt die ‘Beauty Sketches’ Dove Werbung, ein echter Tränendrüsendrücker:
Beachte dabei, dass Dove genauso wie Axe Teil von Unilever ist, was ein recht nettes Konzept ergibt: Zerstöre die Egos von Frauen mit Axe-Werbung und bau sie dann mit Dove-Werbung wieder auf. Ein Erfolgsrezept seit vielen Jahren. Ich glaube, es ist recht einfach zu sehen, wie der Aspekt der Sozialkritik durch solche Kontexte der Bedeutung entleert oder sogar lächerlich gemacht wird.
Genauso ist bei ‘Mundpropaganda’. Stell es dir als auf Viralität hin produzierte Kampagne vor ein Männer-Lifestyle-Magazin zu verkaufen. An Männer, die Gay Rights unterstützen und an Schwule, aber möglichst ohne die konservativen Heteromänner unter der Leserschaft zu vergraulen.
Wenn sie über Homophobie schreiben, schaffen sie es irgendwie Frauen dabei völlig rauszuschreiben, einfach indem über sie nicht geredet wird. Sie sprechen über Homophobie als beträfe diese nicht auch Frauen und TI*-Leute. Lasst uns auch nicht vergessen, dass es die Sorte Magazin ist, die auf einen gewissen Typ von Mann zielt: Maskulin, selbstsicher, erfolgreich, stylish. Nicht-so-maskulin aussehende, sich benehmende, denkende Männer oder Trans*-Männer sind nicht Teil der GQ Welt. Diese ist so unqueer wie’s nur geht: Eindimensionale heterosexuelle Maskulinität.
Das findet Anklang bei bzw wird sogar als Idealbild von manchen schwulen Männern angestrebt, nicht zuletzt weil das negative Stigmatisieren von ‘schwul’ mit Weiblichkeit verbunden ist. ‘Schwul’ als Schimpfwort kann meist einfach ‘wie ein Mädchen’ ausgetauscht werden. Das Stereotyp des ‘weibischen’ Schwulen ist etwas, womit viele schwule Männer fürchten verglichen zu werden, und vielleicht sind die Fitnessstudio-besessene Muskelschwulenszene ebenso wie die heteronorm-angepassten konservativen Schwulen auch eine Reaktion auf diese Art von Homophobie.
Queere Menschen gibt es aber nun mal in allen Formen und Größen und Farben und aus allen Klassen. Das war eine Stärke der Queer Community und sollte es auch bleiben. Kampagnen wie ‘Mundpropaganda’ können die Kluft zwischen erfolgreichen weißen Männern und dem Rest der LGBTBI* Community vertiefen. Wie Mykki Blanco sagte: “Homophobie kommt von Misogynie, dem Hass auf Frauen. Wenn du die Verbindung zwischen Homophobie und Frauenhass nicht siehst, bist du blind.”
Also, meine lieben egal-wie-auch-immer-sich-als-männlich-definierenden Brüder, wenn GQ sagt, “dieser Mut ist absolut männlich” bitteschön hört auf brav die Fotos dieser Heterotypen anzusabbern, sondern sagt stattdessen: “Suck my left one! Jede queer-feministische Lady da draußen hat mehr Mut gezeigt und mehr zu meinen Gay Rights beigetragen als eure sich-selbst-auf-die-Schultern-klopfende hetero-exklusive Kampagne!”
Bei den Worten des BLM Geschäftsführers fühlte ich mich kurz an einen Teil einer Diskussion auf der Verstärkermesse erinnert; deswegen hier noch ein schnell hingetippter Wurmfortsatz von verkaterten Exkursgedanken.
Thema war bei der Verstärkermessendiskussion die Wertschätzung von Pop- und Livekultur in der Region und in einem Teil der Diskussion ging es auch um ehrenamtlich getragene Kulturarbeit. Dort wurde von seiten des städtischen Vertreters und Steffen (Z-Bau/muz) derselbe – meines Erachtens zynische – Fehlschluss begangen wie hier vom BLM Geschäftsführer Gebrande, nämlich es wurde, als sei es ganz selbstverständlich, gefordert, dass sich doch bitteschön einfach denselben Regeln und Maßstäben unterworfen werden müsse, wie sie für die öffentlich-rechtlichen/städtischen oder kommerziell arbeitenden Counterparts gelten: Wenn sie etwas wollen, dann müssen sie halt mehr Lobbyarbeit betreiben. Um relevant zu sein, müssen sie halt mehr Leute erreichen. Um mehr Leute zu erreichen, müssen sie sich halt mehr Arbeit in Werbestrategien stecken. Ellbogenkultur und Wachstumsorientiertheit are the law. usw. Die einzige Begründung dafür ist letztlich: weil’s halt so ist.
Dabei wird verkannt, dass diese Maßstäbe nur sehr bedingt auf die Arbeit von Community Medien und eben auch auf DIY- oder ehrenamtlich getragene Kulturarbeit übertragbar sind. Da geht es ja eben nicht darum ein besonders breitenwirksames, martkttaugliches oder ein der gerade amtierenden Politikblase angenehmes Konzept und Produkt abzuliefern, sondern es geht darum, die Freiheit zu haben unbequemen und Nischen-Themen ein Podium zu geben. Es geht darum, Freiheiten der dort agierenden zu erhalten, und nicht ihnen eng eingezäunte kontrollierbare Flächen zum Spielen zu geben. Und ganz wichtig: Ihre offenen, freien und basisdemokratischen Strukturen sind wesentlicher Bestandteil dieser Medien- und Kulturarbeit. (Ließe sich das als performativ erklären? Muss ich mit weniger Kater mal drüber nachdenken.) Genau da liegt eben auch der drohende fließende Übergangshund von ehrenamtlichen/DIY Engagement für eine Community zu dem, was gern als Selbstausbeutung bezeichnet wird, begraben. Sobald sich die Strukturen und Arbeitsbedingungen bei solchen Medien- und Kulturinstitutionen so weit verbiegen (müssen/lassen), dass die Aktivist*innen mehr Zeit in Lobbyarbeit, Kampf um Anerkennung, finanzielle Mittel etc. stecken müssen als dass sie noch Zeit für die Arbeit haben, für die sie sich eigentlich ehrenamtlich engagieren wollten, wird aus dem ehrenamtlichen Engagement leicht Selbstausbeutung, bzw. schwindet die Beteiligung, und wird sich so im schlimmsten Fall seiner eigenen Basis entzogen, wie auch seiner Relevanz und Unabhängigkeit.
Wenn der Stadt, dem Staat und der BLM so viel an all dem liegt, wie sie immer gern betonen – ‘Ja mei, ist ja schon allein der Erhaltung und Förderung der Diversity wegen von unglaublicher Bedeutung für uns!’ (lolz) – dann müssen sie dem auch so viel Respekt zollen, dass sie sich aktiv von sich aus dafür einsetzen und es nicht nur als unbequemes, wenig einträgliches und vor allem schwer zu kontrollierendes Sozialromantikding behandeln.
Und weil das Nuclear Raped Fuck Bomb Konzert gestern so großartig intenstiv war, schließe ich mit einem Rachut Zitat:
“Er hat sich angeschlichen, ist lange lange her, hat die Führung übernommen, die meisten mögen ihn. Er schmiegt sich an und wärmt dich, doch sein Feuer kontrolliert nur … Kill Mainstream, kill … Freundlich ohne Reue. Kalt wie irgendwas, dass dir in deinen Nacken beißt. Deine Angst hält dich in Schach, vor irgendetwas Schrecklichem, und nicht nur in der Nacht, und nicht nur in der Nacht …”
Könnte heute gleich noch mal hingehen. Und würde am liebsten echt zu den Kommando Sonne-nmilch Abschiedsshows nach Hamburg fahren.