Zu Holly Jean Bucks ‘Ending Fossil Fuels’ Buch

Ich empfehle in klimapolitischen Diskussionen immer wieder gern Holly Jean Bucks Bücher “After Geoenginering – Climate Tragedy, Repair and Restoration” (Verso, 2019) und “Ending Fossil Fuels – Why Net Zero Is Not Enough” (Verso, 2021), weil ich nichts vergleichbar Gutes kenne, was so komprimiert, informativ, realistisch-utopisch und verschiedene Bereiche in Beziehung zueinander setzend denkt.

Mit “realistisch-utopisch” meine ich, dass sie sehr gut Detailwissen aus den verschiedensten Bereichen daraufhin zusammendenkt, wie sich damit eine wünschenswerte Zukunft nicht nur vorstellen, sondern gar erreichen lassen könnte. Sie schafft, gleichzeitig die Lage nicht zu beschönigen aber mich bei beiden ihrer Bücher mit Hoffnung und Lust auf das Organisieren für eine bessere Zukunft zurückzulassen. Quasi wie der “this is fine!”-Hund als “this still can get fine”-Hund, der vorsichtig mit anderen zusammen, herunterfallende Trümmer vermeidend oder zur Seite schiebend, den Weg aus dem brennenden Raum heraus organisiert.

In “After Geoengineering” setzt Holly Jean Buck dazu zwischen die Sach-Kapitel sogar fiktive utopische Geschichten, um der Theorie auch Fleisch und Alltagsleben einzuhauchen, eine Zukunft vorstellbar zu machen, von der aus wir rückentwickeln können, wie sie am erreicht werden konnte. Könnte? (Futur II ist nicht meine Stärke, weil stark vernachlässigt, aber es sollte vielleicht wieder mehr zum Einsatz kommen. ^^)

Buck steht für mich für einen Ansatz, bei dem verschiedenste kleine und große Anstrengungen ineinandergreifen müssen, um etwas zu bewirken. Sie ist keine Revolutionsromantikerin, sondern sieht die langwierige notwendige (Care-)Arbeit, die in einer besseren Zukunft stecken, deswegen auch ihr starkes Plädoyer für einen planvollen Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen, der neben dem Klima auch Gerechtigkeit auf globaler sowie auf lokaler Ebene zusammenbringt.

Ich tu mir hart, diese Bücher auf ein paar Sätze zu reduzieren, nicht zuletzt wegen eines Zuges für den ich sie auch schätze: Sie arbeitet selten mit harten Abgrenzungen, sondern selbst Punkten, die sie kritisch behandelte, gesteht sie positive Möglichkeiten zu, wenn sie diese Aspekte sieht. Wie schwer mir das Zusammenfassen fällt, hab ich mal wieder gemerkt, als ich kürzlich voreilig in einem Facebook-Comment schrieb, ich würde ein paar Sätze zu ihren Büchern sagen. Ich hab zwei Mal angesetzt und hatte dann wie so oft bei sowas das Gefühl, ich vereinfache so sehr, dass ich dem, wofür ich die Bücher schätze, nicht gerecht werde.

Deswegen bekommt ihr hier nun eine längere Zusammenfassung von “Ending Fossil Fuels”, die eine minimal gekürzte Version dessen ist, was ich mit Tobias Lindemann für Radical Utopias erarbeitet habe. Wers lieber anhört als liest, hier ist die Folge auf YouTube.

“Radical Utopias – Training For A Complicated Future” ist unsere Reihe für Buchvorstellungen und utopiasche politische Diskussionen, in der wir Bücher, die wir dazu spannend finden, zusammenfassen, um ein Gespräch dazu anzufachen. Impuls war für mich da, dass Bücher, die ich spannend finde, oft nicht oder erst ewig später auf deutsch erscheinen, hier mehr Info und die alten Folgen zum Nachgucken.


Ending Fossil Fuels hat drei Teile:

Im ersten Teil, den ich hier am knappsten abhandle, wird die Vision der “Netto-Null” als ein zu vage formuliertes Ziel auseinandergenommen. Sie ist z.B. problematisch, weil CO2-Rückbindung, vor allem die mit flächenintensiven Projekten wie Aufforstung oder Sequestrierung in Landwirtschaft, die bald an ihre Grenzen stoßen dürften. Es wird dort entkarbonisiert, wo es am leichtesten ist, statt in den Bereichen, wo es am nötigsten ist, und der Ausstieg aus den Fossilen wird verlangsamt, weil so getan wird, als würde ein Ausgleich durch CO2-Handel reichen können statt einer CO2-Bepreisung als Marktmechanismus. Im Netto-Null Konzept wird auch keine Verantwortung für Gesundheitswesen (z.B. 2018 gab es 8.7 Mio Tode durch Luftverschmutzung durch fossile Brennstoffe) und Umweltgerechtigkeit (People of Colour und Arme bekommen am meisten Schäden ab) übernommen. Es wird durch Lobbyarbeit die Förderung alternativer innovativer Technologien erstickt.

Buck fragt sich, ob die Netto-Null nicht eine kollektive Täuschung, ist ein Fetisch einer von Vermessung und Quantifizierung bestimmten Welt. Buck schlägt statt “Netto-Null” “Phaseout of fossil fuels” (Ausstieg aus fossilen Brennstoffen) als Diskursbegriff vor, für den komplexen Tanz zwischen Abschaffung von fossilen Brennstoffen und Förderung und Aufstockung alternativer Energieformen und CO2-Sequestrierung. Und es geht Buck dabei auch um eine Neuausbalancierung von Macht. Sie zieht Studien heran, die zeigen wie die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern korrupten und autoritäre Regimen nutzt und der planvollen Ausstieg aus Fossilen kann für Buck auch zur Verhinderung geopolitischen Konflikten um Ölreserven oder Gas-Pipelines beitragen. Risiken sieht sie bei Unterversorgung von Communities durch steigende Preise oder Kapazitätsreduzierungen, was zu politischen Konflikten und Destabilisierung von Staaten führen kann. Oder auch ein “pump and panic”, bei dem Konzerne vor Einschränkung des Marktes noch mal möglichst viel Kapital aus den Vorkommen schlagen wollen.

Buck ist deswegen die Perspektive wichtig, dass der Ausstieg nicht nur ein Problem ist, sondern verschiedene Probleme. Deswegen bringt sie im zweiten Teil dann fünf verschiedene Linsen, durch die ein planvoller Ausstieg aus den Fossilen zu betrachten wäre

1. Kultur

Da gehts darum, wie zentral Öl für das 20. Jahrhundert war, wie es für Freiheit und endloses Wachstum stand, für individualisierte Macht usw. Das geht bis tief in die Sprache und hat eine Kultur geschaffen, die mies darin ist, Dinge zu beenden und das nicht als Versagen zu sehen. Es gibt auch eine Kultur der “Petronostalgie”, für die neue autoritäre Bewegungen stehen, und die Nähe von Frauenfeindlichkeit und Klimaleugnung wird mit dem Begriff “Petro-Maskulinität” gefasst. Buck stellt sich da die Frage, wie sich da durchdringen lässt und sieht eine Möglichkeit darin, die Klimabewegung in einen Dialog mit politischen Post-Arbeit oder Anti-Arbeit-Traditionen zu bringen. Wenn fossile Brennstoffe nicht mehr für solide Jobs stehen, fallen ein Haufen Argumente weg. Und die Anti-Arbeit-Bewegungen könnten dem Umweltaktivismus helfen, nicht mehr nur für Verzichtskultur zu stehen, sondern eine alternative politische Vision der Freude und des Genusses herzustellen.

Buck sieht die ganze Kultur der Innovation eigentlich als eine der konstanten Sorge darum, zurückgelassen zu werden: Es ist eine Rhetorik der Angst verkleidet in eine Sprache des Optimismus. Das Problem an diesem Innovationsmindset ist auch, dass es zu einer Abwertung von Instandhaltung und Pflege, geführt hat, mit desaströsen Ergebnissen. Dagegen sieht sie es als nötig, eine Kultur des Planens zu setzen. Da geht sie kurz auf die russische Planwirtschaft des 19. Jahrhunderts ein: Dass es kein schrittweises Ausrollen einer Strategie war, den Markt zu ersetzen, sondern dass da stückweise etwas, oft in Reaktion auf Zusammenbrüche, angegangen wurde. Die logistischen und buchhalterischen Prozesse des wirtschaftlichen Planens, die da geschaffen wurden, wie der 5-Jahres-Plan, wurden von kapitalistischen Konzernen adaptiert und werden bis heute verwendet. Das sozialistische Planen wurde in den 1930ern und Vierzigern zu einer breiteren Idee, die Gesundheit, Wohnen, soziale Sicherheit, Stadtplanung und wirtschaftliches Planen umfasste. Das änderte sich, als nach dem 2. Weltkrieg das wissenschaftliche, rationale Planen aufkam. Es entwickelte sich zu einem Mashup regionaler Planung, in dem es um Landnutzung, Wohnraum, Verkehr, Umwelt- und Entwicklungsplanung ging, aber wirtschaftliche Planung rausfiel. Neoliberalismus trieb das dann noch weiter: In den 1980ern ging es darum, Planwirtschaft zu liberalisieren, quasi den Markt zu befreien und zu einer Marktwirtschaft zu gelangen.

Die Gegenkultur der 68er half hier mit: Die Kultur des Planens wurde als zu technokratisch, elitär, zentralisiert und bürokratisch betrachtet. Bis heute wird Planwirtschaft mit einer diffusen Angst vor totalitärer Herrschaft und dem Verlust individueller Freiheit verbunden, obwohl demokratisches Planen natürlich möglich ist. Das braucht allerdings nicht nur eine technokratische Reform, sondern eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Beziehungen und Strukturen. Buck sieht die Möglichkeit, dass der Green New Deal könnte so ein Framework werden könnte: Ein Planungsregime, das öffentliche Ausgaben ebenso beinhaltet wie einen Fokus auf Machtstrukturen und die Situation Marginalisierter. Um den nötigen kulturellen Umbruch hinzubekommen, braucht es auch den Beitrag von Erziehung, Medien und Kunst, die Planen zu etwas Coolem machen können, ein “Mainstreaming” des Planens quasi. Und es müssen Institutionen für demokratisches Planen geschaffen werden, um Teilnahme oder Delegation zu ermöglichen, jenseits von McKinsey Beratung und Black-Box Plattformen.

2. Geopolitik

Um die Geopolitik des Ausstiegs aus fossilen Brennstoffen zu verstehen, müssen wir verstehen, wer auf Öl angewiesen ist und wer die Fähigkeit hat, auf andere Energiequellen umzusteigen. Es sind gerade einige der am wenigsten entwickelten Länder der Welt, die derzeit planen, die Fossilen als Hebel für ihre wirtschaftliche Entwicklung einzusetzen und auszubauen, weil sie ihre Exporte noch nicht diversifiziert haben. Dazu brauchen sie die Technologie und Finanzierung der großen internationalen Ölfirmen. Es könnte dadurch zu einer Situation kommen, in der der globale Norden nachbegrünt und sich für die Netto-Null feiert, während in der ärmeren Hälfte der Welt weiterhin massiv in die Ölindustrie gepumpt wird. Buck führt hier einiges zu den Besonderheiten US-amerikanischer, saudi-arabischer und russischer Wirtschafts- und Energiepolitik aus, und zu den Schwierigkeiten eines fairen Umstiegs. Ghana zum Beispiel ist ebenso auf die Ölindustrie fixiert wie Russland oder Saudiarabien, aber ist so winzig, dass es sinnvoll sein könnte, es um der Klimagerechtigkeit willen erst mal weiterproduzieren zu lassen, währen es bei den großen Staaten ein echtes Problem darstellen würde. Für Länder des armen Südens wie Nigeria gibt es Diskussionen um einen Schulden-Klima-Austausch: eine Kompensation, die angemesssen ist, weil der Norden das Problem ja zum Hauptteil verursacht.

Es zeigt sich, so Buck, dass der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen eine globale Anstrengung mit lokalen Nuancen sein muss. Es braucht detaillierte, ortsspezifische, gerechtigkeitsbewusste Planungen, die zusammen mit lokalen Expert*innen und Gemeinden diese Diskussion aufs nächste Level heben. Buck fordert, dass unser westlicher Klimaaktivismus sich stärker mit der Außenpolitik unserer Länder befassen muss. Da ist noch vieles in Sachen Wissen, Vernetzung und Solidarität nachzuholen. Und wir sollten lauter fordern, dass die reichen Länder die Transition zu sauberer Energie rund um die Welt mittragen, nicht nur in ihrer Nachbarschaft. Der Blick durch die Linse der internationalen Beziehungen gibt uns die Fähigkeit von einer lokalen gerechten Umstellung zu einer globalen zu gelangen.

Was bringt uns dieser Blick durch die kulturelle Linse auf das Problem? Empathie und einen Blick für Techniken für Transformation vor und über Regulierungen hinaus.

3. Infrastruktur

Der geplante Ausstieg sollte auch durch die Brille der Infrastruktur gesehen werden. Damit zum Beispiel Windenergie einen wirklich maßgeblichen Teil zur Energiegewinnung beiträgt, braucht es verdammt viel Landfläche für die Turbinen. Wäre es da nicht doch sinnvoller, die alten Kraftwerke weiterlaufen zu lassen und für einen Emissionsausgleich zu sorgen? Natürlich nicht, denn das würde nicht reichen, um die angestrebten Klimaziele zu erreichen, aber: es klingt so gut. Umgekehrt wird das Ausrangieren der alten Infrastruktur gern als ein “Erleiden” beschrieben, als wäre nicht schon das Errichten davon im Wissen um die Klimalage ein Fehler gewesen: Es wird von “vorzeitigem” Schließen geredet und von “gestrandeten” oder “verlorenen” Kapitalanlagen.

Sehen wir uns die Infrastruktur der fossilen Brennstoff-Industrie mal genauer an, gibt es drei Teile: Vorgelagerte Aktivitäten wie Erforschung und Extraktion, alles was mit den Reserven unter der Erde zu tun hat. Dann gibt’s Transport, wozu Pipelines, Zugstrecken, Schiffe usw gehören. Und es gibt die nachgelagerten Operationen wie Ölverarbeitung, Distribution wie an Tankstellen und Kraftwerke. Dank dem Niedergang der US Stahlindustrie in den 1970er und 80ern, und weil schon so viele Kraftwerke wegen Überalterung schließen mussten, gibt es schon genug Wissen über so eine große Deindustrialisierung und es lässt sich planvoll vorgehen statt einfach blindlings in Negativfolgen hinein zu laufen. Um Verzögerungen vorzubeugen, sollten alle beteiligten Interessengruppen gemeinsam einen Schließungsplan erarbeiten, der Punkte wie Finanzierung und Ersatzenergie, Auszahlung von Anleihen, einen Übergangsplan für Arbeiter*innen, und Kompensation für die allgemeine Öffentlichkeit enthält. Ein Ausstieg ohne dass viele Schaden nehmen, muss gut geplant sein.

Als unterliegende Frage zieht sich durch, wer für einen Fehler zahlen sollte. Wenn wir nach kapitalistischer Logik entscheiden, sollten die Konzerne, die in vollem Wissen schlechte Entscheidungen getroffen haben, einfach hängengelassen werden. In anderen Bereichen schützen wir solche Firmen ja auch nicht. Warum sollten fossile Brennstoffe etwas Besonderes sein? Egal, wie wir diese Frage aber beantworten: Klar sollte sein, dass unser Fokus darauf liegen sollte, Menschen vor den schlechten Entscheidungen zu schützen, die Unternehmensleitungen treffen. Und wenn wir sie eh schon finanziell retten müssen, dann doch bitteschön lieber früher als später, wenn noch mehr Klimaschaden erfolgt ist.

Buck stellt auch fest, dass es interessant ist, dass anzunehmen wäre, das ein Thema wie Infrastruktur sehr klinisch betrachtet werden könnte, aber tatsächlich in diesem Diskurs eine sehr emotionale Sprache geführt wird und die Zuhörenden immer wieder zu einer Identifikation mit der Infrastruktur gebracht werden sollen: Kraftwerke und ihre Besitzer sind darin die Sympathieträger statt die Leute, die geliebte Menschen an Luftverschmutzung durch fossile Brennstoffe verloren haben und noch mal: Das waren zum Beispiel allein 2018 8.7 Millionen Tote. Auf der anderen Seite sollte der Ton aber natürlich auch nicht zu jubelnd oder zu klinisch kalt ausfallen, da die Schicksale ganzer Gemeinden an solchen Unternehmen hängen. Insgesamt lässt uns die Betrachung des Problems durch die Linse der Infrastruktur einen räumlichen Blick dafür gewinnen, mit Bezug zu den menschlichen Geographien von Arbeiter*innen und Ökonomien.

3. Geopolitik

Um die Geopolitik des Ausstiegs aus fossilen Brennstoffen zu verstehen, müssen wir verstehen, wer auf Öl angewiesen ist und wer die Fähigkeit hat, auf andere Energiequellen umzusteigen. Es sind gerade einige der am wenigsten entwickelten Länder der Welt, die derzeit planen, die Fossilen als Hebel für ihre wirtschaftliche Entwicklung einzusetzen und auszubauen, weil sie ihre Exporte noch nicht diversifiziert haben. Dazu brauchen sie die Technologie und Finanzierung der großen internationalen Ölfirmen. Es könnte dadurch zu einer Situation kommen, in der der globale Norden nachbegrünt und sich für die Netto-Null feiert, während in der ärmeren Hälfte der Welt weiterhin massiv in die Ölindustrie gepumpt wird. Buck führt hier einiges zu den Besonderheiten US-amerikanischer, saudi-arabischer und russischer Wirtschafts- und Energiepolitik aus, und zu den Schwierigkeiten eines fairen Umstiegs. Ghana zum Beispiel ist ebenso auf die Ölindustrie fixiert wie Russland oder Saudiarabien, aber ist so winzig, dass es sinnvoll sein könnte, es um der Klimagerechtigkeit willen erst mal weiterproduzieren zu lassen, währen es bei den großen Staaten ein echtes Problem darstellen würde. Für Länder des armen Südens wie Nigeria gibt es Diskussionen um einen Schulden-Klima-Austausch: eine Kompensation, die angemesssen ist, weil der Norden das Problem ja zum Hauptteil verursacht.

Es zeigt sich, so Buck, dass der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen eine globale Anstrengung mit lokalen Nuancen sein muss. Es braucht detaillierte, ortsspezifische, gerechtigkeitsbewusste Planungen, die zusammen mit lokalen Expert*innen und Gemeinden diese Diskussion aufs nächste Level heben. Buck fordert, dass unser westlicher Klimaaktivismus sich stärker mit der Außenpolitik unserer Länder befassen muss. Da ist noch vieles in Sachen Wissen, Vernetzung und Solidarität nachzuholen. Und wir sollten lauter fordern, dass die reichen Länder die Transition zu sauberer Energie rund um die Welt mittragen, nicht nur in ihrer Nachbarschaft. Der Blick durch die Linse der internationalen Beziehungen gibt uns die Fähigkeit von einer lokalen gerechten Umstellung zu einer globalen zu gelangen.

4. Code

Im nächsten Abschnitt richtet Holly Jean Buck unseren Blick auf Beziehungen zwischen Digitalität und dem Ausstieg aus fossilen Brennstoffen. Visionen von der Netto-Null hängen daran, eine Art von planetarem Computer herzustellen. Das wird selten explizit so gesagt, aber ist eigentlich klar, denn irgendwie muss ja mit Emissionsmessungen usw. berechnet werden, wann ein Netto-Null-Status erreicht wird und die großen Plattformen dürften alle heiß darauf sein, dabei zu sein.

Helle Köpfe von Harvard, MIT, DeepMind, Google AI, Microsoft Research und anderen haben sich schon für ein Paper mit 111 Punkten zusammengetan, um festzuhalten, wie sich der Klimawandel mit Machine Learning bekämpfen ließe, z.B. kann Machine Learning intelligente Netzwerke ermöglichen, Vorrat und Bedarf vorhersagen, um bestimmen zu helfen, was für Energiekraftwerke gebaut werden sollten, Wetter in die Planung von Erneuerbaren einberechnen, Speicherplätze für Kohlenstoff identifizieren und managen, Satelliten dazu verwenden Emissionen zu messen, geteilte Mobilitäts-Services ermöglichen, Frachtrouting und Logistik, das Heizen und Kühlen industrieller Einrichtungen optimieren, präzise Landwirtschaft antreiben, Wiederbewaldung automatisieren, Kohlenstoffpreise vorhersagen und Kohlenstoffmärkte designen helfen und vieles mehr. Buck findet das eigentlich Interessante an dem Papier, wie unterentwickelt viele der Ideen erscheinen: Viele sind eher spekulativ als dass sie Entwicklungen beschreiben, die schon Fuß gefasst haben. Den Grund für die Unausgereiftheit der Technologien sieht sie nicht in deren Unmöglichkeit, sondern darin, dass derzeit kein offensichtlicher Profit aus dem Monitoring der Erde und der Kohlenstoffflüsse zu schlagen ist. Aber das ändert sich langsam, das Interesse des Venturekapitals steigt inzwischen massiv.

Bevor diese Infrastruktur designed wird, sollte allerdings beantwortet werden, was für Daten oder Kapital die Plattformen unterwegs extrahieren sollen. Wer ist das Subjekt bei der Kohlenstoffplattform, welche Beziehungen stellt sie her oder löst sie auf? Derzeit sind unsere Online-Netzwerke auf einem System von personalisierter Werbung aufgebaut, beruhen auf einem mentalen Modell aus der Finanzwelt. Wir sollten es nicht zulassen, dass die Kohlenstoffflüsse so beobachtet und gehandelt werden wie unsere Aufmerksamkeit jetzt. Es kann gut passieren, dass Microsoft oder Google die ersten Startups für ökologisches Sensing und Modeling aufkaufen und es damit endet, dass diesen Konzernen die ganze Infrastruktur gehört. Für eine bessere Alternative verweist Buck auf Benjamin Brattons The Terraforming, das wir auch schon in unserer Radical Utopias Reihe diskutiert haben. Wir brauchen das planeten-weite Computing und ökologische Messungen, aber wir brauchen sie in öffentlicher Hand und müssen sie auf öffentliche Ziele richten.

Ebenso wahrscheinlich ist allerdings, dass sich Big Tech und Big Oil zusammenschließen. Microsoft hat schon Interesse gezeigt und Geld investiert, um Kohlstoffmanagement und Emissionmärkte zu erschließen, und es will bis 2030 kohlenstoffnegativ sein, aber gleichzeitig stellt Big Tech genau die Infrastruktur, die Ölkonzernen hilft, ihr Geschäft effizienter zu verrichten. Aber es bedarf fähiger Plattformen für den Austausch von Emissionen und Kohlenstoffentfernung, und es ist schwer vorstellbar, dass Amazon, Google und Microsoft da nicht dabei wären. Und es ist ja auch fantastisch, dass mit Infrastruktur wie der von Amazon als Planungswerkzeug heutzutage eine demokratisierte Planwirtschaft tatsächlich vorstellbar ist.

Durch die Linse von Code über unser Problem, wie wir die fossilen Brennstoffe abschaffen können, zu blicken, ermöglicht uns darüber nachzudenken, wie Technologie hilft, das zu verwalten, was auf der anderen Seite der Abschaffung sein könnte. Die Infrastruktur der Fossilindustrie durch Datenzentren ersetzt Arbeiter*innen, die in die Wissensökonomie wechseln. Aber es könnte alles auch entsetzlich werden, wenn wir uns angucken, wie in der Vergangenheit Big Tech und Big Oil schon verflochten sind, denn es bleibt klar: Wir brauchen die Technologie, aber sie muss reguliert werden. Die Frage, wie das geschehen soll, und ob das Überführen in die öffentliche Hand machbar und effektiv sein kann, muss ernsthaft als Option geprüft werden und braucht ebenfalls einen gut geplanten Ausstieg.

5. Politische Macht

Im letzten Abschnitt dieses Teils geht Holly Jean Buck darauf ein, wie wir die politische Macht erringen können, die es braucht, um den Ausstieg aus den Fossilen zu forcieren. Es reicht nicht, unser Meinung kundzutun und es reicht nicht, wenn Regierungen erst in Krisenmomenten reagieren, sondern für einen planvollen sozial gerechten Ausstieg braucht es Planung und um zu den Manager*innen des Ausstiegs zu werden, muss politische Macht errungen werden. Dazu geht sie auf drei Beispiele ein, aus denen wir lernen und Mut schöpfen können: Plastik, giftige Chemikalien und Tabak, die alle drei bis zu einem gewissen Grad erfolgreich eingedämmt wurden.

Die Abschaffung der Plastikbeutel zeigt, wie weit es eine Bewegung von unten mit vielen lokalen Ursprüngen statt einer großen transnationalen Kampagne bringen kann. Fragen, wie die danach, was als Ersatz sinnvoll ist, oder dass der Fokus auf einzelne Produkte wie bei der Abschaffung von Strohhalmen vom größeren Problem ablenken können, sind auch für die Abschaffung der fossilen Brennstoffe wichtig. Die Lektion aus der Abschaffung von FCKW ist, dass öffentliche Meinung und große langanhaltende Verhandlungen Wirkung zeigten, ebenso wie das öffentliche Anerkennen der wissenschaftlichen Fakten dazu und das Zusammenwirken informeller Netzwerke für die Verhandlungen. Beim dritten Beispiel, Tabak, gab es wie bei den fossilen Brennstoffen eine Debatte, ob es eine komplette Abschaffung oder Kontrolle des Wann, Wo und Wie der Verwendung geben sollte.

Interessant ist, dass alle Beispiele mindestens zehn Jahre früher Arbeit brauchten, bevor sie überhaupt ernstgenommen wurden, und dass ein Aufmerksamkeitshöhepunkt und der Punkt, an dem sich eine neue kulturelle Norm herausbildet, noch nicht mit Erfolg verwechselt werden darf. Gerade da braucht es noch mal eine große Kraftanstrengung.

Es sollten auch die Unterschiede bedacht werden, zum Beispiel dass über fossile Brennstoffe schon viel diskutiert wird und neben der Industrie auch ein Dialog mit dem Klimawandel-Komplex der Think Tanks, Nachhaltigkeitsindustrie, NGOs usw. nötig ist, die schon an Regulierungen rund um Netto-Null arbeiten.
Ein weiterer Punkt in Sachen politische Macht ist die Kluft zwischen Stadt und Land, die Buck als nächstes anspricht. Wie lassen sich die Menschen in ländlichen Gegenden überzeugen, die gar nicht einsehen, warum sie Windräder auf ihre Felder stellen sollten, die dann einer Elite von Städtern zu gute kommen? Buck greift hier Xiaowei Wangs Konzept der “Metronormativität” auf, um klarzustellen, dass wir das Verständnis von der Stadt als Kern und dem Land als Peripherie oder bloßes Anhängsel aufbrechen müssen, da dies in ländlichen Regionen oft einen dunklen Populismus schürt. Ein Green New Deal, der auch tatsächlich den ländlichen Gegenden zugute kommt, wäre eine verbindende Perspektive, ebenso wie ein anti-monopolistischer Ansatz, der sich gegen die große Industrie stellt.

Der Blick auf das Problem des fossilen Ausstiegs durch die Linse der politischen Macht gibt uns ein Gespür dafür, was an organisatorischer Arbeit nötig ist, und weitere Themen an die Hand. Wir brauchen einen Ansatz, der all diese Fronten vorantreibt: die Infrastruktur, die kulturelle Veränderung, die Geopolitik, den Code und die politische Macht von unten.

Im dritten Teil des Buchs versucht Buck eine “Ausstiegs-Toolbox für die 2020er” zu entwerfen. Wie könnten konkrete Schritte zur Beendigung der Nutzung fossiler Energieträger aussehen? Holly Jean Buck ist sich sicher, dass es sehr unterschiedliche, große und kleine Maßnahmen sein werden. Doch was ist dazu nötig? Braucht es Militanz, wie etwa der Aktivist und Soziologe Andreas Malm argumentiert? Schließlich war diese auch nötig in den Kämpfen gegen Versklavung, in der Bürgerrechtsbewegung der USA oder beim Kampf der Suffragetten um Gleichberechtigung.

Auch wenn sie Aktivismus essenziell findet im Vorgehen gegen den Klimawandel um politische Möglichkeiten zu schaffen, konzentriert sich Buck bei ihrer “Toolbox” auf Ideen, die durch Regierungsprogramme, Gesetze oder wirtschaftliche Anreizprogramme umgesetzt werden können und liefert keine aktivistische Toolbox. Sie zitiert The Red Nation: “Wir ‘machen’ nicht nur Revolution, sie muss hergestellt werden. Sie muss organisiert werden. Es kein fortdauernder Aufstand auf den Straßen sein.” Buck geht es darum, was einen Aufstand begleiten muss: Die planvolle bedachte Organisation dessen, wohin wir wollen. Sie nennt fünf Punkte, die sie in eine grobe Reihenfolge bringt, in der sie sich gegenseitig am wirkungsvollsten verstärken könnten.

1. Moratorien, Verbote und Verweigerung der Finanzierung

Es braucht Abkommen und Gesetze um den Fossil-Ausstieg voranzutreiben. Buck ist für Verbote der Erkundung von Vorkommen, des Abbaus und der Förderung sowie des Exports dieser. Ein Verbot der Erkundung von Öl- und Gasvorkommen wäre ein guter Start, da es ein starkes Signal aussendet. Ein Moratorium der Förderung ist ein drastischerer Schritt, immerhin haben diesen aber einige Länder bereits durchgesetzt, z. B. Frankreich, Belize und Costa Rica. Ein Verbot zur Weiterverarbeitung gibt es bisher nur auf lokaler Ebene, in den USA z. B. im Staat New York. Immerhin laufen international bereits 106 Moratorien in 22 Staaten, was schon mal widerlegt, dass sie unmöglich wären. Auf länderübergreifender Ebene wird es schwieriger, daher ist es notwendig, klare Regelungen zu schaffen, denen auch transnationale Konzerne unterliegen. Bisher mangelt es an diesen.

2. Zuschüsse einstellen

Durchschnittlich fördern Regierungen die Fossilbrennstoffindustrie doppelt so stark wie die erneuerbaren Energien. Das muss sich schnell ändern. Doch die Politik tut sich schwer damit, schließlich möchte kaum eine Regierung die unpopuläre Entscheidung für höhere Energiepreise fällen. Diese Förderung passiert häufig auf Arten, die nicht sofort erkennbar sind, z.B. durch Steuernachlässe oder die günstige Überlassung von Landflächen. Daran etwas zu ändern wäre nicht nur für das Klima gut, viele dieser mehr oder weniger versteckten Fördermaßnahmen sind auch sozial ungerecht oder schaffen Wettbewerbsvorteile für große Firmen.

Das Gegenargument, die Reform der Förderung würde dem freien Markt huldigen, lässt Holly Jean Buck nicht gelten. Organisationen wie das Internationale Institut für nachhaltige Entwicklung haben längst Pläne entwickelt, wie eine sozial gerechte Umstrukturierung aussehen könnte.

3. Erlaubnis zur Gewinnung

Buck gibt zu, dass es ab diesem Punkt komplizierter wird. Es ist nötig, die Gewinnung und Produktion herunterzufahren, aber wie? Die meisten bisherigen Abkommen berücksichtigen nur die Emissionen. Eine Möglichkeit, die Produktion finanziell uninteressanter zu machen, wäre eine höhere Besteuerung, doch besteht hier immer die Gefahr, dass Energie teurer wird und die soziale Ungerechtigkeit steigt.

Sinnvoller wäre es, die Gewinnung von fossilen Energieträgern an eine Erlaubnis zu binden, die nicht endlos oft ausgestellt werden kann. Somit könnte eine Gesamtfördermenge kontrolliert und Schritt für Schritt eingeschränkt werden. Regelungen dieser Art gibt es bereits, z. B. seit Ende des 19. Jahrhunderts in Texas. Dort bestimmen gewählte Gremien, wo Öl oder Gas gefördert werden darf. Bisher wird dieses Instrument der Förderquoten nicht unter Klimagesichtspunkten eingesetzt, aber dies ließe sich ändern. Bei Grundnahrungsmitteln wie z. B. Rohzucker, Milch oder Butter sind hierzu längst Verfahren installiert, sie sorgen für Preisstabilität und regulieren die landwirtschaftlichen Ressourcen. Für das Instrument der Quotierung bräuchte es jedenfalls transparente Regeln und Vergabeverfahren, um Korruption zu verhindern.

Eine Quotierung der Produktion auf internationaler Ebene könnte etwas ermöglichen, was nicht nur Holly Jean Buck, sondern auch andere Denker*innen zum Thema Klima immer wieder andenken: eine durch AI gestützte, detailliert Überwachung der Produktion klimaschädlicher Güter.

4. Vergesellschaftung zum Ausstieg

Für wesentlich effizienter hält die Autorin allerdings die Vergesellschaftung der Energiekonzerne, so ließen sich auch Quotierungen leichter umsetzen. Den Ruf danach gab es vermehrt nach der Finanzkrise 2008, als die Regierungen weltweit Geld druckten um die Banken und damit auch die Konzerne zu retten. In der Coronakrise sind diese Rufe wieder lauter geworden, war durch den zwischenzeitlich stark gesunkenen Ölpreis die Branche doch stark angeschlagen.

Historisch gesehen, sind staatliche Eingriffe und Vergesellschaftungen keine Seltenheit, selbst in den USA. Beispiele sind die Zerschlagung des riesigen Rockefeller-Ölimperiums, die Verstaatlichung der Eisenbahnen sowie Eingriffe während der Weltwirtschaftskrise und auch 2008 und 2009 nach der Finanzkrise. Viele dieser Vergesellschaftungen waren temporär, in der Klimakrise müssten sie dauerhaft sein. Für besonders sinnvoll erachtet Buck nach einer staatlichen Übernahme die Schaffung eines Solarenergie-Fonds, mit dessen Hilfe dann ein staatliches Programm für erneuerbare Energien direkt in die Tat umgesetzt werden könnte.

Natürlich ist das Prinzip der Verstaatlichung nicht frei von Risiken. Was passiert z. B., wenn ein reaktionärer, den Klimawandel leugnender Präsident wie Trump gewählt wird? Bei einer Übernahme müsste also ein bindendes Ausstiegsabkommen aus der fossilen Energiegewinnung unterzeichnet werden, um eine Reprivatisierung zu verhindern. Bezahlbar wäre es durchaus: eine Untersuchung stellte 2017 fest, dass die 25 größten Öl- und Gasfirmen der USA 1,15 Billionen Dollar kosten würden. Die Kriege im Irak und Afghanistan kosteten geschätzt zusammen 4 bis 7 Billionen Dollar – und wurden ja auch finanziert. Wenn man dazu bedenkt, wieviel Geld aufgebracht werden wird, um in der Zukunft durch das Klima verursachte Schäden zu reparieren, wird die Idee immer attraktiver. Eine arbeiter*innen-zentrierte CO2-Removal-Industrie in öffentlicher Hand ist eine dringendes politisches Projekt.

5. Reverse Engineering

Der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen könnte die zugehörige Industrie irgendwann überflüssig machen. Holly Jean Buck sieht da aber eine Chance: Wenn die Konzerne nicht mehr ihrer ursprünglichen Aufgabe nachgehen können, sind sie trotzdem technologisch und personell in der Lage, an der Aufhaltung des Klimawandels mitzuwirken. Geologische Forschung, Tiefenbohrungen, Pipelines, Großlager, Tankschiffe: die Öl- und Gasindustrie unterhält eine riesige Infrastruktur, die für die Einlagerung von CO2 genutzt werden könnte. In Bereichen wie der CO2-Filterung aus der Luft entsteht eine neue Art Verwertungskette, die in großem Maßstab geplant und umgesetzt werden muss, auch dies wäre möglich. Das Schlagwort hierfür wäre “Reverse Engineering”.
Doch ohne Vergesellschaftung wäre dies nicht machbar, denn für einen Umbau bräuchte es enorme staatliche Unterstützung, die in privater Hand in dieser Form nicht passieren würde. Zugleich könnte die Allgemeinheit von den Einnahmen dieser verstaatlichten Konzerne profitieren, wenn die Umstellung gelungen ist. Es geht also, so Buck, nicht um Moleküle, die aus dem Boden gewonnen oder dort belassen werden, auch nicht darum, solche Konzerne zu zerschlagen – im Gegenteil, wir brauchen sie. Stattdessen geht es grundlegend um die Gestaltung unserer gesellschaftlichen Beziehungen, einer demokratischeren Verwaltung.

Im abschließenden Resümée ist sich Holly Jean Buck sicher, dass wir in diesem Jahrzehnt nicht die Lösung gegen den Klimawandel finden werden – aber es müssen wichtige Weichen gestellt und die Planungen vorangetrieben werden. Dazu müssen wir auch eine neue Art finden, über diese Prozesse nachzudenken und zu sprechen. Wir müssen Konzepte der Vergesellschaftung vorantreiben, die nötige Infrastruktur für die anstehenden Aufgaben erforschen und die Rolle von Energiekonzernen überdenken. In all diesen Prozessen ist das Konzept der “Netto-Null” wenig hilfreich, trifft es doch keine Aussage über kulturelle, wirtschaftliche und soziale Veränderungen, die dringend nötig sind. Die technischen Maßnahmen, mit denen wir dem Klimawandel begegnen können, sind nur da, um uns Zeit zu geben, tiefere Veränderungen vorzunehmen und dabei unseren Umgang mit Rohstoffen, Natur und Arbeit neu zu definieren.

Holly Jean Buck gibt uns hierfür fünf Ideen mit auf den Weg, die wir in unserem Umfeld diskutieren sollten:

1. Die Netto-Null ist das falsche Ziel für den Klimakampf, sie lenkt die Aufmerksamkeit weg von der Produktion, hin zu den Emissionen. Besser wäre es, die Gewinnung von fossilen Brennstoffen möglichst schnell und gut geplant auslaufen zu lassen.

2. Plattformmacht ist eine Macht für Veränderung. Das System der sozialen Medien, wie es jetzt angelegt ist, führt zu Polarisierung und macht uns anfällig für kollektive Täuschungen. Soziale Medien sind aber eine wichtige Informationsinfrastruktur und sollten deshalb vergesellschaftet werden.

3. Klimaschützer*innen müssen vorausschauender denken, um den Ausstieg aus den Fossilen und die Schaffung sauberer Energie-Infrastruktur zu planen. Sie müssen Entwicklungen wie die Entzauberung von erneuerbaren Energien oder Kampagnen für “saubere” fossile Brennstoffe vorhersehen und ihnen offensiv begegnen.

4. Es gibt große Risiken beim Auslaufenlassen fossiler Brennstoffe, aber die Vorteile überwiegen. Es muss offensiv über autoritäre Politik, Korruption, Ausbeutung und Unterdrückung gesprochen werden, die durch fossile Brennstoffe entstehen.

5. An das Auslaufenlassen muss multidimensional herangegangen werden. Kulturelle Transformationsprozesse müssen mitgedacht werden, globale und lokale Auswirkungen müssen gleichzeitig betrachtet werden. Eine demokratische Planung ist nötig, die von den fossilen Energieträgern auch auf andere Bereiche übertragen werden kann, in denen Menschen und Umwelt ebenfalls Schaden nehmen. Die Fähigkeit, Dinge zu beenden, ist zutiefst emanzipatorisch.

Ein paar Gedanken zur Impflicht und jetzigen Lage

Ich denk mal wieder laut in diesen Blog hinein. Was mich verwirrt: Bei “Impfpflicht” haben manche gleich ein Bild vor Augen, wie Menschen von Polizisten aus dem Haus gezerrt und gewaltsam geimpft werden. Ich ja nicht. Impfpflicht in der Praxis ist doch eher eine Zugangsregelung: Ich muss bestimmte Kriterien erfüllen, damit mir Zugang zu einem gesellschaftlichen Bereich gewährt wird, weil ich sonst das Wohl anderer oder meins in Gefahr bringe. So ist es doch zumindest bei der Masernimpfpflicht, siehe z.B. hier

Deswegen verstehe ich auch nicht, warum 2G-Zugangsregulierungen von manchen als “Impfpflicht durch die Hintertür” bezeichnet werden, als würde damit ein geheimer Plan von ‘denen da oben’™ enthüllt. Da ist doch nichts geheim dran. 2G lässt sich doch ganz klar als eine Form von Impfpflicht verstehen, oder nicht?

Diese Gesellschaftsbereiche voneinander isolierende Form der Impfpflicht reicht bei Covid-19 aber natürlich nicht aus: Die Gesellschaftsbereiche sind nicht so einfach zu isolieren, wie derzeit noch getan wird und was uns auch voll in die 4. Welle reinschwimmen hat lassen. Jetzt gilt es wieder mal, nicht drin zu ertrinken.

Ich bin latent schon für eine Impfpflicht und ich hab keine Geduld mit Leuten, die sich aus gesellschaftsfeindlichen Freiheitsvorstellungen oder (oft antroposophisch verwurzelter) Aufklärungsresistenz heraus nicht impfen lassen wollen, aber zu einer Impflicht gehört mir halt auch, dass da dabei sehr differenziert vorgegangen wird. Damit es zum Beispiel nicht Leute trifft, die sehr isoliert leben, damit nicht “Informationsferne” plötzlich von Strafmechanismen getroffen werden, obwohl das Problem in ihrem Fall eigentlich im staatlichen Verfehlen in Sachen Informationsarbeit und Impfangebot liegt. Ich seh das schon als Job des Staats, die Impfe zu den Leuten zu bringen, und da wäre schon noch ganz schön Luft nach oben.

Deswegen schmeckt mir gerade auch das pauschale Stigmatisieren aller Ungeimpften als aufklärungsresistente Verweigerer nicht. Ja, ich hab echt eine Stinkwut auf diese Leute, gerade beim Gedanken daran, was gerade in Krankenhäusern vor sich geht und an Leute, die durch ihren Job täglich in Kontakt mit welchen gezwungen sind. Emotional ist das gar keine Frage. Zu dem moralischen Dilemma von Impfverweigerung als sozialer Akt hat vorhin auch Georg Diez ein paar Gedanken fallen lassen. Es ist einfach arg frustrierend, von massiver Kontaktbeschränkung über politischer (Informations-)Arbeit bis zu Impfung alles gemacht zu haben, um der Pandemie entgegenzuwirken, und dann wegen Ungeimpfter die Ansteckungs- und Todes-Zahlen wieder so krass steigen zu sehen wie derzeit.

Aber auf der Suche nach Verantwortung sollten wir es uns nicht zu einfach machen. Mir erscheints wichtiger und effektiver in Hoffnung auf das weitere Vorgehen, auf das Versagen der staatlichen Pandemieverwaltung zu fokussieren statt auf Ungeimpfte: Mehr und gezieltere Aufklärungsarbeit, härtere (und kürzere) Maßnahmen, weniger Wirtschaftshörigkeit, schnelleres Reagieren – es wurden und werden in so vielen Bereichen da so viele vermeidbare Fehler gemacht. Da liegt das Problem. Nehmt nur die überfüllten Impfzentren, an denen derzeit Leute abgewiesen werden. Es war völlig klar abzusehen, dass sobald Boosterimpfungen offiziell empfohlen werden, der Run darauf losgehen wird. Das nicht besser abzustimmen, ist wieder mal so eine Panne, die aufzeigt, wie schlecht organisiert und unverzahnt die politische Pandemiearbeit abläuft.

Die Dissonanz ist halt derzeit wieder mal kaum auszuhalten. Auf lokaler Ebene: Gefüllte Clubs, keine Absage des Christkindlesmarkts und gleichzeitig Meldungen wie heute in den Tweets von Thomas Pettinger:

“Stille Triage.” Sie hat in #Nürnberg begonnen. Rettungskräfte überzeugen Angehörige, dass es besser ist schwer an #COVID19-Erkrankte nicht mehr in weit entfernte Krankenhäuser zu fahren, in denen kein adäquates Behandlungsbett mehr frei ist. Die Menschen sterben zu Hause.

Es ist also nicht nur die sich abzeichnende Überlastung der Notaufnahmen, die Schlange von Rettungswagen, die vor Krankenhäusern warten. Es werden schon jetzt viele Entscheidungen durch die Überlastung so getroffen, wie man sie in nicht pandemischer Zeit nicht fällen würde.

Das ist kein Vorwurf an die in der Notfallversorgung Arbeitenden, denn es sind die in der Notfallsituation richtigen Entscheidungen, die mangels besserer Alternativen getroffen werden. Aber es ist vermeidbares Leid, wenn Menschen sterben, die bei guten Bedingungen überlebten.

Aber ich franse aus, zurück zur Impfpflicht: Eine Impfpflicht durch Zugangsregulierung für verschiedenste und auch immer mehr Gesellschaftsbereiche halte ich deswegen derzeit für eine bessere Lösung als eine, die mit finanziellen oder Haftstrafen bewehrte. Theoretisch zumindest. Praktisch greift die Zugangsregulierung nicht so tolle – egal ob 2G oder 3G oder wie sich Söder jetzt für Diskos wünscht 2G+ – weil vielerorts nicht wirklich kontrolliert wird. Und sie verführt zu falscher Sicherheit, denn dass 2G in der derzeitigen Situation nicht reicht, ist eigentlich völlig klar, dazu hier ein aktueller Brandbrief von 21 Wissenschaftler*innen, u.a. Viola Priesemann, Sandra Ciesek und Ulrike Protzer in DIE ZEIT. Die Zahlen sind derzeit einfach wieder so hoch und die Krankenhäuser auf Anschlag, da müssen mehr Maßnahmen her. Lest zum Thema, warum 2G nicht reicht, auch diesen super Erklär-Text von Enno Park. Es sei auch noch mal drauf hingewiesen, dass das RKI seit Ewigkeiten zu Kontaktbeschränkungen auffordert. Ich weiß nicht, ob sich jetzt alle denken, wenn mir der Staat keine Beschränkungen auferlegt, dann ist es bestimmt nicht so dringend? Bei vielen erscheint es mir fast so.

Also: Das Wissen ist da, die meisten machen nur entweder nichts aus diesem Wissen, oder sie können aus sozioökonomischen Gründen keine Konsequenzen draus ziehen.

Die staatlich sanktionierte Form einer Impfpflicht wiederum dauert einfach zu lang, um uns jetzt aus der Bredouille zu hieven. Wie es Hans Zauner vorhin auf Twitter zum neuen MaiLab Clip, in dem sie für eine Impfpflicht eintritt, schrieb:

“Wie lange würde es dauern, eine Impfpflicht durch’s Parlament zu bringen und umzusetzen? Zur Bekämpfung der 4. Welle käme sie jedenfalls viel zu spät, insofern ist das jetzt kein pragmatischer Vorschlag, finde ich. … Pragmatismus statt Perfektion ist gefragt, sehr richtig. Allerdings: Eine formale Impfpflicht für alle ist eben auch nicht pragmatisch. Weil das juristisch und in der Durchführung so ein riesiges Fass aufmacht, das würde vor dem Frühjahr nicht mehr Gesetz werden können. “

El Hotzo bringt’s halt wieder mal auf den Punkt:

in ganz Deutschland gilt mittlerweile 2G:

G anz schön
G efickt

9/11, Klimakrise und die Wahlen

Ich hab vom 11.9. im Radio im Tourvan meiner Band gehört und wir hatten erst so ‘nen “Krieg der Welten”-Moment, überzeugt davon, dass wir auf einen cleveren Radio Stunt reinfielen. Und an diesem Abend World/Inferno Friendship Society spielen zu sehen, bzw hauptsächlich Jack Terricloth (RIP <3) reden zu hören, wie er versuchte sich dem anzunähern, wie man damit umgeht? es bewältigt? versteht? trauert? war einer der intensivsten Live-Konzert Momente, die ich je hatte. Reduziert zu sein auf Dankbarkeit dafür, am Leben und zusammen zu sein in diesem Moment, mit Freund*innen was zu trinken im Angesicht des Horrors, der geschehen ist und die Möglichkeit aufgetan hat, dass es wieder geschehen kann. Tschernobyl war ähnlich, was das anging, aber damals war ich viel jünger und es war eine ganz andere Art von Umgang mit sowas.
Für die Kids heute sind das natürlich peanuts. Wahrlich die Doom Generation, wenn’s jemals eine gegeben hat. Und wenn ich mir die Zahlen der nahenden Wahlen hier (D) ansehe, können wir nur auf Klima Aktivismus außerhalb formeller politischer Prozesse hoffen und uns selber die Hände damit schmutzig machen.

Deswegen lieb ich den neuen Wahlspot von den Grünen. Er trifft endlich das richtige Bedrohungslevel: “Ihre Stimme entscheidet über die letzte Regierung, die aktiv Einfluss auf die Klimakrise nehmen kann.”

Es geht hier nicht drum, ob grün oder links gewählt wird, mal ehrlich: Keine der Parteien hat hart genuge Klimaziele in ihrem Programm. So zu wählen, dass es eine Chance auf Rot-Rot-Grün gibt, ist nur ein winziger Schritt in die Richtung, in die wir wirklich gehen müssen.

Auseinandersetzung um Antje Schrupps ‘Gibt es Frauen und Männer überhaupt?’

Als ich Freitagabend in der Tram in meiner Twittertimeline ein kurzes Hin und Her darüber las, ob die Kritik an einem Text in der ZEIT gerechtfertigt oder überzogen sei, entfuhr mir ein gedankliches “Oje”, weil ich vermutete, dass es um Antje Schrupps ‘Gibt es Frauen und Männer überhaupt?’ gehen würde. Ich lag richtig, und zwei Tage später hatte ich jetzt auch endlich Zeit, den Text zu lesen und der Kritik ein wenig nachzuspüren.

Wenn ich es richtig verstehe, liegt der Hund im Ende begraben, wo Folgendes zu lesen ist:

“Das feministische Projekt, das heute ansteht, bestünde hingegen darin, genau diese Personen – Menschen mit Uterus, die Kinder gebären (möchten) – als politische Subjekte zu positionieren, deren Interessen, Anliegen und Bedürfnisse nicht länger missachtet werden dürfen.”

Das ist unscharf formuliert und kann bedeuten: 1.) NUR solche Personen sollen das politische Subjekt des Feminismus sein. Oder: 2.) Diese Personen sollen AUCH einen Platz als politische Subjekte des Feminismus bekommen. Die Lösung im Sinne Antje Schrupps ist 2.), was eigentlich allen auch im darauf folgenden Satz hätte klar werden können:

“Es wäre der Kampf für eine Gesellschaft, in der Menschen AUCH DANN nichts an Einfluss, Macht, Wohlstand und Lebensoptionen verlieren, wenn sie schwanger sind oder kleine Kinder versorgen.” (Hervorhebung von mir.)

Einige lasen aber glasklar die Bedeutung, die ich unter 1.) beschrieben habe und Leute (teilweise auch welche mit richtig vielen Followern wie Margarete Stokowski und Mario Sixtus, die ich beide auf ihre Art schätze, aber denen ich beiden auf Twitter nicht mehr folge, weil sie so zugespitzt schreiben. Das ist so ein Dauerreizeffekt, als würdest du dauernd provoziert. Mir sind die leiseren Accounts lieber.) tweeteten lautstark, dass Antje Schrupp im TERF-Sinne fordere, dass Feminismus nur für Gebährfähige da sei.

Es schwelt. Halb Feminismusdeutschland scheint schon darauf zu warten, dass der polarisierende Kampf zwischen transinklusivem und -exklusivem (TERF) Feminismus, der z.B. in Großbritannien schon lange ausgebrochen ist, auch hier ‘endlich’ den Mainstream erreicht. (Wobei zu diskutieren wäre, inwieweit ihn die UK-Mainstreampresse überhaupt erst angeschürt hat.) Ich bin froh, dass es hier noch nicht das nächste große Thema des toxischen Kolumnenjournalismus ist, aber hatte, wie einführend schon erwähnt, als ich las, dass Antje Schrupp einen neuen Text in der ZEIT veröffentlicht hat, schon geahnt, dass es Kritik in diese Richtung geben würde, da Antje in der Vergangenheit schon Kritik aus der Enby- und Transgender-Ecke bekommen hat. Warum, weiß ich nicht und ich möchte das auch nicht recherchieren.

Dass sich der Tonfall von Trans- und Enby-Queerfeminismus-Twitter in großen Teilen über die letzten Jahre sehr verschärft hat, ist so schmerzhaft wie schmerzvoll. Schmerzhaft für die, die – oft zurecht – einen geballten Ansturm der Kritik erleben. Schmerzvoll, weil in der Verhärtung des Tonfalls, der Zementierung der Position und der Annahme, das Gegenüber könne nur das Schlechtmöglichste meinen, in Vorverurteilungen, in Forderungen nach eindeutiger Positionierung und nach Anerkennung, schlicht der Schmerz von wiederholten Diskriminierungserfahrungen steckt.

Auf der anderen Seite des Rings: der professionelle weiße Cis-Feminismus, der teils mit komplettem Unverständnis auf die Schärfe der Kritik und auch auf die Unprofessionalität des jungen Queerfeminismus mit DIY- und Meme-Bildungshintergrund reagiert, statt ihn zu verstehen zu versuchen.

Feministische Theorie und erlebte Diskriminierung, Politik vs Akademie, und andere prallen hier immer wieder aufeinander, als wären sie oppositionelle Lager, was man auch meinen könnte, bis der Blick auf die Männers fällt, weiß männlich hetero Mittelschicht aufwärts, wieder mal zum Großteil bloß außenrum sitzen und milde lächelnd den Kopf schütteln über diese crazy Queers und Feminist*innen und die ganzen anderen Freaks im Ring. Hoho, man könnte fast denken, für diese stünde irgendwas auf dem Spiel in diesen Kämpfen. Unterhaltsam allemal, während sie sich dann wieder mit den wichtigen Dingen des Lebens beschäftigen können. Oder sogar mit selbstausgesuchten Themen.

Die Kämpfe werden nicht aufhören.

Die diskursive Macht, die es allein schon durch Reichweite hat, in einem großen Printmedium zu veröffentlichen, oder mehrere Tausend Follower zu haben, ist erschlagend für die, die sich von so einem Artikel falsch dargestellt oder diskriminiert, nicht gehört, abgedrängt, zur Marginalie gemacht fühlen. Aber wenn sich viele, die alle nur eine kleine Reichweite haben, zusammentun, können sie auch gehört werden. So wird ein Machtausgleich versucht: durch Lautstärke und Zuspitzungen und Zusammenschließen zum Hive. Die Affordance von Twitter und Facebook ist ja nun mal, dass man dadurch am besten gehört wird.

Ja, mitunter wird dabei über das Ziel hinausgeschossen und die sogenannte Cancel Culture ist nicht automatisch fair und angemessen, nur weil sie von Marginalisierten kommt. Aber es ist eben ein Mittel der Ohnmächtigen, derer ohne Macht. Um eine Auseinandersetzung auf gleicher Sprechhöhe führen zu können, muss vielleicht erst die Ohnmacht abgeschafft werden. Oder zumindest: Mitgedacht werden. Den Grund für die Schärfe des Tonfalls mitzudenken, wäre doch mal ein Ansatz, oder? Sich der Verzweiflung, die hinter der Aggressivität oder Vehemenz stecken könnten, bewusst werden?

Das heißt nicht, Gesagtes gar nicht kritisieren zu dürfen, aber vielleicht mal etwas mehr Zeit in den Versuch investieren, zuzuhören und verstehen zu wollen. Nachvollziehen zu können, woher die Wut und die Kampfbereitschaft kommt, und sie anzuerkennen. Die eigene scheinbare Nüchternheit bei einem Thema nicht mit Objektivität/Neutralität/Professionalität usw. zu verwechseln, wenn sie eigentlich schlicht einer Privilegiertheit entspringt.

Aber das hat jetzt ganz weit weg von Antje Schrupp geführt, pardon.

Ich nehme Antje Schrupp hier nichts übel, da ich sie als pragmatische Feministin schätze, die sich gerade nicht im Akademischen genügt, sondern die sich traut, laut zu denken und öffentlich zu diskutieren, wie in ihrem immer wieder bereichernden Blog. Der Artikel, um den es hier geht, wirkt auf mich etwas so, als hätte die ZEIT gern mal wieder angetestet, ob das Transgender/TERF-Ding jetzt hier auch schon zieht – deswegen der J.K. Rowling-Aufhänger -, aber als hätte Antje Schrupp dann lieber doch zum Thema ihres aktuellen Buchs geschrieben. ^^

Ihr aktuelles Buch Schwangerwerdenkönnen habe ich noch nicht gelesen, aber wäre jetzt doch neugierig drauf. 17€ sind aber leider ein stolzer Preis für einen 192-Seiten-Essay und Bücher über Schwangerschaft sind jetzt nicht die Top-Prio auf meiner Interessensliste, wo ich erst vor ein paar Monaten The Argonauts und Full Surrogacy Now gelesen habe. Und letzteres sei auch allen in diesem Kontext ans Herz gelegt: Sophie Lewis Ansatz, von Schwangerschaftsarbeit – “gestators of all genders unite!” – zu sprechen und Leihmutterschaft und Wahlfamilien ins Zentrum einer Utopie des Ausgleichs dessen zu stellen, was Antje Schrupp “reproduktive Differenz” nennt, halte ich für einen großartigen Ansatz. Auf deutsch ist es noch nicht übersetzt, aber Lukas Hermsmeier hat schon mal was dazu geschrieben.

Als Vorgeschmack, empfehle ich hier für die Englischlesenden auch noch diese zwei Essays von Sophie Lewis: Who Liberates the Slave?, ich sag mal grob: über Handmaid’s Tale und weißen Feminismus. Und auch ganz großartig, zum Thema Familie und Midsommar / Hereditary: The Satanic Death Cult Is Real.

P.S.: Bisschen Beef mit Antje Schrupps ZEIT-Text hab ich aber trotzdem: Wenn schon bis hin zu millimetergenauen Angaben auf Biologie eingehen, dann nicht alte Mythen reproduzieren. Das tut sie, wenn sie von der Durchschnittsgröße einer Klitoris schreibt, “die bei der Geburt zwischen 0,2 und 0,85 Zentimeter groß ist.” Dabei geht es mir nicht um pingelige Zahlenklauberei, sondern um die bittere Geschichte instutionalisierter Unsichtbarmachung bis hin zu Feindlichkeit Frauen und deren Lust gegenüber, die bei diesen falschen Angaben zwischen den Zeilen mitschwingt. (Mehr zur Klitoris und wie verborgen und schambehaftet das Wissen dazu auch heute noch ist, gibt’s zum Beispiel in diesem Artikel.)

 

Antifeminismus, Manosphere und verletzte Männlichkeit als Einstieg nach Rechts

Dieser Essay ist ursprünglich als kurze Einleitungsrede in einen Abend anlässlich eines sogenannten Genderkongresses von antifeministischen Männerrechtler*innen in Nürnberg entstanden. Als Protest gegen deren Genderkongress habe ich mit dem Musikverein 2016 einfach parallel dazu selbst noch einen Genderkongress veranstaltet: Einen Abend, zu dem ich Freund*innen – extra überwiegend Männer – eingeladen hatte, feministische Beiträge beizusteuern. Ich selbst gab einen kleinen Einblick in das lose antifeministisches Netzwerk der Männerrechtsszene, der Manosphere und darauf, was sich hinter der Veranstaltung Genderkongress tatsächlich verbirgt. Danach hab ich den Text noch mal für einen Artikel in der Analyse und Kritik überarbeit, noch mehr auf das Thema der Onlinerekrutierung und -radikalisierung nach Rechts in der Manosphere hin, aber auch darüber, warum sich für Rechte Frauenfeindlichkeit so gut eignet, um in der Mitte der Gesellschaft anzudocken. Und nachdem ich dann Anfragen zum Thema erhielt, habe ich ihn noch um einige Aspekte auf Vortragslänge erweitert und immer wieder aktualisiert und ergänzt. Es ist ein endloses Thema und inzwischen fühle ich mich, als könnte ich ein Buch darüber schreiben.

Dieses Wochenende findet der frauenfeindliche Genderkongress ein weiteres Mal in Nürnberg statt, und für morgen ist auch ein Protest vor Ort geplant: 12-15 Uhr Königstraße! Weil ich derzeit nicht fit genug bin, um dort wie angefragt eine Protestrede zu halten, habe ich mich entschlossen, als kleinen Beitrag zum Protest die aktuellste Version meines Vortragstextes jetzt hier in ganzer Länge zur Verfügung zu stellen. Und wie es dann immer so kommt, habe ich noch mal ein paar Stellen aktualisiert und ihn mit Links zum Weiterlesen gespickt. Voilà.

Antifeminismus und verletzte Männlichkeit, die Manosphere als Einstieg nach Rechts

Genderkongress und Männerrechtsbewegung: Es geht nicht um Gleichberechtigung

Zum Einstieg ein paar Worte zur Männerrechtsbewegung, wie sie sich hinter einer Veranstaltung wie dem Genderkongress verbirgt. Es gibt seit vielen Jahren eine internationale Männerrechtsbewegung, die ein stark vereinfachendes negatives Bild von Feminismus schürt, das ihn nicht als eine Gleichberechtigunsbewegung akzeptiert, sondern einfach mit Männerhass und Männerunterdrückung gleichsetzt. Was sie von klassischen Antifeministen unterscheidet, ist laut einer Expertise, die Hinrich Rosenbrock für die Heinrich-Böll-Stiftung erstellt hat (PDF), dass sie nicht mehr argumentieren, dass das männliche Geschlecht dem weiblichen überlegen sei, nein, sie argumentieren eher aus einer Opferhaltung heraus: Männer als Opfer einer vermeintlichen Femokratie, einer Herrschaft von Feministinnen, die angeblich unsere Gesellschaft dominiere. Tatsächliche gesellschaftliche Benachteiligungen von Frauen werden ausgeblendet oder abgeschwächt, damit eine männliche Opferideologie entwickelt werden kann. Das ist auch eine Parallele zur Strategie der Neuen Rechten, die sich als Opfer einer linken politischen Korrektheit und eines sogenannten Gutmenschentums inszeniert. Eine im Vergleich zu früher größere Teilhabe von Frauen und Queers am öffentlichen Leben wird als Herrschaft von Feminist*innen und “Genderwahnsinnigen” misinterpretiert. Pseudowissenschaftliche Strategien und guteinstudierte, standardisierte rhetorische Ablenkungsmanöver runden das Ganze ab.

Wenn man sich die Liste der Verbände ansieht, die auf der Website des Genderkongresses als Grundlage aufgezählt werden, wird schnell klar, dass es hier nicht um Gleichberechtigung geht, wie sie in ihrer Selbstbeschreibung behaupten, und auch dass sich Gender lediglich im Titel des Kongresses findet, um das Vokabular der Gegner*innen zu übernehmen und inhaltlich zu entleeren. Ebenfalls eine Strategie der Neuen Rechten. In den Namen auf dieser Liste, taucht das Wort “Frau” oder “woman” nur exakt ein einziges Mal auf, und zwar bei der Gruppe “Women against Feminism”. Dagegen stehen 32 Vereine mit “Mann” oder “Männer” im Namen, darunter auch einige, die auch gerne mal auf rechte Websites wie die der Jungen Freiheit verlinken.

Ein großes Thema bei den Männerrechtlern, wie sie zum Beispiel beim Genderkongress zu finden sind, ist das Väterrecht. Sie behaupten gerne, dass hier eine systematische Ungerechtigkeit vorherrsche, und dass Kinder bei Scheidungen viel häufiger Müttern zugesprochen würden, statt das gemeinsames Sorgerecht herrsche. Was schlicht nicht stimmt. Ein Datenreport des Statistischen Bundesamt Deutschlands von 2018 kam zum Ergebnis, dass bei fast allen (genauer gesagt: 97%) der Scheidungen, bei denen gemeinschaftliche minderjährige Kinder betroffen waren, das Sorgerecht bei beiden Elternteilen blieb. Bei den Alleinerziehenden liegt ebenfalls nach einer Untersuchung des Statistischen Bundesamts der Väteranteil nach einem Report von 2017 bei gerade mal 12%. Die Reform des Sorgerechts 2013 hat an dieser niedrigen Zahl nichts geändert und es wird vermutet, dass “unterschiedliche Rollenvorstellungen nach wie vor eine wesentliche Rolle spielen.”

Dass sich die Väternetzwerke trotzdem einem so faktenfernen, unverhältnismäßigen Hineinsteigern in Behauptungen widmen, nur um Stimmung zu bestimmten Themen zu machen – auch das kennen wir von der “Neuen Rechten”. Das Traurige ist, dass frustrierte Väter, denen Unrecht widerfahren ist, und die Hilfe oder Austausch suchen, in vielen Väterrechtsgruppen und Männerplattformen im Netz nicht auf Leute stoßen, die ihnen helfen, sondern auf Leute, die ein Feindbild schüren. Es geht in der ganzen Manosphere, der online vernetzten Männerrechtsszene, um die es hier geht, nicht darum Männern, die tatsächlich Opfer von einem schädlichen Männerbild sind, zu helfen, und es geht nicht um einen Austausch, sondern nur um das Abwerten der vermeintlichen Gegner*innen. Und Gegner*innen sind letztlich alle emanzipatorisch eingestellten Menschen, denen es tatsächlich um Gleichberechtigung geht.

Was sich bei den Gruppen, die der Genderkongress als inhaltliche Basis seiner Arbeit aufzählt, auch findet, sind so homo- und transphobe Gruppen wie “Demo für alle”, ein Ableger der französischen Bewegung La Manif Pour Tous, die auch mit der AfD verbunden sind. Auch ähnliche Gruppierungen wie “Gender-Wahn stoppen!” und “Gender-Unsinn” sind hier mit aufgezählt. Es mag auf den ersten Blick widersinnig scheinen, dass da auch das Logo des Schwulenmagazins ‘Männer’ zu sehen ist. Ist es aber nicht, da dessen Chefredakteur für ein paar Jahre der schwule Rechtspopulist David Berger war, der dann auch für Compact schrieb und heute den Philosophia Perennis Blog mit neurechter Propaganda füllt, zum Beispiel schreibt er über die Umvolkung, die Theorie des großen Austauschs. An den Logos des Genderkongresses lässt sich so ein Netz von deutschen anti-feministischen und anti-queeren Gruppen ablesen.

Das Bonding über Antifeminismus als Einstiegsdroge nach Rechts

Gefährlich an dieser ganzen Männerrechtsgeschichte ist ihre starke Rechtsoffenheit. Da kann das mit anderen Männern geteilte Gefühl, das sie von Feministinnen unterdrückt würden, eine ganz schöne Sogwirkung entwickeln und die Frauenfeindlichkeit ist in der extremen Rechten ein sehr zentraler Punkt. Und das geht oft auch über Worte hinaus. Der rechte Rassist Richard Spencer wurde 2018 von seiner Frau wegen häuslicher Gewalt angezeigt, ebenso Matthew Heimbach von der Nationalist Front. Eine Aussteigerin erzählt von der Normalität der misogynen Gewalt in der rechten Szene: “Gerade als junges Mädchen ist man in der Szene Freiwild. Mal ist es nur eine Hand auf deinem Bein, mal sogar Vergewaltigung. Ich kenne Mädchen, die als Jugendliche von Männern missbraucht worden sind, und niemand hat sich eingemischt. Da steht die Kameradschaft über den Frauen. ”

Die Rolle des Frauenhasses in den Beweggründen vieler rechter Attentäter ist erst langsam im Verlauf der letzten Jahre im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommen, bzw. hat erst in den letzten Jahren mediale Aufmerksamkeit bekommen, und selbst aktuell nach dem Attentat in Halle wurde dieses Element medial meist ausgeblendet. Für viele ist ein Attentat immer noch entweder frauenfeindlich oder politisch motiviert. Beispiele für misogynen Terror gibt es aber leider inzwischen viele.

Der norwegische Anders Behring Breivik, der von einer “Feminisierung der europäischen Kultur” und einer angeblichen “Kriegsführung gegen den europäischen Mann” schrieb. George Sodini, der 2009 in Pennsylvania austickte und mehrere Menschen tötete, weil er sich von Frauen zurückgewiesen fühlte. Eliot Rodger hinterließ nach seinem Massaker an sechs Menschen ein ganzes Manifest seines Frauenhasses, das online schnell und weit verteilt wurde. Alek Minassian, der im April 2018 in Toronto 10 Menschen umbrachte, berief sich auf ihn. Das sind natürlich Extremfälle, und es gilt keineswegs der Umkehrschluss, dass aus jedem Mann, der sich ungerecht behandelt fühlt durch Männerrechtsnetzwerke ein potenzieller Attentäter wird. Aber: ich will dieses verbindende und oft heruntergespielte Element als eine Art Warnblinker des Ernstes der Lage sichtbarer machen.

Es löst jedes Mal heftige Reaktionen aus, wenn bislang männlich besetzte Filmfiguren heute auch mal mit Schauspielerinnen statt Männern besetzt werden, von Ghostbuster über Doctor Who bis zu James Bond. Oder wenn eine Gilettewerbung das Thema der toxischen Maskulinität, des Aufzwingens eines männlichen Rollenbildes, das viele Männer unglücklich macht, aufgreift, dann toben die Kommentarspalten, dann tobt die Manosphere. Sie machen sich laut und breit, weil sie wissen, dass dort ein Ansatzpunkt ist, an dem sie Leute auf ihre Seite bringen können.

Den Genderkongress, wegen dem ich mich mit diesem Thema hier befasst habe, kritisiere ich deswegen nicht nur für seine Frauen- und Queerfeindlichkeit, sondern auch dafür, dass solches Bonding durch oder über Antifeminismus als Einstiegserlebnis in rechte Gefilde dienen kann – und es oft auch tut. Dafür kritisiere ich allerdings auch das Verhalten vieler Männer und Frauen im Alltag. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass von dem scheinbar harmlosen Punkt, dass sich viele Männer gerne darüber scherzend, wie sie von Frauen unterdrückt würden, gegenseitig auf die Schulter klopfen, eine meist verharmloste Linie bis hin zu aktiven Männerrechtlern und von dort bis hin zu Übergriffen und Gewalt und hin zu rechten Bewegungen führt. Das ist kein Entweder/Oder, sondern das sind fließende, graduelle Übergänge auf einer Skala der Frauenfeindlichkeit und der Feindlichkeit gegenüber Männern, die nicht einem toxischem Klischee von Männlichkeit entsprechen. Uneigentliches Reden am einen Ende – und das reicht von gemeinsamen frauenfeindlichen Scherzen oder Songtexten oder Comedy und misogyner Gewalt in Spielen und Filmen – und aktives Umsetzen in Handlung irgendwo am anderen. Und, wie es Franziska Schutzbach formuliert: “So verschieden die inhaltlichen Positionen sein mögen, beim Feindbild Feminismus oder Gender kann man sich offenbar verständigen. Antifeminismus ist also nicht nur ein fester Bestandteil völkischer Ideologie, sondern auch ein Scharnier, das Querverbindungen und Gemeinsamkeiten mit anderen Akteur*innen, vor allem mit der gesellschaftlichen Mitte herstellt.”

Die Hasserfüllten stehen gewiss nicht für die Mehrzahl der Männer und Frauen da draußen. Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums teilen nur 5% aller Männer die antifeministischen Ansichten der Maskulisten, allerdings: Ein Drittel aller Männer – und 15,2% aller Frauen – seien für einzelne derer Einstellungen empfänglich. Darüber wieviele wiederum schweigende Mittäter sind, die Frauenhass gesellschaftlich akzeptabel machen, indem sie ihn nicht kritisieren oder gar höflich belächeln, nun ja, dazu gibt es keine Zahlen. Wenn es um eine größere Offenheit für verschiedenste Formen von geschlechtlichen und sexuellen Lebensweisen geht, hat die Rechte hier oft leichtes Spiel in der Mitte der Gesellschaft anzudocken.

Verschwörungstheoretische Züge: Redpilling

Ich hatte für diesen Essay als Vortrag ursprünglich nicht nur weil ich Alliterationen mag, den Titel ‘Matrix und die Manosphere’ gewählt, sondern weil sich darüber auch ein Blick in die Welt des frauenfeindlichen und rechten Denkens werfen lässt, und wie dieses unter anderem mit Hilfe von Popkultur aufgebaut wird. Verschwörungstheorien sind nach Philippe Wampfler im neutralsten Sinne eine Denkbewegung, die kollektive Erfahrungen als Resultat einer geheimen Absprache interpretiert. So können Menschen Erlebtes mit einem Sinn versehen. James Bridle setzt da zum Beispiel auch einen Bezug zu Folklore und Aberglaube, die Menschen helfen Unverständliches zu erklären. Verschwörungstheorien reduzierten politische Komplexität, indem sie Geschehnisse auf wenige mächtige VerursacherInnen zurückführten. Gleichzeitig steigern sie die Komplexität der Zeichen: Alles mögliche kann als bestätigendes Zeichen für die Theorie gedeutet werden, oder kann als Symbol für die gefühlte Wahrheit stehen.

Ein wichtiges solches Bild ist die rote Pille aus dem Film Matrix. Auch der Männerrechtler-Genderkongress, von dem ich eingangs erzählte, trug als Untertitel “Gender Reloaded” im Namen, eine Anspielung auf “Matrix Reloaded”, den zweiten Teil des Films, und es wurde dort unter anderem auch ein Film namens “The Red Pill” gezeigt. Volker König, der ein Screening des Films in Berlin besucht hatte, schreibt darüber: “Der Titel des Films ist eine Anspielung auf den Film ‘Die Matrix’. Nur wer die rote Pille schluckt, erkennt die Wahrheit. Alle anderen leben weiterhin in einem Gefängnis, in einer Scheinwelt, die aufgebaut wurde, um die Wahrheit zu verschleiern. Es geht dem Film also nicht darum, die Perspektive zu erweitern, die ‘andere Seite’ zu hören, Männer zu Wort kommen zu lassen, sondern es geht um einen höheren Wahrheitsanspruch. Entsprechend dem aktuellen Zeitgeist wird die Frage des Films ideologisiert und pathetisch überhöht zum Kampf von Feminismus und ‘Lügenpresse’ gegen Meinungsfreiheit.”

Das Erleuchtungserlebnis, wenn man endlich die (vermeintliche) Wahrheit erkennt, wurde längst zu einem eigenen Begriff, dem “Redpilling”, das sowohl in der Manosphere als auch in der rechten Szene zum geläufigen Slang gehört. Wie solche Begriffe da etabliert werden, dafür hab ich zum Einstieg als Beispiel einen Auszug aus einem Podcast der neu-rechten Identitären Bewegung zu Matrix und Redpilling für euch zum Reinhören.

[Auszug IB Podcast, ist inzwischen offline, weil Youtube die IB blockt.]

Der Auszug zeigt schön, wie die Vorstellung von einer “lügenden Systempresse” aufgebaut wird, die das “Merkelsche System” als “falsche” Realität vorgaukele. Er ist auch ein gutes Beispiel dafür wie die Identitäre Bewegung bis zum Lächerlichen bemüht ist, in ihrer Rhetorik immer mit allen möglichen Kulturzitaten aufzutrumpfen, und auch wie ein eigenes Vokabular geschaffen wird, das für mehr Identifizierung mit der Gruppe sorgt. Dass Matrix, der Film der Wachowsky-Schwestern, heute viel eher als Transgender-Allegorie gelesen wird, davon fällt hier natürlich kein Wort.

Andere Popkulturmomente in diesem Podcast sind zum Beispiel 1984, da vergleichen die Identitären gendergerechte Sprache mit Orwells Neusprech, Platos Höhlengleichnis taucht auch noch auf, und der Disneyklassiker Susi und Strolch, und zwar eine Szene, in der Siamkatzen die Wohnung verwüsten und die Schuld danach auf den Hund Susi schieben – von ihnen als bescheuertes Bild dafür gedeutet, wie Flüchtlinge angeblich Deutschland kaputt machen und die Wahrheit von der “Lügenpresse” so verdeht werde, dass niemand der ganzen verblendeten Bevölkerung sie als die Schuldigen wahrnehme, sondern immer die armen Rechten die Bösen sein sollen.

Aber auch noch andere Punkte sind da drin: Der Begriff “Kulturmarxismus” zum Beispiel, übernommen von der US-amerikanischen neuen Rechten. Rechtsextremismusforscher Thomas Grumke erklärt ihn so, dass mit den Emigranten der Frankfurter Schule in den 1930er Jahren – wie Theodor Adorno und Max Horkheimer – angeblich ein politischer Mainstream in den USA entstanden sei, der als “Kulturmarxismus” charakterisiert wird, und mit dem angeblich ein Kulturkrieg gegen den weißen christlichen Mann geführt würde. Die Journalistin Aja Romano erklärt, dass es auch einer der Lieblingsbegriffe des Breitbartgründers Andrew Breitbart ist, und er in der US-farright Szene abwertend für alle verwendet wird, die aktiv versuchen, Kunst und Kultur inklusiver zu machen und soziokulturelle Veränderungen hin zu mehr Diversity voranzutreiben, da sie damit nach der Meinung der Farright das weiße Patriarchat auslöschen wollen. Was ja nicht der einzige Verschwörungsplot ist, der dort gepflegt wird: auch Juden und Muslime sind angeblich auf einen weißen Genozid aus, auf den sogenannten “großen Austausch” oder der “Umvolkung.”

Bildung und Funktion eines eigenen Dialekts

Auf verschiedensten Plattformen im Netz haben sich schon immer eigene “Dialekte” gebildet, wie es Nikhil Sonnad nennt, der für das Quartz Magazine mit einem Team “billions of reddit comments” auf sechs der gängisten Alt-Right Foren untersucht hat. Viele Dialektbegriffe im Internet sind aus Abkürzungen entstanden, wie z.B. bei “LOL” oder “WTF”, oder bei Leetspeak aus dem Ersetzen von Buchstaben mit Zahlen, z.B. “g33k” statt “geek”. Bei Leetspeak spricht auch ein gewisser Exklusivitätsanspruch aus der Namensgebung: “Leet” kommt hier von “Elite”, also: die Sprache der Elite. Auch viele Messageboardcommunities haben eigene Begriffe oder Redensarten etabliert, zum Beispiel das “Göga” für “Göttergatte” auf Chefkoch.de. Meist ist das zwar sprachlich interessant, wie sich da Nischenkulturen mit ihrer eigenen Folklore bilden, aber eher nicht gefährlich.

Im Falle der Männerrechtler und Rechten ist das bewusste Einsetzen von Begriffen allerdings weniger harmlos. Oft dient es zur Stützung der rechten Ideologie, zum Tabubruch, zur Provokation und zur Bindung an die rechte Community. Bevor sie weitverbreitet sind, dienen solche Begriffe einem gewissen Exklusivitätsgefühl, so Sonnad, denn nur Eingeweihte verstehen, was sie bedeuten und wissen sie einzusetzen. Darüber hinaus enthüllt solcher Jargon auch Konzepte, die eine Gruppe als ihnen allen gemein empfindet, und die wichtig genug dafür sind, dass es ein Wort dafür braucht.

Ich will nur ein paar Begriffe der Manosphere als Beispiele herausgreifen. Wie Nikhil Sonnad schreibt, gibt es im Englischen – überraschenderweise – keinen Begriff für “Frauen sind roboterhafte Untermenschen”, aber viele in der farright-Männerszene teilen die Ansicht, dass Frauen keine richtigen Menschen seien. Deswegen haben sie einen Begriff dafür erfunden: “Femoids”. Damit so ein Begriff mehr Zugkraft gewinnt, muss ihn die Community anerkennen. So einen Begriff zu verwenden, obwohl er kontrovers und politisiert ist, signalisiert anderen deinen Mut. Es wird erst mal behauptet, es sei ja nur ironisch, und je akzeptierter er dann durch häufigeren Gebrauch wird, desto mehr dient er dazu, zu zeigen, dass du dazu gehörst, zu denen, die diesselbe unkonventionelle Perspektive haben. Es ist eine Win-Win-Situation, denn wenn sich der Begriff nur innerhalb der Community etabliert, trägt er zu einer Verschärfung der Kluft zur Außenwelt bei, also zu Leuten mit anderen Ansichten. Das “wir gegen die anderen”-Gefühl wird verstärkt. Wenn er aber bis in den Mainstream dringt, ist das auch nicht schlecht, denn dann wird das Konzept, für das er steht, ein Stück weit gesellschaftlich enttabuisiert und normalisiert.

Ein paar typische Begriffe der Szene wären zum Beispiel noch: “Chad” für attraktive Männer, die Erfolg bei Frauen haben. Er ist 2013 aus der 4chan-Ecke heraus entstanden, ein Messageboard, und er hat sich erst in den letzten Jahren in der Manosphere richtig weit verbreitet. Es ist ein Neidbegriff. “Meek” ist noch eine Steigerung davon: Meeks steht für Männer, die erfolgreich bei Frauen sind obwohl sie negative Charaktereigenschaften haben. “Hypergamy” ist ein Begriff für das in der Manosphere verbreitete Konzept, dass die “Top” 20% der Männer im Wettbewerb um die “Top” 80% der Frauen stehen und Frauen nur Männer heiraten, die sozial “über” ihnen stehen. Die Idee hat nach Nikhil Sonnad seine Wurzeln im ökonomischen Pareto-Prinzip, laut dem immer 80% deiner Verkäufe von 20% deiner Kunden kommen.

Das Interessante an Sonnads Recherche ist, dass sich ein Begriff wie “Hypergamy”, obwohl er am verbreitesten in Manosphere-Foren ist, auch von einer signifikanten Zahl von Trump-Anhängern und auf alt-right Foren und von “Gamergatern” verwendet wird, was statistisch die Überschneidungen dieser Szenen zeigt. Den Begriff des “Redpilling” haben wir in dem Podcast der Identitären gehört, wo auch auf die Herkunft des Begriffs aus dem “Gamergate” verwiesen wird, als männerrechtlerische angebliche “Wahrheit”, die sich gegen die Vorherrschaft des Feminismus wehren muss.

Gamergate: it’s not about ethics in game journalism

Gamergate war ein zentrales Ereignis in der Entwicklung der Männerrechtsbewegung. Der Höhepunkt von Gamergate war 2014 bis 2015. Anita Sarkeesian erwirtschaftete damals über Kickstarter 160.000 statt der von ihr angestrebten 6000 Dollar von Unterstützer*innen für eine feministische Gaming-Youtube-Serie namens “Tropes vs. Women in Video Games”. Von diesem Zuspruch für feministische Kritik fühlten sich viele männliche Gamer bedroht und starteten ein wirklich unfassbar krasses Gegenfeuer. Endlose Hasskommentare auf Social Media, Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, Sarkeesians Website und Social Media Accounts wurden gehackt, ihr Wikipedia-Eintrag wurde rassistisch und sexistisch verunstaltet. Ein Angreifer entwarf ein Spiel namens Beat Up Anita Sarkeesian, in dem eine sie darstellende Figur vom Spieler zusammengeschlagen werden konnte. Ein Vortrag von ihr musste wegen einer Bombendrohung abgesagt werden, und sie konnte ähnlich wie Zoe Quinn und Brianna Wu, die beiden anderen Frauen im Zentrum des Gamergate-Angriffes, nicht mal mehr zu Hause wohnen wegen all der Gewaltdrohungen.

Bei der Gameentwicklerin Zoe Quinn war der Auslöser, der sie ins Visier der antifeministischen Gamer rückte, ein Ex-Freund, der in einem 10.000 Zeichen Blogeintrag das Gerücht in die Welt setzte, dass sie von einem Journalisten für Sex bessere Kritiken für ihre Games bekommen habe. Später stellte sich zwar heraus, dass der Journalist sie nur kurz in einem Artikel erwähnt hatte, und das nicht mal zu der Zeit, als sie mit ihm zusammen war, aber Fakten waren hier egal, denn es ging um etwas Größeres: Gamer versuchten ihr patriarchales Kulturterritorium gegen emanzipatorische Prozesse zu verteidigen. Frauen, Queers, People of Colour und auch viele Männer hatten die Nase aber voll davon, übten Kritik und verlangten, dass Games vielfältigere Perspektiven wiederspiegeln sollten. Das englischsprachige Twitter war 2014 ein einziges Höllenfeuer wegen diesem Kampf.

Zu den Memes auf dem Slide hier: Die typische Entgegnung der Gamer auf jegliche Sexismuskritik war damals, dass es überhaupt nicht um Sexismus in der Gamingszene ginge, sondern um die Ethik des Game-Journalismus. Weil sich mit Humor vieles besser ertragen lässt, entstanden als Reaktion, die sich darüber lustig machte, diese ganzen Memes, die eine zeitlang zur ironischen Standardantwort auf so gut wie alles gepostet wurden. Weniger lustig war es, dass wirklich massive Trollarmeen über alle Spieleblogs und anderen öffentlichen Äußerungen herfielen, die sich der Sexismuskritik anschlossen. Viele der Techniken um große Gruppen dafür zu bilden um Leute zu belästigen und fertigzumachen, und viele der rhetorischen Kniffe, die da im Gamergate auf diversen Männerrechtsforen entwickelt wurden, gehören inzwischen auch zum Standard-Online-Kampfwerkzeug der neuen Rechten, vor allem das Verabreden zum konzertierten Angreifen im Netz. Da die Mainstreammedien, gerade hierzulande, die Gameskultur immer noch als Undergroundnischenkultur abtut, statt sie ihrer wirklichen Größe, ihrem kulturellen Reichtum und ihrer weiten Verbreitung gemäß zu behandeln, bekam das Gamergate-Thema hier wenig öffentliche Aufmerksamkeit. Dort liegen aber die Wurzeln der internetaffinen Antifeministen und Rechten. Deswegen eben hier auch noch mal dieser kurze Überblick.

Plattformen und Deplatforming

Das Zentrum der Gamergate-Bewegung war ein Forum auf Reddit namens The Red Pill, und erst 2017 gelang es The Daily Beast zu enthüllen, dass der Gründer ein gewisser Robert Fisher war, ein republikanischer Abgeordneter. Da auf dem Forum einige wirklich üble frauenfeindliche Kommentare und Vergewaltigungsrechtfertigungen von ihm stammten, lief eine Untersuchung, ob er weiter als Abgeordneter fungieren dürfe, woraufhin er ziemlich schnell von sich aus zurücktrat. Auf Messageboards, vor allem eben auf The Red Pill spitzte sich Gamergate so zu, dass, wie David Futrelle, der sich seit langem auf dem Blog We Hunted The Mammoth mit der Manosphere auseinandersetzt, in einem Interview mit Aja Romano sagt, es bald nicht mehr nur darum ging, um das Recht zu kämpfen, in Videospielen Titten anstarren zu dürfen, sondern es wurde zu einem Kampf gegen den “white genocide”, den angeblichen “weißen Genozid”, die Ausrottung des weißen Mannes, um die es den sogenannten Kulturmarxist*innen angeblich eigentlich gehe.

Die Gamergate schaukelten ihre hasserfüllte Stimmung gegen Frauen gegenseitig hoch. Als auf Reddits Red Pill Forum dann doch irgendwann gegen radikale Hasspostings vorgegangen wurde, zogen viele weiter zum extremeren 4chan, als es 2014 selbst 4chan zu brutal sexistisch wurde, was da alles so gepostet wurde und sie zu moderieren und Gamergater zu bannen begannen, zogen diese zum noch extremeren 8chan Forum weiter. Im Dezember 2018 trennte sich der 8chan-Gründer Fredrick Brennan von 8chan und bereut, es gegründet zu haben. Er engagiert sich inzwischen vehement gegen diese meinungsfreiheitabsolutistische Sorte Boards, vor allem weil sie die Homebase von Anhängern der rechtsextremen Pro-Trump-Verschwörungstheorie QAnon sind. Im August 2019, nach dem vom El-Paso-Attentäter Patrick Crucius der dritte Attentäter innerhalb eines Jahres durch Radikalisierung auf dem Board bzw. sogar dem Posten eines Manifests kurz vor dem Attentat auffiel, zog sich ein Hosting Service nach dem anderen zurück und 8chan ist bis heute offline, und auch 8kun, der geplante Nachfolger hat es – nicht zuletzt dank Brennan – bis heute nicht online geschafft. (mehr Info dazu z.B. hier)

Aber noch mal zurück in die Hochphase des Gamergate: Eines der Kernmedien, von dem diese gamenden Männerrechtler angeheizt wurden, war das rechte Magazin Breitbart, mit Milo Yiannoppoulos als einer zentralen Stimme, ein eigentlich eher feminin auftretender junger Schwuler, der für so nette Botschaften stand wie “Feminismus ist Krebs”, heute aber dank dem Verbannen von Plattformen wie Twitter und Facebook so gut wie komplett vergessen ist. (Das letzte, was von ihm zu hören war, war das Klagen darüber, dass er seit er auf Twitter, Facebook und Youtube verbannt wurde, kaum mehr genug Geld zum Leben hätte. Deplatforming hilft erwiesenermaßen.) Breitbart wurde damals noch von Steve Bannon geleitet, der dann auch als Berater des US Präsidenten Trump bekannt wurde, der selbst ja auch nicht gerade für seine feministischen Züge bekannt ist.

Opferinszenierung

Trotz der dominanten, zentralen Positionen in der Gesellschaft, wie sie Vertreter maskulistischer Ansichten wie Bannon, Trump oder Peter Thiel innehaben, und trotz dem wieviele patriarchale Privilegien weiße Männer auch heute noch in der Gesellschaft haben, und trotzdem viele von ihnen immer wieder die größten mainstreamjournalistischen Plattformen für ihre antifeministischen Botschaften bekommen, ist das Werfen in die Opferpose ein Kernelement der Manosphere: Sie sehen sich als die angeblichen Opfer eines Establishments, das heterosexuelle weiße Männer unterdrücke, und auch die neue boomende Rechte in Europa hat genau diese Strategie übernommen. Beziehungsweise würde ich sagen: Foren wie Reddit, 4chan und 8chan werden ja international genutzt und es ist viel zu spät erkannt worden, wie auch aus der antifeministischen Szene heraus neue Anhänger für rechte Gesinnungen rekrutiert werden. Die Manosphere besteht eben aus solchen internationalen Foren und Blogs und Websites und Facebookgruppen, über die sich ausgetauscht und organisiert wird. Und hinter englischsprachigen Accounts stecken natürlich auch oft Leute aus allen möglichen nicht-englischsprachigen Ländern, es sind internationale Communities.

Zwischenmenschliche Beziehungen als Game: Männerrechtsforen und Pick Up Artists

Unsichere junge Männer, die Probleme haben, einem konservativen gesellschaftlichen Männerbild zu entsprechen, und die trotz des gesellschaftlichen Drucks keine Freundin abbekommen, wenden sich hilfesuchend an Männerrechtsforen oder an Pick Up Artists wie Return Of The King, auf denen sie dann zum Beispiel Beiträge finden wie “11 Tipps wie du deine Tochter auf die Rote Pille Art erziehen kannst”, wo unter anderem empfohlen wird, dass Töchtern von klein auf beigebracht werden soll, dass das Wichtigste, was sie tun können, Kinderkriegen und diese aufzuziehen ist, und Töchter zu bestrafen, wenn sie sich nicht feminin genug geben, ihnen Selbstachtung zu nehmen, indem ihnen von klein auf beigebracht werden soll, dass sie jetzt zwar attraktiv seien, aber das schnell abnehmen werde und sie sich früh einen Mann suchen müssten. Im Detail sieht das dann schon auch mal so aus, dass erklärt wird, wie Männer in Anwesenheit ihrer Tochter weibliche Bedienungen in Restaurants anbaggern sollen, sie mit Tiernamen ansprechen, ein bisschen herumkommandieren, um ihrer Tochter möglichst früh zu zeigen, was das “Game” ist.

Als zentraler Punkt der Manosphere findet sich ein Weltbild, dass Beziehungen zwischen Männern und Frauen als Game, als Spiel erklärt. Auch hier zeigen die Wurzeln und Querverbindung zu einer toxischen Ecker der Gamerkultur. Mit Game is hier auch wirklich das Spielen gemeint: mit Vorstellungen von Gewinnern und Verlierern, von Hierarchien und dass du Punkte für bestimmtes Verhalten verdienst. Das Schlimme am Feminismus ist für diese Männer letztlich, dass er Frauen soweit befreit hat, dass sie die Möglichkeit haben, Männern Sex zu verwehren, selbst wenn sie alle Regeln des Games befolgen. Es ist eine entsetzliche Pseudowissenschaft, um sowas wie ein darwinsches Überleben des Stärkeren auf dem Sexmarkt als das ‘wahre’ Verhältnis zwischen den Geschlechtern zu zementieren. Auch hier wieder dieser verschwörungstheoretische Faktor der Exklusivität: Nur die Eingeweihten erfahren diese Wahrheit des Game, die ihnen der Mainstream da draußen verheimlicht hat. Wer die rote Pille nimmt, erkennt die Wahrheit.

Alpha- und Betamänner werden nach Wert eingestuft, und das Game hat Regeln wie dass, wenn eine Frau Nein sagt, das nicht immer nein heiße, und dass Frauen es in Wahrheit nicht mögen, wenn du nett zu ihnen bist, sondern dass sie lieber Kerle haben, die sie abwertend behandeln. Weil das eben – egal was sie sagen – in ihrer Natur läge. Der Begriff “SMV” steht für den sexuellen Marktwert, “sexual market value”, und der lässt sich laut der Manosphere durch Fitness und Mode, soziale Attribute wie Körpersprache, und durch Status und Game steigern. Und Game heißt hier eben wirklich ganz konkrete Tipps und Regeln, ganz im Pick Up Artist-Stil, die letztlich nichts anderes sind, als emotionaler Missbrauch. Ein Beispiel dafür wäre die Technik des “Negging”, bei dem ein Mann die Frau immer wieder subtil kleinmacht, sie erniedrigt, nur um sie dann über kleine Komplimente wieder aufzubauen, so dass die Frau immer mehr nach seiner Bestätigung sucht.

Pick Up Artists wurden lange als Verführungskünstler oder -ratgeber verharmlost. Aber wie Veronika Kracher schreibt: “Der Grenzübertritt, die Übergriffigkeit, “ist der Kern der Ideologie von Pick-Up Artists, es handelt sich um eine maskulinistische Omnipotenzfantasie, in der die Frau nur bloßes Objekt ist, dass man sich zu eigen machen muss.” Pick Up Artists, von denen das Konzept des Game stammt erfuhren, als das Internet von immer mehr Menschen genutzt wurde, einen großen Aufschwung in der Verbreitung ihrer Blogs und Seminare, aber auch sie sind auf Onlineforen unterwegs, zum Beispiel im Seduction Reddit. Ihr auf strikten unsozialen Regeln basierendes Verständnis komplexer Beziehungsdynamiken suggeriert, dass jeder Erlernen könne, Frauen zu erobern. Während es auch hilfreiche Dating- und Beziehungsratgeber geben mag, verzerren Pick Up Artists und ihre Online Communities dieses Feld, indem sie Frauen entmenschlichen und jegliche Handlungsfähigkeit Männern zuschreiben. Sie tauschen sich detailliert aus, verabreden sich in Gruppen, um auf Frauensuche zu gehen und ihre Taktiken zu testen, und haben ein geschlossenes Weltbild, in dem weiße Männer von einer feministischen Mehrheitsgesellschaft unterdrückt werden.

Extreme der Manosphere ziehen sich bis zur MGTOW Bewegung, das steht für “Men going their own way”. Das sind Männer die Frauen so hassen, dass sie jegliche romantische oder sexuelle Beziehung zu ihnen ablehnen. Dafür gibt’s auch noch den Ausdruck “black pill”, sie wollen sich dem ganz entziehen. “Volcel” fällt da auch darunter – voluntary celibacy, das freiwillige Zölibat. Im Gegensatz zum unfreiwilligem, involuntary celibacy, den Incels. Der Begriff “Incel” hat inzwischen den Mainstream erreicht, spätestens seitdem der 25jährige Alek Minassian letztes Jahr seinen Kleinbus in eine Menschenmenge steuerte, damit 6 Menschen tötete und 10 weitere verletzte, denn es wurde bekannt, dass er sich auf Incel Boards radikalisiert hatte. Dass die Mainstreampresse Begriffe wie diesen verbreitet und erklärt, ist immer eine doppelschneidige Geschichte, da es einen aus einem höchst menschenfeindlichen Kontext heraus entstandenen Begriff auch ein Stück weit enttabuisiert oder gar normalisiert. Konsequenzen auf den Hass, der auf ihnen verbreitet wurde, folgten erst spät: Erst 2017 wurde das reddit-Board incel gesperrt, aber es gibt natürlich immer wieder neue Boards, selbst auf Reddit, zum Beispiel Braincels.

White supremacy

Aby Wilkinson, die sich lange auf dem Red Pill Forum umgeguckt hat, schreibt, dass sich auf den Foren Männer aus den verschiedensten Ecken der Gesellschaft finden, von videospielenden Teenagern, denen es an sozialer Kompetenz mangelt über ältere verbitterte geschiedene Väter bis hin zu jungen Männern auf Elite-Unis, die finden, dass Frauen ihnen nicht so viel Respekt und Zuneigung entgegenbringen, wie sie es verdienen. Und die Überlappung mit Rechten wird auch darin deutlich, dass es dort viel Rassismus gibt, es ist eine sehr weiße Angelegenheit. Es gibt zwar auch eine Black Manosphere, aber die ist, wie Aaron G. Fountain Jr. schreibt, wenn auch genauso problematisch, nur die Subkultur einer Subkultur.

Viele in der Manosphere sind der Ansicht, dass es sowas wie eine Rape Culture nur in islamischen Gefilden gäbe. Dazu kommt: Wer nicht weiß und/oder eine Frau ist und es trotzdem zu etwas gebracht hat, muss dabei irgendwie getricktst haben – so die Denke der unzufriedenen Meritokraten. Was ein echter Redpiller ist, der hat eben auch bei Rassedenken den Durchblick, ist sogenannter “racial realist”.

Frauenhass als treibender Faktor von Attentaten

Wenn über Gründe für das Erstarken der neuen Rechten nachgedacht wird, wird gerne über die Zusammenhänge von ökonomischem und Bildungs-Status in der Gesellschaft und rassistischen und antisemitischen Ideologien geredet, aber die Verbindung zwischen Online-Hass und Antifeminismus und dem Erstarken des Neofaschismus wird seltener ernstgenommen. It hits too close home, wie es so schön heißt. Ein bisschen Sexismus schadet doch nicht, ist immer noch ein gesellschaftlicher Common Sense. Aber Online-Radikalisierung betrifft nun mal nicht nur Muslime, wie so gern getan wird. Aus der Manosphere heraus sind Attentäter wie der schon erwähnte Elliot Rodger hervorgegangen, der UC Santa Barbara Attentäter, der ein 140seitiges Manifest hinterließ, zu dem ein “Krieg gegen Frauen” gehörte, als Rache dafür, dass Frauen nicht mit ihm schlafen wollten. Der 22jährige hatte noch nie mit einer Frau geschlafen. Er schrieb darin auch, dass in seiner perfekten Welt alle Frauen in Konzentrationslager gesteckt würden und er nach seinem Attentat schon alle sehen würden, dass er der wahre Alpha-Mann ist. Nicht nur das Manifest auch ein Abschiedsvideo von Rodger kursierten danach heftig im Netz und auch die reißerischeren unter den Zeitungen stürzten sich sensationslüstern darauf, was immer die Gefahr von Märtyrertum und Nachahmungstätern mit sich bringt.

Aufmerksamkeitskapitalismus: Soziale Plattformen, Medien und wir alle sind gefragt

Es wurde auch nach dem Christchurch- und dem Halle-Attentat davon gesprochen, dass die Tat auf die Verbreitung auf Social Media hin zugeschnitten war, durch das Livestreaming und durch dutzende von Anspielungen im 4Chan-Slang und Memekultur, die sich im Manifest fanden. Ein Beispiel für diese Instrumentalisierung: Die Erwähnung von PewDiePie im Christchurch-Manifest führte dazu, dass PewDiePie sich öffentlich distanzierte. Das wiederum machte viele seiner über 17 Millionen Follower überhaupt erst darauf aufmerksam. Die Gamification weist auf die Wurzeln in der Gamerszene weist auf die Wurzeln in der Manosphere, die jegliche zwischenmenschliche Beziehung als Game begreift. Nicht Gewaltexzesse in Videospielen sind das Problem, sondern die Gamifizierung als Methode, die eine Verbreitung weit über eine Spieleszene hinaus gefunden hat.

Und es geht nicht nur um die Plattformen: Mindestens genauso stark läuft die Verbreitung und Präsenz von Attentatvideos über Mainstream-Nachrichtenmedien, von denen einige Details aus Manifest und Video auch noch lange online hatten, nachdem Facebook und Youtube die Mitschnitte und Links zum Manifest offline nahmen. Es sind nicht einfach nur das böse Internet oder nur die sensationslüsternen Medien schuld, sondern es ist leider wie so oft komplizierter. Facebook wird gerne vorgeworfen, dass es nur unter aufmerksamkeitslogischen Kriterien vorgehe, aber das stimmt nicht (mehr): Facebook versucht seit inzwischen schon ein paar Jahren die Plattform zu moderieren. Was bei 2.32 Milliarden aktiven Usern, die sie 2018 hatten, halt nur nicht ganz so einfach ist. oderation ist gerade bei so gut wie jeder sozialen Plattform das heiße Thema. Seit Jahren sind sich eigentlich alle dessen bewusst, dass die Social Networks sich mit einer wirklich guten und sinnvollen Moderation gar nicht rechnen würden und dass die Probleme bis tief in den Strukturen sitzen. Letztlich sind die Internetplattformen auch eine öffentliche Infrastruktur, die von Menschen für Kommunikation, Organisation und Unterhaltung genutzt werden und Pauschalkritik an Internetplattformen lenkt davon ab, dass jede*r einzelne genauso selbst sein Umfeld mitprägt und mitverantwortlich ist.

Das sei aber bitte nicht als Tone Policing zu verstehen. Es geht hier aber um Ethik und wir sollten nicht in die “Civility Trap” laufen, wie es Ryan M Milner und Whitney Phillips nennen, beide Professor*innen der Kommunikationswissenschaften, die sich viel mit Meme- und anderer Internetkultur beschäftigt haben. Sie sagen, es gehe nicht darum, dass die Gesellschaft wieder zu einem zivilisierteren Umgangston finden müsse, und dass man nicht vergessen solle, dass der Ruf nach einem zivilisierteren Umgangston oft nur ein sogenanntes “tone policing” ist, das traditionell oft auch dazu verwendet wird, Forderungen von Marginalisierten nach mehr Gleichberechtigung zum Schweigen zu bringen. Dabei wird verdrängt, dass diese mit höflichen ruhigen Formulierungen meist einfach ignoriert werden, und nur deshalb überhaupt erst zu lauteren, zugespitzteren und aggressiveren Ausdrucksformen gegriffen haben. Ein ruhigerer Umgangston mag hilfreich sein, aber funktioniert eben nur, wenn alle Seiten mitspielen, und Höflichkeit allein löst keinen strukturellen Sexismus und keine Umvolkungs-Theorien auf, und der Verzicht auf Facebook und Twitter genauso wenig. Im Gegenteil: Die Nutzung sozialer Netzwerke hat vielen überhaupt erst eine breitere und vielfältigere Perspektive auf die Welt eröffnet. Das ist etwas, was bei all dem negativen Fokus auf Filterbubbles und Echokammern nicht vergessen werden sollte. Offliner stecken meist in viel engeren Filterbubbles und Echokammern. Was ist aber dann das Problem, wo können wir ansetzen? Nun, Milner und Philips machen als Antwort das, was gute Wissenschaftler*innen meistens machen: Sie erklären, dass und warum die Sache komplizierter ist. Kurz und grob zusammengefasst: Viele einzelne kleine, oft als Bagatelle erscheinende, unethische oder unsoziale Kommunikationsverhalten auf den Plattformen summieren sich und sind tragen genauso viel zu großen unethischen Vorfällen bei, wie zum Beispiel Vergewaltigunsdrohungen, Hasskommentare oder Mobbingattacken, auf die sich fokussiert wird. Es entsteht insgesamt ein toxisches Ökosystem.

Sie wählen zur Verdeutlichung das Bild einer Biomassenpyramide. Extremisten brauchen Verstärker, und als solche dienen nicht nur große Medien, sondern auch jede*r Einzelne von uns, die deren strategisch platzierte Inhalte weiterverbreitet, selbst wenn das geschieht, in dem wir uns drüber aufregen und davon distanzieren. Damit in einem Lebensraum ein Löwe überleben kann, braucht es ziemlich viele Insekten. Nach Milner und Philips füttern kleine unethische Verhaltensweisen – wie ein sarkastischer Kommentar, mit dem ein Newsartikel geteilt wird, oder das ironische Weiterverbreiten von einem Hoax, oder Spotten, oder Insiderjokes, usw. – sowas stärkt in der Masse überhaupt erst eine Atmosphäre, in der dann große Fälle von Desinformation wie ein Aufreger-Hasstweet von Trump überleben können. Das nur als ein kleiner Einblick, was alles zusammenspielt, Journalismus spielt da natürlich auch noch rein, auch die spezifischen Affordances der einzelnen Plattformen, usw. – aber das ist noch mal ein ganz eigenes großes Thema, vielleicht irgendwann für einen anderen Vortrag. Aber erst wenn ich das komplette Buch der beiden dazu gelesen habe, das “The Ambivalent Internet” heißt.

Steigbügelhalter Rape Culture

Zurück zum frauenfeindlichen Terror, der aus einem schädlichen gesellschaftlichen Männerbild erwachsen kann: Eliot Rodger ist kein Einzelfall und war lange nicht der erste, es wurde nur zu lange nicht so benannt: Neben den schon erwähnten, erstach zum Beispiel 2014 ein 18jähriger in Portsmouth drei Frauen und begründete seine Tat damit, dass er noch nie Sex gehabt hätte, obwohl er doch so erzogen worden sei, dass Frauen der schwächere Teil der menschlichen Rasse seien. 2009 ermordete ein Mann in Pittsburgh drei Frauen und sich selbst und hinterließ als Motiv, dass er 29 Jahre lang keinen Sex gehabt hätte. Die Vorstellung, als Mann ein natürliches Recht auf Sex mit Frauen zu haben, ist Teil dessen, was unter dem Begriff der Rape Culture gefasst wird: Ein gesellschaftliches Umfeld, in dem Übergriffe normalisiert sind, und indem z.B. große Medien das Wort “Sexattacke” statt “Vergewaltigung” benutzen, um nur eines von zahllosen Beispielen zu nennen. Jordan Peterson ist auch ein gutes Beispiel dafür wie normal, wie weit akzeptiert radikale Frauenfeindlichkeit ist. In der New York Times wurde er als “einflussreichster Intellektueller der westlichen Welt” bezeichnet, sein Buch hat sich inzwischen weit über 3 Millionen mal verkauft, und auch hierzulande schrieben einige große Zeitungen erschreckend kritiklos über ihn. Lukas Hermsmeier kritisiert ein 8seitiges Porträt, das im SPIEGEL erschienen war: „Petersons Anhänger werden als ‘einsame, sinnsuchende Großstadtjungs’ und ‘Männer, die Fragen haben statt Antworten’, verniedlicht. Dass eine britische Journalistin nach einem Interview mit Peterson Morddrohungen erhielt, wird nicht etwa auf den in Petersons Community weitverbreiteten Frauenhass zurückgeführt, sondern damit begründet, dass ‘Popularität im Netz auch Polarisierung, Wut, Hass bedeutet’. .. Peterson scheint eine Erlösung zu sein. Für all die Männer, die darauf gewartet haben, dass ein fleischfressender Professor die banale Verachtung für Feministinnen in bedeutungsschwere Sätze verpackt. Was vom ‘Spiegel’-Text hängen bleibt? ‘Nonkonformistisch’, ‘charismatisch’ und ‘neugierig’ sei Peterson. Ein Cowboy mit Positionen, die sich im ‘Spektrum konservativ-libertären Denkens’ befinden. Wie beschreibt man ihn am besten? Vielleicht so, wie es die ‘Frankfurter Allgemeine Zeitung’ im April tat, also als ‘die Stimme der schweigenden liberalen Mitte’. ”

Und um noch mal in aller Deutlichkeit das Level von Misogynie zu zeigen, für das er steht: Nach dem Anschlag in Toronto letztes Jahr, den der Täter mit einer Incel-Ideologie begründete, sagte Jordan Peterson in einem Vortrag: “Der Täter war wütend auf Gott, weil Frauen in zurückwiesen. Die Heilung dafür ist erzwungene (“enforced”) Monogamie.” Das ist für ihn eine rationale Lösung, weil Frauen sonst nur an Männern mit dem höchsten Status interessiert wären und die Hälfte aller Männer leer ausgehen würden. Das entspricht genau der Incel-Weltanschauung und wenn das tatsächlich, um das FAZ-Zitat aufzugreifen, die Stimme der schweigenden liberalen Mitte ist, wisst ihr, warum wir von einer in unserer Gesellschaft weit verbreiteten Rape Culture sprechen. In den Kreisen der Manosphere werden Vergewaltigungen schöngeredet und der Mythos aufrechterhalten, dass Männer eigentlich die größten Opfer von Vergewaltigungen seien, weil Männer überwiegend von Frauen ungerechtfertig einer Vergewaltigung bezichtigt würden. Tatsächlich sind es “je nach Untersuchung, Land und politischer Weltsicht der Autoren … zwischen zwei und acht Prozent”.

Der Verdacht der Falschbeschuldigung als Reflexreaktionist kein explizit rechtes Vorurteil, aber es ist eines. Und es ist eines, das sich im verängstigten Aufschrei vieler Männer nach MeToo wiederspiegelt, was man denn jetzt überhaupt noch dürfe. Eine Frage, die nichts anderes heißt als: werden wir jetzt wohl belangt, wenn wir eine Frau gegen ihren Willen antatschen? Es ist die Formulierung von Angst vor Konsequenzen. Und das drückt aus, wie normal Übergriffe und Missbrauch in unserer Gesellschaft sind. Deswegen sind die Angriffe der Rechten auf diesem Gebiet so gefährlich: bei diesem Thema können sie tief in der Mitte des gesellschaftlich Akzeptierten vorstoßen und Verbündete finden. Ich teile hier die These von Franziska Schutzbach, dass Antifeminismus und Anti-Gender “zu einer zentralen Chiffre [wurden], mit der die Einmittung rechter Weltanschauungen möglich wird, mit der also rechte Positionen in verschiedenen politischen Milieus gesellschaftsfähig werden.”

Szientismus, Skeptizismus, Meinungsfreiheitabsolutismus

Es sind keine klassischen Konservativen, sie sehen sich oft als Progressive. Konservative, so Jay Allen, stünden für sie für Zensur und Unwissenschaftlichkeit, während sie für Gedanken- und Meinungsfreiheit und Skeptizismus stehen. Und für Meritokratie, für eine pure Leistungsgesellschaft, ob das im Game ist, um Frauen zu gewinnen, oder auch sonst in jedem Gesellschaftsbereich: Wenn du erfolgreich bist, dann verdienst du es, weil du überlegen bist. Jede Frau oder jede* Schwarze, die erfolgreich sind, sind das nur, weil sie getrickst haben oder sie sind es wegen verweichlichender Mechanismen sozialer Gerechtigkeit, die es zu überwinden gilt. Redpiller rationalisieren noch die bösartigste Diskriminierung als Hass auf eine spezielle Person, die nur zufällig einer Minderheit angehört, statt als Hass auf die Minderheit selbst. Jay Allen erklärt auch, dass die Red Piller ihre Vorstellung, dass ihnen eine Verschwörung von Kulturmarxist*innen, die der ganzen Gesellschaft progressive Überzeugungen aufzwingen wolle, nicht nur ablehnen, weil sie sie als unfair ihnen gegenüber verstünden, sondern auch, weil sie die Warheit verschleiern würden.

Und es geht hier nicht um tatsächliche Wissenschaftlichkeit. Während die wissenschaftliche Methode sich nur mit dem beschäftigt, was beobachtet und gemessen werden kann, handelt es sich bei den Redpillern meist um Szientismus. Szientismus geht einen Schritt darüber hinaus, so Allen, und lehnt die Autorität oder den Wert von allem ab, was nicht empirisch beobachtet werden kann. Deswegen wird auch alles, was subjektiv erforscht wird, wie Philosophie, Religion und Theologie oder Kunst als minderwertig betrachtet, weil es nicht die vermeintlich objektiven Wahrheiten der hard science, der Naturwissenschaften, vorweisen kann. In der Praxis heißt das aber lediglich, dass sie ihre eigenen Ansichten, egal wie wenig beweisbar, einfach als objektiv betrachten und behaupten. Jay Allen nennt das denn auch konspirativen Szientismus und verfolgt das bis in Bitcoin-Kreise hinein. Evolutionäre Psychologie und Neuropsychologie sind auch Felder, die dort gerne missbraucht werden, um bereits vorhande Vorstellungen scheinbar wissenschaftlich zu ‘begründen’.

Dark Enlightenment, Neoreactionaries, Reactosphere

Noch stärker ist das alles bei dem sich durchaus überschneidendem Dark Enlightenment ausgeprägt, der Bewegung der dunklen Aufklärung, das neoreactionary movement, das ganz klar anti-demokratisch ist, und einem pseudowissenschaftlichen Rassismus frönt, Stichwort “racial realism” und “human biodiversity”. Die Anhänger des des Dark Enlightenment würden sowas wie eine Monarchie begrüßen, nur statt dem göttlichen Recht von Königen und der Aristokratie gäbe es ein “genetisches Recht” von Eliten, beschreibt das Klint Finley. Zu diesen Neoreactionaries, werden auch Leute wie Steve Bannon oder Peter Thiel gezählt, der Mitgründer von Paypal und Trump-Berater und Vorstandsmitglied von Facebook. Thiel (auch einer der neurechten Schwulen), hat klar geäußert, dass er bezweifelt, dass Freiheit und Demokratie miteinander kompatibel seien, nicht zuletzt weil in einer Demokratien auch Empfänger von Sozialleistungen sowie Frauen das Wahlrecht haben. Wählen sollten, ginge es nach ihm, nur die wirtschaftlich “nützlichen” Mitglieder einer Gesellschaft dürfen. Diese Neoreaktionäre Bewegung wird auch unter “reactosphere” genannt, “Reactosphäre”, ein Begriff, den auch die beiden Jungs von der Identitären Bewegung in dem Podcast, den ich eingangs erwähnte, für sich als Selbstbezeichnung in Anspruch nehmen. Ich glaub, im Deutschen ist “paläolibertär” ein ähnlicher Begriff. Aber bevor ich noch weiter in diese zahllosen rechten Verzweigungen und Subszenen abgleite, ziehe ich hier mal einen Schlussstrich und kehre zur klassischen Manosphere zurück.

Verunsicherte junge Männer geraten in toxische Männlichkeitsgruppen mit sektenähnlichen Rekrutierungsmethoden

Es wird wie gesagt auf diesen Foren ein Weltbild etabliert, dass Sex mit Frauen etwas sei, was Männer automatisch verdienen würden, wenn sie bestimmte Spielzüge korrekt absolvieren, und die Frauen, die ihnen trotzdem Sex verwehren, würden ein Unrecht begehen und seien undankbare “Feminazis”. Es wird ein Bild toxischer Männlichkeit aufgebaut, mit dem auch Männer nicht glücklich werden können, ein schädliches Männlichkeitsideal – jeder steht in Konkurrenz zu jedem, Empathie und Gefühl sind Schwächen, die es zu überwinden gilt. Diese Manosphere lockt mit der Verheißung, Jungen und Männern, die offline kein hilfreiches soziales Umfeld haben, dort online Hilfe zu finden. Wo sie nach Hilfe suchen, um mit mangelndem Selbstbewusstsein, Unsicherheiten und Beziehungsproblemen fertig zu werden, wird ihnen eine Welt eröffnet, in der es zwar schon auch um scheinbar harmlose Tipps rund um Styling, körperliche Fitness und das Aufbauen eines Selbstbewusstseins geht, aber das eben in einer Weise, die höchst hierarchische und konkurrenzgeprägte Züge trägt. Es geht immer wieder nur um Macht und deren Kehrseite: Ein Versager, ein Beta, zu sein. Jennifer Cool, eine Anthropologin, die an der USC Internetkultur und -geschichte erforscht, sieht das Problem in einer gesellschaftlichen Individualisierung des Prozesses jemanden für eine Beziehung zu finden. Nicht offline versus online, sondern wo vor vielen Jahren Leute eher durch Aktivitäten in Gruppen eingebettet waren, seien an diese Stelle heute für viele eher personalisierte Erfahrungen getreten. Und wo sie sonst keine sozialen Kontakte fänden, haben sie online die Möglichkeit eine soziales Forum zu finden, in dem sie zwar keine Partnerin fänden, aber wenigstens einen Kreis von Leidensgenossen. Was aber passiert, wenn junge verunsicherte Männer, die sonst wenig Kontakt mit anderen haben, im abgeschotteten Weltbild der Manosphere landen, kann gefährlich werden.

Es wird immer wieder mit Sekten verglichen, nicht zuletzt von ehemaligen Red Pillern selbst. Amelia Tait hat für den New Statesman mit einigen Ex-Red Pillern gesprochen. Joao aus Portugal, zum Zeitpunkt des Interviews 24 Jahre alt, stieß mit 17 Jahren auf solche Foren und er erzählt: “Ich glaubte alles, alles. Und wenn du nicht alles glaubtest… wenn du auf ein Red Pill Reddit gehst und nicht einer Meinung mit dem Rest bist, löschen sie entweder deine Kommentare oder sie versuchen sich über dich lustig zu machen und dich zu beschämen. Du kannst nichts kritisieren, weil Leute ganz schnell versuchen, dich herabzusetzen.” Jack, ein 24jähriger britischer Ex-Red Piller sagt: “Wie die Bewegung Evolutionäre Psychologie einsetzte, das überzeugte mein rationales Denken, dass alles, was ich las, ein wissenschaftlicher Fakt sei, der von Feministinnen unterdrückt werde. Ich begann male Victimhood, den männlichen Opferstatus, überall in der Gesellschaft zu sehen. Es hat meine Confirmation Bias – also die Schwäche, dass Menschen dazu neigen eher Dinge zu glauben, die ihrem Weltbild entsprechen – gefüttert, dass die Gesellschaft so aufgebaut sei, dass Männer, die auf Frauen eingehen, dafür Sex zu bekommen haben.” Einige erzählen, wie sie das Incel Forum auf Reddit immer tiefer in einen Selbsthass trieb, nachdem sie eh schon davon überzeugt gewesen waren, nichts wert zu sein, nie von jemandem begehrt zu werden, und dass all ihre Freunde und ihre Familie hinter ihrem Rücken über sie lachen würden, weil sie die simple Aufgabe, eine Freundin zu finden nicht hinbekamen.

Tim, ein 22jähriger aus Neuseeland, glaubt, er sei nur deswegen nicht dort hängengeblieben, weil er immer schon viele Frauen in seinem Freundeskreis gehabt hätte, und so auch außerhalb noch ein anderer Blick auf die Welt präsent war. Louis, ein 19jähriger aus New York erzählt, dass er es erst schaffte, sich aus dem Forum zu lösen, als es immer rassistischer wurde. Louis ist ein Schwarzer. Während sich der Männerrechtsaktivismus zwar so darstellt, als sei er für alle Männer da, geht es eigentlich um die weißen Männer, die sich nicht nur von Frauen, sondern auch durch People Of Colour, letztlich alle nicht-westlichen Menschen und queere Menschen bedroht fühlen. Der Rassismus klingt auch in einem Begriff wie “cuck” an, der zu ihrem Jargon gehört: Eine Bezeichnung für Männer, die freiwillig an ihrer eigenen Unterdrückung teilhaben, und von der Begriffsgeschichte her stammt sie aus der Pornographie und bezeichnet dort ein Genre, in dem ein Mann dabei zusehen muss, wie seine Frau mit einem anderen, typsischerweise einem schwarzen Mann Sex hat. Die rassistische Aufladung des Begriffs wurde zum Beispiel auch deutlich, als Richard Spencer dagegen protestierte “Cuckservative” als Bezeichnung für Beta Males oder Liberals zu verwenden. Er bestand darauf: “It doesn’t make sense without race.”

Der Übergang zur rechten Szene ist ein fließender

Nicht alle Frauenhasser sind Rassisten und umgekehrt, aber eine tiefsitzende Verachtung für Frauen bildet, wie es die ADL in einem Reader zur Intersection of Misogyny and White Supremacy formuliert, ein “verbindendes Gewebe” zwischen Rechten und Gruppen wie den Incels, den Mänerrechtsaktivisten und den Pick Up Artists, es sei eine robuste Symbiose, die sich gegenseitig befruchte. Beispiele: Bevor er einer der bekanntesten Rechten der USA wurde, war Christopher Cantwell auf Männerrechtswebsites unterwegs und schrieb frauenfeindliche Blogposts. Der Alt-Right Blogger Matt Forney hat seine derbsten Anti-Frauen-Posts auch auf der Männerrechtswebsite Return Of The King gepostet. Viele Rechte in den USA verwenden den Begriff “thots” für Frauen, der für “that ho over there”, “diese Hure dort drüben” steht. Ein Begriff, der soweit in den Mainstream gelang, dass er auch in Hiphoptexten gängiger Jargon ist. Auch Andrew Anglin vom Naziblog The Daily Stormer wird in dem ADL Reader zitiert: “Your worst enemy is not Jew, White Man, but your own females.” – “Dein größter Feind ist nicht der Jude, weißer Mann, sondern deine eigenen Frauen.” Oder “Weibchen”, wie females vielleicht besser übersetzt wäre. Er beschreibt sich selbst als die “Speerspitze gegen die feministische Bedrohung.” Roger Devlin, ein nationalistischer Akademiker, führt aus, dass die Women’s Liberation den weißen Männern geschadet habe, weil weiße Frauen, wenn sie die Wahl haben, nicht mehr unbedingt heiraten und Kinder kriegen, und so nicht mehr die weiße Rasse am Leben erhalten. Auch auf Incel Messageboards wird beklagt, dass die Frauen zu viel Freiheit haben, was Männer wie sie um ihr sexuelles Geburtsrecht brächte. Manche, so der ADL Reader, finden, dass, indem sie Männern Sex verwehren, Frauen eine “reverse rape” begehen, eine umgekehrte Vergewaltigung, die ihrer Ansicht nach auch Raum in der metoo Diskussion finden müsse.

So sind die Manosphere-Foren eine Szene, die, wie auch Abi Wilkinson beobachtet hat, ein Nährboden für Neofaschisten ist. Sie finden dort wütende, frustrierte junge weiße Männer und ziehen sie nach ihrem Vorbild heran. Wilkinson schreibt, dass sie bei einigen Forenmitgliedern, deren Postings sie von früher bis heute gelesen hatte, eine Entwicklung lesen konnte, die von einer vagen Unzufriedenheit und dem Verlangen nach sozialem Status und sexuellem Erfolg bis hin zum voll ausgebildeten Festhalten an einer geschlossenen Ideologie von weißer Vorherrschaft und Frauenhass reichen.

Radikalisierungsmethoden: taktische Ziele, Manipulation, Polarisierung

Es ist kein Zufall, dass Rechte solche Foren nutzen, um Männer zu radikalisieren, sondern es ist Teil einer breit angelegten Taktik. Julia Ebner zählt in ihrem Essay “Counter-Creativity” in ‘Sociotechnical Change from Alt-Right to Alt-Tech’ drei taktische Ziele auf:

  • Radikalisierungskampagnen die an mögliche Sympathisanten gerichtet sind (da würde die Arbeit auf solchen Foren darunter fallen)
  • Manipulationskampagnen, die auf den gesellschaftlichen Mainstream gerichtet sind
  • Einschüchterungskampagnen, die auf politische Opponent*innen abzielen

In rechten Netzwerken werden Anleitungen geteilt, strategische Dokumente, in denen erklärt wird, wie man Gespräche anfangen kann, Vertrauen aufbaut, weitverbreitete Missstände ausnutzen kann und wie man die Sprache auf die Person zuschneidert, der man seine Ideologie nahezubringen versucht. Alice Marwick und Rebecca Lewis erklären in ‘Media Manipulation and Disinformation Online’, wie ein Amalgam aus Verschwörungstheoretikern, Technologie-Libertären, weißen Nationalisten, Männerrechtlern, Trollen, Anti-Feministen, Anti-Immigrations-Aktivisten, und gelangweilten jungen Leuten die Techniken der partizipatorischen Kultur, z.B. Memes, und den Angriffspunkten von Social Media einsetzen um ihre Überzeugungen zu verbreiten. Sie nutzen ganz gezielt die Möglichkeiten, die ein wegen Werbungsfinanziertheit auf Aufmerksamkeitsökonomie hin strukturiertes Internet bietet, um Schwächen im Newsmedienökosystem auszunutzen.

Ein Beispiel bei Marwick und Lewis ist 8chan/pol. Auf diesem Forum werden selbst angefertigte Memes und andere Bilder untereinander getauscht, kommentiert und Verbesserungstipps gegeben. Es ist bis hin zu angemessenen Verhaltensweisen auf Effizienz hin durchstrukturiert, so werden zum Beispiel Neulinge dazu angehalten, erst mal eine Weile nur mitzulesen, um die Gruppennormen zu verstehen, und sollen erst dann selbst posten. Ein konkretes Beispiel, wie sich dort gegenseitig etwas beigebracht wird, wäre, dass jemand dort z.B. anonym eine Flowchart postet, die Schwächen im liberalen Denken aufzeigen soll, und in dem Posting um Feedback bittet. Die Antwort hier mal als längeres Beispiel, um zu sehen, wie diese Ratschläge sich detailliert mit Zielgruppen und Medienpsychologie auseinandersetzen:

“This may seem like a good argument to people who already agree with it, but it
won’t make it past any memetic defenses of the brainwashed. You need to make
the message short and simple, so that the reader has already intaken [sic] all
of it before their brain shuts it down. And you need to make it funny so that it
sticks in their brain and circumvents their shut-it-down circuits.”

So werden gemeinsam Techniken und Memes ausgearbeitet, wie sich ihre Ideologie verbreiten lässt und Normies geredpillt werden können. (”Normies” ist Internetsprache für nicht sehr internetaffine Menschen aus der gesellschaftlichen Mitte.)

Die Rechten teilen auf ihren Plattformen, zu denen z.B. auch Discord zählt, auch ein breites Angebot von Literatur miteinander, um mehr über Medien und öffentliche Meinung zu lernen. Dazu gehören klassische Medienstudien und soziologische Texte wie “Understanding Media” von Marshall McLuhan und “The Crowd” von Gustave Le Bon, ebenso wie Material zu Propaganda und Überzeugungstechniken, aber auch Saul Alinskys “Rules For Radicals” oder weniger bekannte Literatur über subliminale Werbung und Gehirnwäschetaktiken der US-Regierung. Social Engineering ist auch ein beliebtes Thema, die Praxis psychologischer Manipulation um Leute zu bestimmten Aktionen zu bringen. Das reicht von akademischen Publikationen bis zu radikalen Manifesten, von Marketing Texten bis zu CIA Trainingsmaterial und vielem mehr. Es ist klar, dass es ihnen darum geht, ein breites Verständnis der Medienumgebungen zu entwickeln, um sie besser zur Verbreitung ihrer Ideologie ausnutzen zu können.

Es geht um strategische Verstärkung und Framing und bei letzterem ist auch immer wieder wichtig, dass es für die Manipulatoren egal ist, ob Medien über ein Ereignis als etwa tatsächlich Geschehenes berichten, oder ob sie darüber berichten, um es zu Debunken, also: um es Richtigzustellen. Es geht gezielt darum, überhaupt eine Berichterstattung darüber zu bekommen. Es geht um Agenda Setting, das Setzen von Themenschwerpunkten. Denn: Wenn über ein Thema viel berichtet wird, erscheint es als ein bedeutendes Thema, es erscheint dann so, als müsse ja quasi was dran sein, sonst würden die großen Medien ja nicht dauernd darüber berichten. So schaffen es rechte Gruppierungen auch immer wieder, sich größer erscheinen zu lassen, als sie sind und traurigerweise gleichzeitig auch, mehr Anhänger*innen zu finden, da mehr Menschen dann glauben, dass etwas dran sein müsse – siehe nur die Berichterstattung über Flüchtlinge.

Es geht aber nicht nur ums Agenda Setting, sondern das Framing, also wie ein Ereignis gedeutet wird, ist ihnen natürlich auch wichtig, da bekannt ist, dass eine Misinformation fast nie wieder komplett richtiggestellt werden kann, wenn sie mal richtig die Runden gemacht hat. Richtigstellungen sind oft langweiliger und komplizierter und werden deshalb lange nicht so weit verbreitet.

Ein halbwegs aktuelles Beispiel wäre die Berichterstattung über den Angriff auf Frank Magnitz, bei dem es die Rechte schaffte, dass die Medien ein einprägsames Bild des blutüberströmten AfD-Politikers mit der Meldung verbreiteten, er sei von Linksradikalen mit einem Kantholz niedergeschlagen und am Boden liegend noch getreten worden. Beides wurde im Nachhinein dank Videoaufnahmen entkräftet, aber das erste Framing bleibt immer ein gutes Stück weit haften. Wenn selbst der Bundespräsident vorschnell das falsche, rechte Framing übernimmt, das die Tat als Gewalt von politischen Gegnern darstellte, ist es schwer, das wieder rückgängig zu machen.

Noch dazu verbreitet sich durch solche Richtigstellungen im Nachhinein eine immer größere Unsicherheit, was denn überhaupt noch wahr sei, an dem, was die großen Newsmedien berichten. Auch das nutzen die Rechten bewusst, denn dieses Chaos arbeitet ihnen zu: Je mehr gesellschaftliche Verunsicherung, desto mehr mögliche Leute, die sich radikalisieren lassen. Es wird bewusst in der Grauzone, der Zone der Unentschlossenen, manipuliert; es ist eine taktische Polarisierung, die die Gesellschaft immer weiter spalten soll, damit sich binäre Welterklärungsmodelle durchsetzen. Die moderate Mitte soll dazu gebracht werden, eine Seite zu wählen, damit die politischen Ränder stärker werden, so Julia Ebner.

Rechte Hive Mind, die vom Chaos profitiert

Es sollte klar sein, dass es sich bei diesen Kreisen nicht um ein paar verwirrte Köpfe handelt, sondern dass hier eine Hive Mind am Werk ist, die sich stetig verändert, keine geschlossene Gruppierung, sondern eine die überall lose Enden zur Anknüpfung hinterlässt und die von einem immer chaotischer erscheinenden Weltbild profitiert. Und die von der Aufmerksamkeitsökonomie der sozialen Plattformen profitiert.

James Bridle beschreibt im Conspiracy-Kapitel von New Dark Age (Übersetzung von mir): “Wenn du dich auf Social Media einloggst und beginnst nach Information zu Impfungen zu suchen, wirst du schnell deinen Weg zu Anti-Impf Meinungen finden. Und wenn du solchen Informationsquellen erst mal ausgesetzt bist, werden andere Verschwörungen – Chemtrailers, Flatearthers, 9/11Truthers – in deinen Feed promoted. Schnell fühlen sich diese Meinungen wie die Mehrheit an: Eine endlose Echokammer unterstützender Meinungen. … Wenn du online nach Unterstützung deiner Ansichten suchst, wirst du sie finden. Und darüberhinaus, wirst du einen andauernden Stream der Bestätigung gefüttert bekomme: mehr und mehr Information von immer extremeren und polarisierenderen Natur. So graduieren Männerrechtsaktivisten zu weißem Nationalismus, und so fallen unzufriedene muslimische Jugendliche dem gewalttätigen Jihadismus anheim. Das ist algorithmische Radikalisierung, und sie arbeitet den Extremisten in die Hände, die wissen, dass Polarisierung der Gesellschaft ultimativ ihren Zielen nutzt.”

Danah Boyd, Gründerin von Data & Society, formuliert es in ihrem Essay ‘The Messy Fourth Estate’ über die Rolle des Journalismus beim Erstarken der Rechten so: “In zeitgenössischer Propaganda geht es nicht darum, jemanden davon zu überzeugen, etwas zu glauben, sondern sie davon zu überzeugen, das zu bezweifeln, was sie zu wissen glauben.” Womit wir wieder beim verschwörungstheoretischen Denken wären, auf das ich am Anfang des Vortrags eingegangen bin.

Den Einschlag absorbieren

Ich hab eine Weile überlegt, wie ich diesen Vortrag beenden will, klassisch mit einem zusammenfassenden Resümée, mit einer kämpferischen feministischen Ermutigung oder mit Werkzeugen zum Dagegenhalten, aber ich hab mich dann für einen etwas längeren Auszug aus dem eben erwähnten Essay von Danah Boyd entschieden, die seit vielen Jahren zu Jugendlichen und Internetnutzung forscht, als eine Art offenes Ende, das hoffentlich zum Weiterlesen, Weiterdenken und Aktivwerden anregt. Danah Boyd schreibt (Übersetzung von mir):

“Als Kind, wenn ich gegen alles und jeden aufbegehrte, was es meine Mutter, die mich nachts hielt, bis ich einschlief. Als ich ein Teenager war und meine Nächte im Usenet durchchattete, waren es zwei Leute, die mir im Gedächtnis blieben, wie sie mich auffingen und mir halfen wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen, ein Soldat im Einsatz und eine Transgender Frau, die mir beide das Gefühl gaben, mich zu halten, während ich verrückte Fragen stellte. Sie haben den Einschlag absorbiert und mir eine andere Art zu denken gezeigt. Sie haben mir die Macht von Fremden gezeigt, die jemanden in einer Krise beraten. […]

1995, als ich versuchte, meine Sexualität zu verstehen, begab ich mich in diverse Onlineforen und stellte einen Haufen idiotische Fragen. Ich wurde quasi adoptiert von der schon erwähnten Transgenderfrau und vielen anderen, die mir zuhörten, mir Hinweise gaben, und mir halfen, mich durch das hindurchzudenken, was ich fühlte. 2001, als ich versuchte herauszufinden, was die nächste Generation tat, realisierte ich, dass Jugendliche, die ähnlich mit etwas zu kämpfen hatten, viel wahrscheinlicher bei einer christlichen Gay Conversion-Therapie landen würden, als bei einem sie unterstützenden Queer Peer. Queere Menschen hatten es satt, von anti-LGBT Gruppen attackiert zu werden und hatten sich Safe Spaces in privaten Mailinglisten geschaffen, die ein verlorener queerer Jugendlicher nur schwer finden konnte. Und so wurden diese Jugendlichen in ihren dunkelsten Stunden von denen mit einer schmerzhaften Agenda aufgefangen.

Spul noch mal 15 Jahre vor und Teens, die versuchen soziale Themen zu verstehen, finden keine progressive Aktivisten, die dazu bereit sind, sie aufzufangen. Sie finden die sogenannte Alt-Right. Ich kann euch gar nicht sagen, bei wie vielen Jugendlichen, die wir Fragen stellen sahen, wie ich sie stellte, wir beobachteten, wie sie von Leuten zurückgewiesen wurden, die sich mit progressiven sozialen Bewegungen identifizieren, nur um dann Kameradschaft in Hassgruppen zu finden. […]

Verbring mal etwas Zeit damit, die Kommentare unter den YouTube Videos von Jugendlichen zu lesen, die damit kämpfen, die Welt um sie herum zu verstehen. Du wirst schnell Kommentare von Leuten finden, die Zeit in der Manosphere verbringen oder sich dem white supremacy Denken verschrieben haben. Sie tauchen da rein und reden mit diesen Jugendlichen, bieten ihnen ein Gerüst an um die Welt zu erklären, eines, das in zutiefst hasserfüllten Vorstellungen wurzelt. Diese selbstberufenen Selbsthilfe-Akteure umwerben Menschen, damit sie sehen, dass ihr Schmerz und ihre Verwirrung nicht ihr Fehler ist, sondern der Fehler von Feminist*innen, Immigrant*innen, People Of Color. Sie helfen ihnen, zu verstehen, dass die Institutionen, denen sie eh schon misstrauen – den Nachrichtenmedien, Hollywood, Regierung, Schule, Kirche -, sogar daran arbeiten, sie zu unterdrücken. Die meisten, die diesen Ideen begegnen, werden sie nicht annehmen, aber manche werden es. Und die anderen werden vielleicht nie mehr den Zweifel los, der in ihnen gesät wurde. Es braucht nur einen kleinen Funken.”

Ach, dieses Wählen!

Über Politik jenseits von Feminismus, Queer Rights oder Antirassismus zu sprechen und schreiben war für mich lange Zeit ein No-Go, weil selbst meine sonst wirklich heißgeliebten linken Kreise recht gut darin sind, so gut wie jede Form von öffentlicher politischer Äußerung, die nicht genug Theoriebildung vorzuweisen hat, als naiv abzutun oder wegen einzelner Punkte komplett niederzukritisieren, am besten gleich zu mehrt. Ich denke aber gerne laut nach, dafür lieb’ ich ja auch neben offline-Gesprächen Social Media und dazu hab ich ja auch diesen Blog, und ich höre gerne Gedanken anderer zu Themen, die mir im Kopf rumgehen. Es hat seine Gründe warum es Greta Thunberg und Rezo schaffen, viel mehr Menschen zu politisieren, ihnen den Funken Hoffnung zu geben, den es braucht, um sich zu engagieren. Anyway. Eigentlich denk ich mir, dass es immer gut ist, wenn sich Menschen Blößen geben, und aus “dummen” Fragen, die ich gestellt habe, hab ich immer am meisten gelernt. Im Netz hab ich das in den letzten Jahren etwas verlernt, aber gerade habe ich wieder Lust darauf. Deswegen schreib ich hier jetzt einfach mal auf, was mir so zu meiner Wahlentscheidung zur Europawahl 2019 durch den Kopf ging.

Sonst liegt bei mir über Wahlen immer so ein frustrierter Schleier der unbefriedigenden Kompromisse, aber diesmal hob er sich bei mir und zwar aus einem simplen Grund: Bei der Europawahl gibt es keine 5%-Hürde. Plötzlich die Hoffnung unter den Kleinparteien eine zu finden, die für genau meine Interessen steht.

Die letzten Wahlen hatte ich immer brav die Linke gewählt, nachdem ich meine jugendliche Trotzphase des Nichtwählens (weil Wählen das ungerechte System bloß stützt) hinter mir gelassen hatte. Aber selbst bei der Linken hatte ich ein Bauchgrummeln – von Wagenknechts Ausspielen von Flüchtlingen gegen Arme und Schlechtverdienende bis zu Leuten mit antisemitischen Tendenzen. Dass viele wirklich tolle Leute in der Linken dagegenhielten, machte es zwar besser, aber irgendwie wünsche ich mir wie so viele andere doch immer die perfekte Partei statt den besten Kompromiss. Aber selber in einer Partei engagieren um das mitzuformen – das wär mir dann doch zu viel. Eine Freundin, die das gerade begonnen hat, bewundere ich sehr für diesen Schritt.

Aber weiter zu meiner Auswahl: SPD und Die Grünen sind für mich unwählbar, weil sie über die Jahre so viel aktiv zu sozialer Ungerechtigkeit und zu einem beängstigendem ‘Sicherheits’apparat beigetragen haben, und ihnen letztlich wenn’s um was ging, Wirtschaft stets wichtiger als soziale oder Klimapolitik war. Eine rotgrüne Regierung führte Hartz 4 ein, selbst bei ihrem Hauptthema Umwelt knickten die Grünen regelmäßig bei Themen wie z.B. Atom/Kohle-Ausstieg ein. Davon, dass sie Leute wie den verkappten Rechten Boris Palmer nach wie vor in ihrer Partei dulden, ganz zu schweigen.

Wenn Julia Reda noch kandidieren würde, wäre mein Wahl klar, da sie immer wieder im Alleingang die Piraten wählbar machte. Beste Person im ganzen EU-Parlament. Ihr Engagement und das ihres Teams war fundiert, kämpferisch, integer, und nicht nur Richtung Parlament, sondern auch immer Richtung Bürger*innen argumentierend. Durch sie fühlte ich mich ernstgenommen, informiert und gut vertreten. Aber steht leider nicht mehr zur Wahl.

Ich war wie gesagt neugierig auf die ganzen Kleinstparteien, die den politischen Trott ein bisserl durchwirbeln könnten. Die meisten konnte ich schnell aussortieren, nicht links genug oder thematisch zu eng, oder nicht entschieden genug gegen Rechts.

Volt wurde mir von einigen in die Social Media Timeline gespült, aber das ist die parteigewordene Startupkultur. Gutes Marketing, die richtigen Buzzwords setzen, aber bloß nicht zu anstrengend ‘politisch’ rüberkommen. Vom Spektrum her würde ich sie so zwischen FDP und Grüne positionieren – Wirtschaftsliberale meet Neoliberale. So fresh, dass sie sich als “weder links noch rechts” positionieren. Dazu kommt noch ein Fokus auf Sicherheitspolitik, den ich auch eher gruslig finde – lest mal die Begründungen z.B. auf Voteswiper, da wird ihr Fokus auf Stärkung von Wirtschaft und Polizei/Armee noch deutlicher.

Um das hier mal abzukürzen: In die engste Auswahl kamen bei mir dann Ökolinx um Jutta Ditfurth und Diem25, in Deutschland als ‘Demokratie in Europa’ auf dem Wahlzettel. Ökolinx sind politisch in vielem mein Ding, aber so furchbar altbacken links, dass ich sie einerseits für ihre Kompromisslosigkeit bewundere, ihnen aber einfach bei Themen wie neue Technologien und Klima nicht zutraue, meine Interessen zu vertreten.

Entschieden habe ich mich dann für Demokratie in Europa / Diem25, ganz schlicht, weil sie die einzige kapitalismuskritische Partei sind, die für soziale Gerechtigkeit steht UND eine transnationale paneuropäische Partei ist. Letzteres ist mir superwichtig, weil ich der Überzeugung bin, dass, wenn wir bei Themen wie der Klimakatastrophe und dem Umgang mit neuen Technologien ernsthaft etwas reißen wollen, wir über das Denken und Organisieren in Nationalgrenzen hinaus müssen.

Diese Punkte haben sich für mich tatsächlich erst bei meiner Auseinandersetzung mit verschiedenen Parteien und durch Gespräche mit Freund*innen und auf Social Media als die für mich wichtigsten herauskristallisiert: Ich will eine Partei, die sich scharf gegen Rechts stellt und in ihren Ansätzen zu Klima, sozialer Gerechtigkeit und Technologie transnational denkt. Alleine dafür, dass ich mir dessen bewusster bin und das für mich abgewogen habe, hat sich die Beschäftigung damit schon gelohnt. Und ja, ernsthaft: Bei dieser konkreten Mischung von Anliegen traue ich DiEM25 / Demokratie für Europa am meisten zu. Und ich glaube mehr an eine Reform der EU als an eine Revolution/ierung, vor allem in dem engen Zeitraum, der uns gerade beim Klimathema noch bleibt. Auf letzteres zu setzen, halte ich für naiv.

Bevor ihr mich für meine Entscheidung disst: Selbstverständlich ist das gleichzeitig aber auch wieder keine perfekte Partei, ich sag nur Assange und Zizek. Aus der antideutschen Ecke wurde angeprangert, dass sie sich nicht genug vom BDS distanzieren. Auch dass Varoufakis sich nicht im EU-Parlament festsetzen lassen will – eine Strategie, aus der er eigentlich schon länger kein Geheimnis macht – wird plötzlich als Enthüllung einer Täuschung hochgejizzt, kurz: Das Dreckwerfen ist in vollem Gange und an jeder Partei gibt es genug zu kritisieren. Ich werde Demokratie in Europa / Diem25 auch für Punkte, die mir nicht passen, weiterhin kritisieren, genauso wie ich das seit Jahren bei der Linken mache und sie trotzdem für den kleinsten Kompromiss hielt und sie voraussichtlich auch weiter wählen werde, wo immer es die 5%-Hürde gibt.

Ich fand übrigens auch Die Partei wieder mal sehr nützlich mit ihrem Briefwahl-Tool und dem Ersatz für den Wahlomaten, und bei aller Kritik schätze ich sie schon immer wieder als widerborstiges Element im EU-Parlament, das oft den Blick auf Themen lenkt, die sonst untergehen oder das scharfes Konter gibt. Wählen würde ich sie nicht, aber ich bin mir eh sicher, dass sie es wieder reinschaffen.

Und apropos Wahltools: Neben dem Wahlomaten, der inzwischen wieder online ist, fand ich den Voteswiper, der kein 8-Parteien-Limit hat, ganz gut. Ich schätze diese Tools dafür, dass sich recht übersichtlich Begründungen der Parteienpositionen zu einzelnen Punkten nachlesen lassen. Die 200-Seiten-Parteiprogramme sind mir denn doch too much. Und es lohnt sich wirklich, nicht einfach nur die zahlenmäßige Übereinstimmung anzugucken, sondern die Begründungen zu lesen! Ein Beispiel: Bei der Frage “Soll die EU die Laufzeiten für Atomkraftwerke auf 40 Jahre begrenzen?” war für mich der Fokus auf “begrenzen” und als jemand, die einen möglichst frühen Atomausstieg will, habe ich “Ja” angeklickt. Aber unter den Parteien, die einen schnelleren Ausstieg wollen, gibt es sowohl welche, die hier “Ja” angeben als auch welche die “Nein” angeben – gemeinsam haben sie, dass sie in ihrer Begründung schreiben, dass ihnen 40 Jahre zu lang sind. Die einen werden dann halt als mit deiner Position übereinstimmend gewertet, die anderen nicht.

Jo. Das war’s mit meinen halbgaren Gedanken zur Wahl. Ihr könnt gerne auch eure mit mir teilen. Ich höre da ja immer auch gerne andere Ansichten, auch wenn es nicht immer gut für meinen Puls ist. ^^

Ach ja, das Bild oben ist von Wolfgang Tilmans Insta: “I don’t want to wake up in a Europe like this.”

Und jetzt stürze ich mich in ein sehr spätes Frühstück und mach mich an’s Musik raussuchen. Falls ihr in Nürnberg seid, heute Abend lege ich mit Ramshackle bei HERE auf!

Kill All Normies – ein Faszinationsproblem

Eine englische Version dieses Posts ist hier veröffentlicht worden und eine tl;dr Version wird es in Druckform geben, in Analyse & Kritik.

“this is not a book about the alt-right. It is an anti-Left polemic.”
Jordy Cummings

‘the centre’ – as a proclaimed area of shared, sensible assumptions about the values, needs and possibilities of a political community, defined against threatening ‘extremes’ – is a frequently remade fiction, masking specific ideological commitments and positioning
Tom Crewe

Jetzt halt doch noch, ewig spät, ein paar Worte zu Angela Nagles Kill All Normies. Anlass ist, dass immer noch und immer wieder ärgerlicherweise neue Texte veröffentlicht werden, die sich kritiklos darauf beziehen. Aktuell gab mir den Anstoß ein Artikel von Klaus Walter, der einfach Nagles (wiederum von der Alt-Right-Selbstdarstellung kritiklos übernommene), These übernimmt, Alt-Right sei der neue Punk.
Manchmal wird in diesen Texten das Wörtchen “umstritten” eingebaut, eine Art magische Formel, die zwar signalisiert, dass geahnt wird, dass Kritik angebracht wäre, aber die gleichzeitig davon befreit, diese zu leisten. Ich würde mir bei dem Bekanntheitsgrad, den Kill All Normies inzwischen erreicht hat, aber eher wünschen, dass dieses Buch so kritisch diskutiert und zerpflückt würde wie der Sokal (Squared) Hoax und einen kleinen Beitrag dazu möchte ich hier leisten.

Keine Quellenangaben, gehässiger und schludriger Stil

Ein Grund dafür wäre schon allein Nagles “sloppy sourcing”: Es gibt keine Quellenangaben in diesem Buch. Das macht nicht nur eine Verifizierung schwierig, sondern es ist auch kaum möglich, Aussagen zu kontextualisieren. Libcom haben sich die Mühe gemacht, Quellen nachzuspüren, und ihnen ist aufgefallen, dass es Stellen gibt, die im Wortlaut Wikipedia-Einträgen gleichen. Wenn man so vorgeht, kann es denn schon mal passieren, dass man einfach die Selbstbeschreibung eines Faschisten übernimmt. In Nagles Fall Aleksandr Dugins Beschreibung seines eigenen Buches. Ähnlich Problematisches hat Charles Davis zusammengetragen, zum Beispiel dass Nagle Ereignisse basierend auf News-Artikeln beschreibt, die sie nicht zitiert, aber dabei die Stellen der Artikel weglässt, die nicht ihr Argument stützen (z.B. ihre Behauptung, dass Campus-Linke zunehmend unvernünftig und unzumutbar agieren würden).

Auch die boulevardjournalistische bissige Ausdrucksweise, die Kill All Normies prägt, einige Rechtschreibfehler und insgesamt ein Schreibstil, dem man die Schnelligkeit anmerkt, mit der dieser Text heruntergeschrieben wurde, finde ich kritisierenswert. Es wurde anscheinend kaum Arbeit ins Editieren gesteckt und, wie gesagt, auf überprüfbare Quellenangaben verzichtet. Das ist vielleicht für eine Bloggerin wie mich okay, die nicht viel Zeit und keinen redaktionellen Background und Ressourcen hat, aber für ein veröffentlichtes Buch, das inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt erschienen ist, und nun in großem Ausmaß die Runde macht und selbst von Menschen mit akademischem Background als angeblich seriöser Beleg verwendet wird, ist es eigentlich ein No Go. Ich kann nur annehmen, dass der Verlag Zero wohl darauf gesetzt hat, dass ein so reißerisches Werk ihm auch in dieser schludrigen Version aus den Händen gerissen wird. Und das hat ja auch geklappt. Clickbait in Buchform.

Jules Joanne Gleeson ordnet das Buch genremäßig ganz treffend als “Reiseerzählung für Internetkultur” ein, den exotisierenden Aspekt beschreibend: “Kill All Normies wirft einem Publikum, von dem sie erwartet, dass es das Erzählte als fremd und pikant empfindet, mit einer Reihe von Kuriositäten und Seltsamkeiten (von Neonazikults bis zu Teenagern mit undurchschaubaren Gendern) vor. Nagle versucht, sich selbst als distanzierte und ironische Forscherin darzustellen, aber an verschiedensten Punkten wird all zu klar, wo ihre Interessen liegen.”

[Hinweis: Die groben Übersetzungen aus dem Englischen sind alle von mir, die englischen Originaltexte zum Nachlesen verlinkt.]

Ablehnung des Femininem, internalisierte Misogynie

Nagles Buch durchzieht eine Ablehnung des Femininen und von Verletzlichkeit. Sie ist spürbar genervt von Feminist*innen und liest sich, als wäre sie gern “one of the guys”, a “cool girl”, es riecht hier geradezu nach internalisierter Frauenfeindlichkeit. Sie schafft schon allein in kleinen sprachlichen Details eine subtile Stimmung gegen Personen, die sie dem Tumblr-Liberalism zuordnet. So beobachtet z.B. Jordy Cummings dass Nagle bei Denkern, die sie schätzt, deren Titel (z.B. “Doktor” oder “Professor”) verwendet, aber bei Leuten wie Judith Butler den Titel weglässt.

Um Gamergate, eines der Initialereignisse im Entstehen der Alt-Right zu beschreiben, hält sie es doch tatsächlich für hilfreich, Folgendes zu schreiben:

“Gamergate itself kicked off when Zoe Quinn created a video game called Depression Quest, which even to a nongamer like me looked like a terrible game featuring many of the fragility and mental illness-fetishizing characteristics of the kind of feminism that has emerged online in recent years. It was the kind of game, about depression, that would have worked as a perfect parody of everything the gamergaters hated about SJWs (social justice warriors).
Nevertheless, her dreadful game got positive reviews from politically sympathetic indie games journalists, which turned into a kind of catalyst for the whole gamergate saga.”

Das sei auch mal deswegen in dieser Länge zitiert, damit ihr einen Geschmack von ihrem Stil bekommt. Wie Noah Berlatsky dazu anmerkt: Kein Wort darüber, dass Zoe Quinn selbst unter Depression litt, und dass die Tatsache, dass ihr Spiel sich um Traurigkeit und Zerbrechlichkeit dreht – und damit weiblich kodiert ist – einer der Hauptgründe war, warum sie dem Gamergate-Mob so ein willkommenes Opfer war (Quinn war eine der Frauen, die im Rahmen von Gamergate unter den massivsten misogynen Attacken zu leiden hatte).

An manchen Stellen, an denen Nagle so verächtlich über das offene Zeigen von Verletzlichkeit schreibt, wartete ich fast drauf, dass sie selbst gleich die Beschimpfung “snowflakes” verwendet. Wenn sie über die vermeintliche Schwäche einer Frau wie Zoe Quinn schreibt, die sich über Jahre hinweg mit Mord- und Vergewaltigungsdrohungen und dem Ausbreiten privater Details in der Öffentlichkeit herumschlagen musste, erschreibt sich Nagle dabei gleichzeitig implizit selbst als tough-minded Kritikerin von Feminismus und jedes Zeigens von Verletzbarkeit, und: als sehr konservativ, was Gender Politics angeht.

Sie beschreibt die Hässlichkeit rechter Propaganda im Netz schon deutlich, aber es klingt immer wieder durch, dass sie einen Tick zu viel Verständnis für die Alt-Right und Sexisten der Manosphere hat. So zum Beispiel wenn sie über die Wurzeln der Incels schreibt. In ihrem Kapitel über die Manosphere übernimmt sie unkritisch die Theorie der Incels, dass die sexuelle Revolution zu einer “steilen sexuellen Hierarchie” geführt habe und beschreibt den Rückgang von Monogamie ebenso unkritisch als Ursache für eine “Hackordnung” unter Männern, wie Donald Parkinson aufgefallen ist: “Die Idee, dass diese Männer einfach keinen Sex abkriegen und deswegen dazu verdammt sind, so reaktionär zu sein, nährt perfekt die Ideologie von Reddit Incels.” Es wundert kaum, dass Nagle auch Jordan Peterson nicht besonders kritisch sieht, der ja vergangenes Jahr mal Monogamiezwang als Lösung für misogyne Gewalt vorgeschlagen hat. Auch Jonathan Haidt feiert sie natürlich ab.

Was ich dem Büchlein zu gute halten ist, ist, dass es viele Subszenen dessen, wie sich die rechte US-Szene online darstellt, und ein paar feine Unterscheidungen vorstellt, aber das haben andere auch schon geleistet, und sachlicher. Nagles nerdige Faszination hat Schlagseite. Sie geht ellenlang auf Pat Buchanan und Milo Yiannopolous ein, zitiert diese auch wörtlich und übernimmt deren Thesen über einen angeblichen Autoritarismus der Linken, aber ihre Darstellung der Linken? Wow. Da erschreibt sie durch grobe Vereinfachungen und durch stimmungsmachende Beschreibung, wie zum Beispiel die (Vokabeln wie ”hysterisch”, “empfindlich”, “absurd” fallen immer wieder; sie nutzt die durch Feminisierung abwertende Sprache, die auch die Alt-Right nutzt) und durch Auslassungen überhaupt erst das undifferenzierte und unzutreffende Bild einer geschlossenen, allgegenwärtigen hypersensiblen PC-Zensur-“Linken”, das sie für ihre These braucht.

Konstruktion und Dämonisierung einer imaginären Linken: “Tumblr Liberalism”

Eine solche Auslassung ist es zum Beispiel, wenn sie, um die “Linke” als anti-free speech Bewegung darzustellen, die Proteste anlässlich des Besuchs von Milo “Feminism is cancer” Yiannopolous in Berkeley nur als Angriffe auf Redefreiheit beschreibt, aber mit keinem Wort erwähnt, dass der wichtigste Grund dafür, dass die Proteste so drastisch ausfielen, der war, dass Yiannopolous angekündigt hatte, dass er in seiner Rede Immigrant*innen ohne Papiere namentlich outen und so der Abschiebung preisgeben wollte, und er seine Fans aufrief, es ihm gleichzutun. Ein Angriff auf die Verletztlichsten unserer Gesellschaft, wie Andrew Stewart schreibt, und sich dem radikal entgegenzustellen, sich für diese konkret bedrohten Menschen einzusetzen, war das Anliegen der Protestierenden. Das in ihrer Beschreibung der Ereignisse einfach wegzulassen, ist schlicht verfälschend. Angela Nagle stellt sich hier auf die Seite eines Free Speech Absolutismus, und schlimmer noch: obwohl es auch ein Kernthema der rechten Propaganda ist, setzt sie ihre Haltung als Status Quo, und Gründe dagegen interessieren sie nicht. Es gibt noch weitere Beispiele, wie Nagle Campus-Konflikte einseitig und mit Auslassungen arbeitend darstellt, um sie als “anti-free spech” Zensur statt als politischen Protest darzustellen. Diese könnt ihr z.B. in Richard Seymours “The negative dialectics of moralism” finden.

So wie sie hier die komplexeren Hintergründe weglässt, geht Nagle auch vor, wenn sie progressive linke Ansätze, auf Diskriminierungspolitik im Alltag fokussierte Identitätspolitics und neoliberale Diversity-Ansätze und viele mehr einfach in einen Topf wirft und einen “Tumblr Liberalism” daraus konstruiert: Sie beschreibt ihn nur aus – meist verkürzt dargestellten – Extrembeispielen heraus: hyperempfindliche Call-Out Culture ist ihr Lieblingspunkt, ohne dass sie belegen kann, dass das tatsächlich den Großteil der Online-Linken prägt, und dass es sich nicht nur um einen kleinen, nicht repräsentativen, aber halt sehr lauten Teil handelt. Alltägliche Diskriminierungserfahrungen, die oft selbst in progressiven linken Kreisen ignoriert wurden, und aus denen heraus ”Identitätspolitics” entstanden, werden nicht erwähnt. Der nebulöse Tumblr-Liberalism erscheint aus einer emotionalisierten irrationalen Empfindsamkeit heraus geboren, die sie bestenfalls schlampig irgendwie auf Ideale der Hippiebewegung, die Mainstream geworden seien, zurückführt, dabei Rassismus, Antisemitismus, Ableismus u.ä. außen vor lassend.

Ich finde es faszinierend, wie Nagle sich selbst, wie gesagt, in Kill All Normies als empathiefreie Vernunft, eine Art Common Sense des Bothsideism, erschreibt, dabei implizit eine Leserschaft anvisierend, die sich selbst so sieht, als neutrale Position, eine Leserschaft, die sich höchstens wenig mit Diskriminierungserfahrungen auseinandersetzen muss und will. Sich als neutrale Position zu setzen, eine solche Anmaßung der Objektivät, ist leider ein häufiger Move, mit dem sich die bürgerliche Mitte als neutrale Stelle zu setzen, und weiße westliche Philosophie ihrer eigenen Verflechtung in Machtverhältnisse und Diskriminierungsgeschichte zu entziehen versucht. Anyway.

Noch ein Beispiel dafür, wie Nagle ihr linkes Feindbild konstruiert, ist ihr Lächerlichmachen von Ideen der Gender Theories, dem sie viel Raum gibt. Dass sie gleich zwei Seiten ihres auf mehreren Ebenen dünnen Büchleins einer Liste von Genderbegriffen von “gender-bending Tumblr users” widmet, spricht allein schon Bände: Es signalisiert ein “schaut euch diese Spinner an!” an die Leserschaft. Diese Liste als angeblich repräsentatives Beispiel zu setzen, ist hanebüchen. Da es keine Quellenangaben gibt und Nagle auf eine Anfrage nicht reagierte, haben Libcom auch hier selbst recherchiert und Nagle dürfte die Liste entweder von einer im Kontext von Gender-Tumblr klar als “list of poorly-attested nonbinary identities” bezeichneten Liste haben, oder von einem Alt-Right Forumthread, in dem sich User über die Liste lustig machten. Andere Quellen sind im Netz dazu nicht zu finden.

Ein weiteres Beispiel wäre ihr empathieloser Spott über Spoonies, eine Bezeichnung für Menschen, die mit einer chronischen Krankheit leben, meist mit Fokus auf jene, deren Krankheiten ihnen nicht anzusehen sind, und Menschen mit chronischen Schmerzen. Wer mehr dazu wissen möchte, z.B. Amanda Hess hat darüber geschrieben, wie sich unter dem Spoonie-Begriff auf Social Media Menschen gegenseitig austauschen und unterstützen, die oft niemanden sonst kennen, der ihre Erfahrungen als Crohn- oder Lupus-Kranke nachvollziehen kann. Wo früher nur offline Selbsthilfegruppen solche Austauschmöglichkeiten boten, ist das heute online leichter geworden und es wird offensiver damit umgegangen statt die Krankheit voll Scham zu verstecken. Aus der Not wird eine eigene Subkultur gemacht und der Löffel wurde zum Symbol auf Tassen, Schmuck oder Shirts, an dem man sich leicht gegenseitig wiedererkennt – wie oft in der Geschichte von gesellschaftlich Marginalisierten.

Nagle schreibt nichts über die positiven Aspekte, sondern stellt es lediglich als einen “cult of suffering, weakness and vulnerability” dar, deutet sogar an, dass die Krankheiten erfunden seien, wieder alles in negativer Extremform: “Young women, very often also identifying as intersectional feminists and radicals, displayed their spoonie identity and lashed out at anyone for not reacting appropriately to their under-recognized, undiagnosed or undiagnosable invisible illnesses or for lacking sensitivity to their other identities.” Irgendwie klingt sie echt oft wie so ein alter verbitterter Mann, der die Jugend von heute nicht packt. Oder wie Josh Davies etwas sachlicher feststellt: ”Nagles Fokus darauf wie Sachen gesagt werden, und ihr Widerwille, über die Politik und die Prozesse hinter dem, was gesagt wird, nachzudenken, führen dazu, dass sie anscheinend eine ähnliche Haltung zu Gender annimmt wie jene vieler Konservativer, die sie eigentlich kritisch sieht: Gender-Nichtkonformität ist etwas Fremdes, Esoterisches und Frivoles. So wie ihr Argument hier präsentiert wird, unterscheidet es sich kaum vom transphoben “I sexually identify as an attack helicopter” Meme, das quer durch’s Internet von edgy Verteidigern der Heteronormativität immer wieder hochgewürgt wird.”

Donald Parkinson weist darauf hin, dass Fans des Buches auf negative Reaktionen auf Kill All Normies aus der Ecke, die sie als “Social Justice Tumblr und Twitter” bezeichnen, reagieren, als wäre deren Kritik ein Beweis dafür, wie “empfindlich” und “hysterisch” diese Leute seien. “Was es aber tatsächlich beweist, ist, dass Linke keine Fans von konservativer Genderpolitik und dem Verspotten von Menschen mit Behinderung sind, was stimmt und womit sie auch recht haben. Der Grund dafür, warum Tumblr ID Politics existieren, ist, dass Leute tatsächliche Unterdrückung in ihren alltäglichen Leben erfahren, und ein Mangel an kollektiven Lösungen führt Menschen zu individualistischen Methoden, das zu bewältigen.”

Dass Teile dieser Kultur auch toxische Züge aufweisen, mit Gängelungen bestimmter Ansichten und Shaming und Call Out Culture, mag nicht von der Hand zu weisen sein, aber erstens gibt es negative Extreme auch bei jeder anderen politischen Kultur, wo sie nicht mit einer solchen Gehässigkeit kritisiert werden, die mich automatisch fragen lässt, worum es dieser Kritik eigentlich geht. Und zweitens: Den rechten Mythos zu übernehmen, dass es sich dabei um ‘die herrschende Elite’ handle und die Rechten quasi nur aus Notwehr so radikal würden, verkennt komplett, dass – so auch Donald Parkinson – es schon immer eine Taktik der Rechten war, sich auf Extremfälle zu berufen um progressive linke Anliegen zu dämonisieren.

Der Rechten in die Hände spielend, die damit einen Haken in die Mitte der Gesellschaft auswirft, übernimmt Nagle deren Jargon und Argumentation viel zu oft blindlings, noch mal ein Auszug aus Kill All Normies:

“This anti-free speech, anti-free thought, anti-intellectual online movement, which has substituted politics with neuroses, can’t be separated from the real-life scenes millions saw online of college campuses, in which to be on the right was made something exciting, fun and courageous for the first time since… well, possibly ever. When Milo challenged his protesters to argue with him countless times on his tour, he knew that they not only wouldn’t, but also that they couldn’t. They come from an utterly intellectually shut-down world of Tumblr and trigger warnings, and the purging of dissent in which they have only learned to recite jargon.”

Ist das noch ‘rationale’ Kritik an links, oder schon Werbung für die Alt-Right?

Was bei Nagle keine Erwähnung findet, ist die Diversität der linken und linksliberalen Gruppierungen, sind die zahlreichen, ausführlichen und kontroversen Diskussionen, die typisch für die meisten linken Online-Subkulturpraxis sind, und aus denen sich Ansätze immer wieder weiterentwickeln. Außerdem “on the Internet, nobody knows you’re a dog”: Es wird auch nicht erwähnt, dass hier, wenn auch wahrscheinlich keine Hunde, so doch teilweise Kids unterwegs sind, die Fanfic und Memes mit politischem Herumtheoretisieren vermengen, teilweise Selbsthilfegruppen sich gegenseitig mit ihren Problemen helfen wollen, teilweise Lai*innen ohne akademische Bildung versuchen, sich mit komplexen Theorien auseinanderzusetzen und aus ihnen Hilfe für eine politische Praxis im konkreten Alltag zu ziehen, und so weiter und das alles steht neben akademischen politischen Diskussionen und all das wird bei ihr gleichgemacht und erscheint bei ihr als eine Art völlig homogener dogmatisch-festgefahrener irrationaler Tribalismus, ein linkes Feindbild. Bei Nagle fällt sogar auch Hilary Clinton drunter, weil sie im Wahlkampf Begriffe wie “check your privilege” verwendet hat.

Dass Neoliberale viele progressive, konstruktive und nuancierte Ansätze kommodifiziert haben, und sie dabei auf Schlagworte verkürzt haben, wie im Marketing von Parteienpolitik bis zu Produkten, heißt nicht, dass diese Ansätze in ihrer radikaleren Form nicht berechtigt und sinnvoll sein könnten – es lohnt sich, zu differenzieren. Linke zeichnet es ja aus, dass ein Hive Mind immer wieder reflektiert, diskutiert, kritisiert, verwirft und weiterentwickelt, wie eine bessere Zukunft für alle erreicht werden könnte. Und ein klassenbasierter intersektionaler Feminismus zum Beispiel, der wie Andrew Stewart auch ganz richtig bemerkt, eine effektive Opposition zur Alt-Right sein kann, wird bei Nagle auch mit keinem Wort erwähnt.

Noch mal Josh Davies dazu: “Nagles pauschale Verallgemeinerungen verschleiern nicht nur ihre Unterschiede, sondern machen jegliche Auseinandersetzung mit der Geschichte und den politischen Ansätzen all der Bestandteile des amorphen ‘Tumblr Liberalism” unmöglich. Für ein Buch, dass sich so sehr auf die angebliche Unfähigkeit der Linken fokussiert, Ideen zu generieren und zu hinterfragen, liest es sich oft wie eine Einladung, nicht zu denken.

Ich musste bei diesem Buch oft an die (fast hätte ich “umstrittene” geschrieben! ^^) Essay-Sammlung Beißreflexe denken, und mir kam jetzt beim Schreiben in den Kopf: Eigentlich ließe sich Kill All Normies ganz wunderbar entlang der sieben Punkte durchanalysieren, die Floris Biskamp in der ultimativen Beißreflexe-Besprechung ausführt: Die Verallgemeinerung von Besonderem, alarmistische Übertreibung, die Effekte der Vereinheitlichung, unsichtbare Macht und ignorierte Handlungsfähigkeit, unverstandene Privilegienkritik, verdrängte Rassismuskritik, die Pathologisierung der Anderen. Zeit dafür, das im Detail auszuführen, habe ich leider nicht, aber es ist erstaunlich, wie diese Kritikpunkte auch auf Kill All Normies passen.

Begrenzter und Selbstinszenierung übernehmender statt kritisch und historisch einordnender Blick auf die Alt-Right

Nagle hat nach Kill All Normies inzwischen auch einen Text namens ‘The Left case against Open Borders’ veröffentlicht, in dem sie die Working Class gegen Immigrant*innen ausspielt und die linke Idee von Globalisierung mit deren neoliberalem Zerrspiegel gleichsetzt. (Den Gegensatz haben immer noch die Goldenen Zitronen am besten poetisiert auf den Punkt gebracht: “Über euer scheiß Mittelmeer käm’ ich, wenn ich ein Turnschuh wär’.”) Mit diesem Text hat sich Nagle dann auch von dem Weißnationalisten Tucker Carlson in einem Interview in dessen Show instrumentalisieren und feiern lassen. Ich weiß nicht, ob sie so naiv oder so ignorant ist, die rassistische, antisemitische, sexistische und nativistische Ideologie der Rechten nicht ernst zu nehmen, oder ob sie schlicht nichts dagegen hat, ihnen in die Hände zu spielen, Querfront quasi.

Auch Kill All Normies bekleckert sich hier nicht mit Ruhm. Es fehlt das Thema Rassismus, es fehlt auch die Verbindung zu älteren Trends der englischsprachigen Rechten, wie z.B. English Defence League oder National Action, kritisiert Jules Joanne Gleeson. Ebenso fehlt ein Aufzeigen der Vernetzung der Alt-Right über geographische Grenzen hinweg, zu Gruppen wie Griechenlands Golden Dawn oder Frankreichs Génération Identitaire, was ist mit internationalen Verknüpfungen zu Putins sogenannter Trollarmee oder dem Erfolg von Hindutva? Was ist mit Überschneidungen zum Counter-Jihad Movement, das sich auch stark online aktiv war? Und Gleeson bemängelt explizit: “Unglücklicherweise ist eines der anderen größten Versäumnisse des Buches das Fehlen einer dezidierten Behandlung von Antisemitismus.” Sie kommt darüberhinaus zum Schluss: “Nagle verlässt sich auf ein Schema, das von der Alt-Right selbst produziert wurde: der Trennung der richtigen Alt-Right (Hardcore Nationalsozialisten und White Supremacists) und Alt-Light (die größtenteils offensichtlichen Rassismus vermeiden, und stattdessen einen ‘zivilisierteren’ westlichen Chauvinismus einsetzen). Nagle entgeht es, zu bemerken wie diese Unterscheidung von der Alt-Right selbst instrumentalisiert eingesetzt geworden ist.

Sie analysiert die Taktiken der Alt-Right nicht als solche, und zeigt nicht auf, dass neben einem Dämonisieren von Gender Theories und Feminismus, von linker Kritik als Zensur, auch ein großes Propagandathema z.B. der Versuch der Alt-Right ist, ein Revival der amerikanischen Kommunismuspanik zu schüren, sowohl über das Aufkochen der antisemitistisch konnotierten Hetze gegen einen “Kulturmarxismus” oder direkt als Angst vor einer kommunistischen Revolution, als Red Scare Revival, worüber z.B. Jack Smith IV schrieb. Das ist auch weder neu noch internetspezifisch, sondern sollte historisch eingeordnet werden. Wie Smith IV feststellt: “Die Rhetorik ist antiquiert, aber der Zweck bleibt derselbe: Protest als Subversion darzustellen, den Kampf für Bürgerrechte zu unterhöhlen und die Linke davon abzuhalten, die Grenzen dessen zu erweitern, was in Amerika möglich ist, indem sie die Grenzen dessen überwacht, was es bedeutet ein Ameriker zu sein.”

Es ist bemerkenswert, dass, so Donald Parkinson, Nagle letztlich in ihrer Version davon, wie es zur Alt-Right kam, eine Herangehensweise nutzt, die viel mehr mit “liberal” Kulturtheorien gemein hat, als mit dem materialistischen Ansatz, den sie sich gerne selbst unterstellt. Es bleibt in Kill All Normies bei einer Analyse entlang ihrer Transgressionstheorie, es geht nicht um Klasse und Ökonomie. (Das verleiht auch der Vorliebe der linken Materialismus-Ecke für Nagles Buch eine gewisse Ironie.) Nagles Auseinandersetzung bleibt auf Online-Diskurse beschränkt und – so auch Donald Parkinson – Nagles Hauptproblem mit den Identitätspolitics des Tumblr-Liberalismus ist durch’s ganze Buch hindurch deren “Überempfindlichkeit” und “Extremismus” und nicht, dass sich damit Ausbeutung und Unterdrückung nicht adäquat ansprechen lassen würden.

Digital Dualism und fehlende Analyse der digitalen Mechanismen

Die Beschränkung ihrer Betrachtungen auf Onlinepräsenz (und Marketingstunts) führt Nagle zu Kapitelüberschriften wie “The joke isn’t funny any more – the culture war goes offline”. Sie scheint ganz im Denken des Digitalen Dualismus zu stecken, zwischen “realer” Offlinewelt und “virtueller” Onlinewelt zu trennen, wenn sie Formulierungen verwendet wie “spills into real life”. Erst war die “leaderless internet revolution”, dann die “identity politics” und als Antwort darauf der “irreverent trolling style associated with 4chan” und dann war das Netz so voll, dass es überlief und aus Tumblr auf den Campus floss usw. Vielleicht sollte einfach wer einen Stöpsel in die rechten Teile des Internets machen, und der ganze rechte Hass bliebe drin.

Da Nagle das Offlinewirken der Rechten ignoriert, übersieht sie wichtige Zusammenhänge und unterschätzt deren Gefährlichkeit und Wirkzusammenhänge. Donald Parkinson weist auf diese Schwäche von Kill All Normies hin: “Ideologen wie Richard Spencer und Kevin MacDonadl haben ihre Think Tanks und Affinity Groups schon seit einiger Zeit, und wie die Ereignisse von Charlottesville zeigen, sind sie gewillt, ihre Ideen ‘auf die Straße’ zu tragen. Es gibt einen Mangel an Informationen über die Alt-Right wie sie [offline] existiert. … Es wird nichts über die Anstrengungen von White Supremacist-Organisatoren wie Identity Europa oder Traditionalist Workers Party geschrieben, Studentenverbindungen und Arbeiter im ländlichen Raum zu organisieren, oder darüber, was für Visionen diese Gruppen haben (eine Balkanisierung der Vereinigten Staaten und die Erschaffung eines komplett weißen ‘Ethno-Staats’ ist eine gängige davon). Stattdessen präsentiert Nagle die Alt-Right nur als ein Onlinephänomen, obwohl diese Leute diese Politik schon seit Jahren promotet haben.”

Vielleicht ist es das Fehlen dieses breiteren Kontexts, der Nagle auch vernachlässigen lässt, wie taktisch die Anwerbung und Radikalisierung der Rechten online angelegt ist. Sie ist eben nicht einfach nur ein reflexhaftes Reagieren auf “politically correctness gone mad”. Selbst wenn ich darüber hinwegsehen würde, dass sie keinen Bezug zu Offline-Organisation und Offline-Wirken rechter Gruppierungen herstellt, würde ich von einem Buch, das sich in seiner Analyse auf Onlinediskurse beschränkt, doch auch wenigstens ein Kapitelchen zu dem Thema erwarten, was Aufmerksamkeitsökonomie, Social Metrics, Viralität usw., also was die spezifischen Strukturen und Mechanismen der gängigen Plattformen für Onlinekommunikation und -vernetzung zu Extremisierung beitragen. Dieses Thema findet auch keinen Raum in Kill All Normies.

Wen das interessiert, hier zwei Lesetipps (das copy+paste ich hier mal aus meinem Matrix und die Manosphere-Vortragsskript rein), aber Content Warning: Ist beides nicht so reißerisch geschrieben wie Kill All Normies:

1.) Julia Ebner zählt in ihrem Essay “Counter-Creativity” in Sociotechnical Change from Alt-Right to Alt-Tech drei taktische Ziele auf:

  • Radikalisierungskampagnen die an mögliche Sympathisanten gerichtet sind,
  • Manipulationskampagnen, die auf den gesellschaftlichen Mainstream gerichtet sind, und
  • Einschüchterungskampagnen, die politische Opponent*innen absehen.

In den rechten sozialen Netzwerken werden Anleitungen geteilt, strategische Dokumente, in denen erklärt wird, wie man Gespräche anfangen kann, Vertrauen aufbaut, weitverbreitete Missstände ausnutzen kann und wie man die Sprache auf die Person zuschneidert, der man seine Ideologie nahezubringen versucht.

2.) Alice Marwick und Rebecca Lewis erklären in ihrem hervorragenden Reader Media Manipulation and Disinformation Online, wie ein Amalgam aus Verschwörungstheoretikern, Tech-Libertären, weißen Nationalisten, Männerrechtlern, Trollen, Anti-Feministen, Anti-Immigrations-Aktivisten, und gelangweilten jungen Leuten die Techniken der partizapatorischen Kultur und den Angriffspunkten von Social Media einsetzen um ihre Überzeugungen zu verbreiten. Sie nutzen die Möglichkeiten, die ein wegen Werbungsfinanziertheit auf Aufmerksamkeitsökonomie hin strukturiertes Internet bietet, um gezielt Schwächen im Newsmedienökosystem auszunutzen. Da wird sich dann auch alles mögliche von Marketing- und Medientheorie Texten bis zu CIA-Trainingsmaterial geteilt.

(Wer mehr dazu hören statt lesen will, kann gerne zu meinem nächsten Vortragstermin von “Matrix und die Manosphere – verletzte und vernetzte Männlichkeit als Einstieg zur Radikalisierung nach Rechts” kommen: 28.3. in der Kantine Nürnberg, Eintritt ist frei.)

Aber zurück zum Thema: Kurz, wie Richard Seymour schreibt: “Was bestimmt nicht gebraucht wird, sind die zunehmend abgedroschenen Angriffe auf den Strohmann ‘Identitätspolitik’, sondern … was gebraucht wird, ist ein Bericht darüber, wie Aufmerksamkeit gewonnen, erhalten, gekauft und verkauft wird; wie Onlinepolattformen strukturiert sind und in ihren Effekten auf Nutzer*innen strukturierend wirken; wie existierende soziale und kulturelle Tendenzen von diesen Technologien ausgewählt und akzentuiert werden… Was dieses Buch liefert, ist, traurigerweise, ein Kreis um die gewohnte, schon gut ausgetretene Terrain, nicht nur was seine Theorie anbelangt, sondern auch was sein unreflektiertes ‘Backlash’ anti-moralisierendes Moralisieren betrifft. Es erhält die Dynamiken aufrecht, die es zu sezieren behauptet, Gezeter und Beschämen.”

Transgression in der bürgerlichen Mitte und deren Faszinationsproblem mit der neuen Rechten

Der zentrale Punkt, den Nagle machen will, ist, dass die Kultur der Grenzüberschreitung, der Transgression, die lange Zeit ein typisch linkes Mittel war, heute von rechts gekapert worden ist. Sie begründet das wie gesagt damit, dass die Mainstreamkultur so eine Art Political-Correctness-Gone-Mad eines von ihr konstruierten Tumblr-Liberalismus sei und dass darauf eben viele, die sich das nicht gefallen lassen wollen, mit einem Anti-Politische-Korrektheit-Move reagierten und sich zu Rechten radikalisierten.

Gegenkultur, Nonkonformistisches, die ganze Idee kleiner Subkulturen mit ihren Codes ist Nagle spürbar zuwider. Das trieft aus jeder Pore dieses Buchs. Bei Neocons gerät sie dagegen fast ins Schwärmen “intellectually equipped and rhetorically gifted”, “smart”, das sind Vokabeln für diese, und Milo Yiannopolous ist eine Figur, die sie sichtlich sehr fasziniert (satte 71 mal wird er auf den 247 Seiten erwähnt, und letztlich ist ihr Bild der Alt-Right auch schlicht von seinem vor ein paar Jahren erschienenen Definitionstext dazu auf Breitbart übernommen).

Nagles Ablehnung fußt unter anderem darauf, dass transgressive Kultur nicht populär, nicht für die Massen, sondern inhärent elitär sei und gegen die Working Class arbeite. Jordy Cummings empfiehlt als Entkräftung die Lektüre von Brian Palmers Cultures of Darkness: “Palmer erklärt, mit enormem und namhaftem Backing, dass es genau in den transgressiven Räumen war, – von prä-20.-Jahrhundert Freimaurerei bis zu langen Nächten am DJ Pult, von Kink Culture bis zu Tarotkarten, von spätnächtlichen Gewerkschaftsbeisammensein und betrunkener, zugekiffter Ausgelassenheit – wo die revolutionären und emanzipatorischen Ideale geformt wurden, durch aufrichtige Freundschaftlichkeit, die über den Versammlungsraum und den Streikposten hinausging. … durch die Geschichte des Kapitalismus und seine begleitende Geschichte des Arbeitskampfes würde man sich hart tun, auch nur eine soziale Bewegung gegen kapitalistische Sozialverhältnisse zu finden, ohne dass diese in irgendeiner Form in transgressiver Gegenkultur wurzelte.“ Die Verbundenheit stärkende und ermutigende Kraft, die darin steckt, wird oft in der Kritik als bloße “Identitätspolitik” gebrandmarkt und verkannt.

Und, das hier mal am Rande festgehalten: Bei aller zum Teil verständlicher Kritik an überzogenen Aspekten der sog. Identity Politics: Nötig sind sie geworden, weil die Probleme von Marginalisierten immer nur der “Nebenwiderspruch” blieben und diskriminierende Strukturen auch innerhalb der Linken aufrechterhalten wurden und werden. Linker Tumblr-Queerfeminism-&-Crip-&-Spoonie-Politics usw hat vielen heutzutage überhaupt erst Politik wieder als etwas eröffnet, das ihren Alltag betrifft und das sie aktiv mitformen können. Er hat vielen, die auch in linken Szenen marginalisiert waren, Räume zum Mitreden und zur Beteiligung eröffnet. Das ist etwas, was die ganzen weiß/cis-männlich/heterosexuell/able-bodied-dominierten Politzirkel nicht geschafft haben, in ihren um sich selbst kreisenden endlosen komplexen und abgeschotteten Theoriediskussionen oder in ihren Folk Politics rund um die Arbeiterrevolution. Diese Lust auf politische Beteiligung gilt es doch bitteschön dankbar aufzunehmen, freundschaftlich zu diskutieren, weiterzuentwickeln, sich einander anzunähern und zu ermutigen, und nicht sarkastisch zu bashen!

Aber zurück zur Transgression: Ich würde hier mal gerne wild herummeinen, dass das Problem nicht die Transgression als Kulturtechnik einer wie auch immer gearteten Linken war, genau so wenig, wie die Rechten der neue Punk sind, sondern dass die neoliberale bürgerliche Mitte Transgressionskultur aufgegriffen und zum Mainstream gemacht hat, einhergehend mit einer Radikalisierung des Kapitalismus.

Grenzen überschreiten, Ironie, Tabubruch – dass das zum Mainstream geworden ist, von Politik, Brands, Medien und Marketing verwendet wird, bis die zynischen Grenzen des Sagbaren und Zeigbaren so weit offen waren, dass rechte Ideologie dran anknüpfen konnte, weil niemand mehr nichts als “krass” oder “überraschend” empfindet, scheint mir viel eher das Problem zu sein. “Disrupt Everything” als gesellschaftlicher, als sozialer Konsens. Enttabuisierung und Entsolidarisierung sind Mainstream. Diese Radikalisierung machte alles sagbar, jede Kritik wird mit Free-Speech-Absolutismus gekontert. Über “Deutschland den Deutschen” diskutieren (z.B. “hart aber fair” TV am 25.2.), das wird man ja wohl senden dürfen! Die passende Kultur zur Mainstreamtransgression ist nicht, dass in einem kleinen Jugendzentrum eine Gruppe Queers keine Weißen mit Dreadlocks in ihrer Bastelrunde aufnehmen will, es sind auch nicht “I’m drinking male tears”-Memes von weißen Feminist*innen der Medien- oder Kreativen Klasse, nein, die Kultur dazu ist das hemmungslose Shaming und Stigmatisieren von Menschengruppen in Talkshows und Boulevardmagazinen, die endlosen Shows und Artikel, die Frauen oder Arme “verbessern” oder lächerlich machen, Stigmatisierung von Hartzer*innen als “faul”, Darstellung junger Mütter als Freaks, Erniedrigung von Migrantinnen als “Asylbetrüger”, das Umstylen zu “richtigen Männern” in Makeover Shows, usw. Die Liste der Verlierer*innen des merokratischen Hyperkapitalismus ist endlos und hemmungslos darf über sie hergezogen werden, alles andere wäre Zensur. Die Erniedrigung von Menschen dort normalisiert die damit einhergehende Austeritätspolitik, die via Überbürokratisierung eine Erniedrigungsmaschine der ärmsten Gesellschaftsmitglieder aufgebaut hat, anstelle eines Sozialstaats. Wenn das alles nichts mit der Transgression zu tun hat, die Nagle für so zentral hält, weiß ich auch nicht.

Ich stimme soweit mit Nagle überein, dass das Problem im sog. Mainstream, der Mitte, zu finden ist, aber ich übernehme nicht das rechte Narrativ, dass “Tumblr Liberalism” das ist, was diese bürgerliche Mitte ausmacht – die Rechte ist dort ebenso präsent, und noch andere mehr. Es gibt nicht eine Elite, deren Ansichten alles beherrscht – weder eine linksgrünversiffte alles genderisierende, noch eine nativistisch-rassistisch-sexistische, sondern verschiedenste. Donald Parkinson formuliert es etwas schärfer: “Die ganze Idee einer herrschenden Elite gehört weggeworfen, denn wir leben unter der Macht einer herrschenden Klasse. Darüberhinaus, ist die herrschende Klasse nicht homogen und konkurriert mit sich selbst. Niemand kann behaupten, dass eine monolithische Ideologie der herrschenden Klasse gibt, sondern es gibt vielmehr verschiedene miteinander konkurrierende Ideologien, die oft gegensätzlich sind. So ist liberaler Multikulturalismus genau so ein Teil der herrschenden Ideologie wie White Supremacy. Die bürgerliche Gesellschaft ist kein einheitlicher Block.”

Die BILD oder Fox News existieren eben parallel zum Bento-Quiz “Heidi Klum oder Donald Trump – kannst du ihre Zitate über Frauen unterscheiden?!” (danke, Lily! >< )

Kritik an Klum verkauft sich so gut wie Klum. Sexismus verkauft sich so gut wie Anti-Sexismus. Bento und Dove sind Extremismus der Mitte. Die Vermarktung von sozialen Kämpfen, von Sozialkritik braucht immer mehr davon: Wenn ich vom Thematisieren des Elends lebe, kann ich nicht ernsthaft an kollektiven Lösungen interessiert sein, denn die Zuspitzung, das Empören, die Emotionen funktionieren viel besser. Umgekehrt aber auch: Wenn ich keine andere Hilfe erfahre, mir diese immer weiter gekürzt wird und ich mich politisch machtlos fühle, dann mache ich eben wenigstens Geld aus dem Elend und vermarkte die Diskriminierung, die ich erfahre. Patreon statt Politik, individualistischer Lebenserhalt statt soziale Revolution.

Auf die Erfahrung, dass Gegenkultur meist keine großen Veränderungen anstößt, folgte die Erfahrung der Unmöglichkeit der Gegenkultur per se durch ein alles durchdringendes Produktscouting, das jede erblühende Subszene gleich im Entstehen kappt. Wir haben eher eine Kommodifizierungs-Police als eine PC-Police amirite… Wo war ich? Ach ja, bei Nagles Kill All Normies, dem Buch, dessen Thesen von so vielen kritiklos übernommen werden, obwohl das Buch letztlich einfach das Narrativ der Rechten verstärkt, die “Culture Wars” noch mal richtig anschürt. Kein Wunder, dass es auch bei den Rechten gut ankommt: “Prominent US fascist Richard Spencer has endorsed Nagle’s book on his Instagram, noting that it “gets” his movement and that its criticisms of “the Tumblr left” are “useful”. It should go without saying that such an endorsement — for an ostensibly left wing book on left and right-wing online cultures — ought to give pause. Apparently not.” So Josh Davies.

Dass Transgression sich über eine individualisierende Disrupt-Everything und Commodify-Everything Startup Culture, die in letzter Konsequenz eine demokratische staatliche Kontrolle am liebsten komplett abschaffen würde, viel gefährlicher in den Alltag eingegraben hat, bleibt als Thema in Kill All Normies unerwähnt – passt halt nicht in’s Narrativ der Culture Wars. Ist aber halt für eine materialistische Marxistin ganz schön dünn. Donald Parkinson erwähnt zu diesem Aspekt auch die Ron Paul Anhänger: “Nagle ignoriert auch komplett die Rolle des Ron Paul Libertarismus. Jeder, der die Alt-Right versteht, weiß, dass es eine Verbindung zwischen libertärer Politik und der Alt-Right gibt, und dass viele Leute, die vom Scheitern Ron Pauls enttäuscht waren, sich der Alt-Right zuwanden. … Libertarismus, eine Ideologie, in der alle Moral auf Besitzrechten basiert, in einem Land, das auf einem Fundament aus Sklaverei und Segregation gebaut ist, zieht Rassisten an. Der Schwerpunkt, den Libertäre auf Wettbewerb legen, kann seine Anhänger dazu bringen eine Position des Sozialdarwinismus einzunehmen und Ideen zu erforschen, die mit Race Realism verbunden sind. Das schafft eine Verbindung zwischen weißen Identitären und Libertären. … Es gibt eine Sorte vulgären Positivismus’ in libertärer Ideologie, die gut zu Race Realism passt. … Märkte als demokratischer anzusehen als irgendeine staatliche Institution, der Freie-Marktliberalismus steht selbst allem kritisch gegenüber, was sich für Gleichheit und Demokratie einsetzt, und passt daher in seiner extremsten Variante gut zur Ideologie der Alt-Right.”

Für Nagle sind beides, der Tumblr Liberalismus und die 4Chan-Alt-Right letztlich der überzogene Versuch, eine Gegenkultur zu schaffen, Stichwort “transgression”, ein Aufbäumen gegen einen Common Sense Status Quo. Deswegen trennt sie auch nicht zwischen einem linken Anliegen der Solidarität und Offenheit, und einem rechten des Rassismus, Sexismus, der nativistisch-nationalistischen Abgrenzung. Nagle formuliert letztlich die klassische bürgerliche Ablehnung von Extremismen. Es ist ein zutiefst antisolidarisches Buch. Ihr Bashing ist Empathielosigkeit als Vernunft getarnt, erschreckend konservativ. Deswegen auch ihre Fokussierung auf die Effektlosigkeit von Transgression: Nichts soll von der Norm ausscheren, dann wird alles gut. Alternativen hat sie nicht parat, wie auch Josh Davies kritisiert: “Die Verweigerung zu Reflektieren wird noch dadurch verschlimmert, dass das Buch keinerlei Idee dafür aufweist, dass es überhaupt irgendetwas gibt, was getan werden könnte. Es gibt viel Kritik an den politischen Praktiken derer, die sich gegen Rechtsextreme stellen, aber keine Ansätze dafür, was Nagle stattdessen vorschlagen würde.”

Dass trotz all dieser Mängel trotzdem so viele unreflektiert Nagles Thesen übernehmen zeigt in erster Linie das, was Niklas Weber feststellte: “Wir haben ein Faszinationsproblem mit den Neurechten.”

Reclaim The Night Lounge – ein Interview zum Abend

ReclaimTheNightLounge-1604-blog

Ich habe den Nürnberger Nachrichten ein Interview zur RECLAIM THE NIGHT LOUNGE, unserem Abend gegen Übergriffe im Nachtleben gegeben und freue mich sehr, dass sie über unsere Arbeit dazu berichten. Der Artikel bringt allerdings einen Punkt etwas verkürzt rüber, der mir wichtig ist: Es klingt, als wollten wir heute Abend nur Frauen Tipps geben wie sie sich besser schützen können. Das würde ich aber als Victim Blaming betrachten, und hatte ich eigentlich in meinen Antworten nicht so gesagt. Aber dafür hab ich ja einen Blog – hier das vollständige ausführliche Interview:

F: Wie ist man auf die Idee gekommen so eine Veranstaltung ins Leben zu rufen? Gab es einen Vorfall der sozusagen als Initiator gewirkt hat, oder war es ein spontaner Einfall von Seiten des MV? Ist dies der erste Abend oder gab es schon ähnliche Veranstaltungen dieser Art? Sind weitere geplant?

A: Dass Übergriffe, von verbaler Belästigung bis zu Angrapschen oder mehr, im Nachtleben ekelhaft gängig sind, aber viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommen, fanden wir schon länger, aber konkretisiert hat sich das auf unserer letzten Jahresklausur September 2016. Da die Basis wichtig ist, legt der Musikverein seit zwei Jahren mehr Wert auf Gender-Ausgewogenheit auf der Bühne und unter den Veranstaltenden. Wenn mehr Frauen unter den Veranstaltenden sind, bekommt automatisch auch ein Problem, das in erster Linie Frauen betrifft, mehr Aufmerksamkeit. Dann haben wir unseren Gästen immer wieder ans Herz gelegt, sich zu melden, wenn sich ihnen gegenüber danebenbenommen wird. Da bekamen wir auch Feedback und dadurch wurde das Thema noch dringlicher. Unter dem Sammelbegriff Reclaim The Night haben wir dann begonnen, konkreter zu werden: Seit letztem Herbst zeigen wir bei unseren Club Nights auf der Hauswand Visuals mit Slogans gegen Übergriffe, zum Beispiel „’Nein’ heißt nicht ‘überzeuge mich’!“ oder „Party hard but party with consent!“

Um einen Austausch zu diesem Thema mit anderen Veranstaltenden aufzumachen, haben wir im November zu einem Runden Tisch eingeladen, den gab’s inzwischen schon zum zweiten Mal, da hat sich Carmen ‘double u cc’ vom Musikverein stark darum gekümmert. Zur besseren Vernetzung zwischen Veranstaltenden haben wir eine Mailingliste und eine geschlossene Facebookgruppe angelegt. Die Reclaim The Night Lounge ist jetzt mein Baby. Da ist die Idee, in den Austausch mit Gästen bzw. Betroffenen zu gehen, da wir uns als Community verstehen, und weil ein offener Austausch immer ein guter Ansatz für Problemlösungen ist. Wir wollen auch das Tabu abbauen, dass manche Clubs sich nicht offen darüber reden trauen, weil sie Angst um ein schlechtes Image haben müssen – wenn alle offen darüber reden, wird schnell klar, dass das ein clubübergreifendes, ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Und je nach Feedback wird es den Abend öfter geben.

F: Gibt es großes Interesse an der Veranstaltung? Also haben Sie schon Feedback für Idee bekommen? Welche Zielgruppe haben Sie im Blick? Ist Die Veranstaltung nur für Frauen oder sind auch Männer willkommen? Was ist das angestrebte Ziel dieser Veranstaltung?

A: Das Interesse im Vorfeld zu messen ist immer schwierig, aber ja – es hat uns schon positives Feedback erreicht. Die Reclaim The Night Lounge ist für alle Betroffenen gedacht, das heißt sowohl Frauen und andere, die schon Übergriffe im Nachtleben erlebt haben, als auch Leute, denen das Thema wichtig ist und die sich engagieren oder informieren wollen. Natürlich sind auch Männer willkommen, sie sind zwar seltener Opfer von Übergriffen, aber auch das kommt vor. Uns ist wichtig, dass sich eben wirklich alle willkommen fühlen, denen es ein Anliegen ist, etwas gegen Übergriffe im Nachtleben zu tun. Das Ziel ist Information, Austausch, Aktion. Wir haben dazu jetzt auch noch eine Facebookgruppe angelegt:  damit die Diskussion auch online weitergeführt werden kann, und eine Kontakt-Mailadresse: reclaimthenight@musikverein-concerts.de (die Mails landen bei mir und Carmen double u cc und wir werden auf Wunsch natürlich auch Mails anonym behandeln.) Und demnächst geht auch die Website www.reclaimthenight-nbg.de online.

F: Wie gesagt ist das Thema der sexuellen Übergriffe ein brisantes Thema seit dem Vorfall in Köln. Deshalb auch die Frage, ob Köln Auswirkungen auf das Nürnberger Nachtleben hatte (negativ wie positiv)?

A: Die verabscheuungswürdigen Übergriffe der Silvesternacht fanden ja nicht nur in Köln statt, sondern es gab meines Wissens auch einen kleinen Ableger in Nürnberg. Wir vom Musikverein waren uns schnell einig, dass wir das für eine sehr systematisch angelegte, gezielte Aktion halten, und dass wir die Gefahr einer Instrumentalisierung für rassistische Vorurteile sehen und für ein Gegeneinander-Ausspielen der Opfer von Rassismus und Sexismus. Das hat sich dann leider auch bestätigt: Plötzlich haben sich Leute gegen Übergriffe stark gemacht, die vorher fanden, dass Frauen ja total übertreiben, wenn sie sich darüber beschweren.

Unabhängig von der Silvesternacht, die wie gesagt ein sehr krasser und anscheinend systematisch angelegter Übergriff war, begegnen wir und andere Veranstaltende, die explizit Flüchtlinge willkommen heißen, um ein Zeichen zu setzen, natürlich auch Übergriffen von Flüchtlingen. Aber: wir sehen viel mehr Geflüchtete friedlich mit uns feiern, deswegen ist es uns wichtig, dass da kein Graben zwischen Alt- und Neu-Nürnbergern aufgetan wird. Die letzten beiden Übergriffe gegen mich persönlich zum Beispiel kamen nicht von Geflüchteten. Aber sie kamen von Männern. Wenn also jemand unbedingt ein Kulturding draus machen, will, dann wäre es angebrachter, eine bestimmte Art von Männerkultur zu kritisieren, denn da gibt es über alle Kulturgrenzen hinweg einiges an Selbstverständlichkeit und Leichtfertigkeit in Sachen Belästigung abzubauen. Schafft erst mal Mario Barth und Club Nights, bei denen Frauen mit freiem Eintritt und Gratisdrinks willig gemacht werden sollen, ab, bevor ihr euch Geflüchtete als Zielscheibe aussucht.

F: Was glauben Sie persönlich was man ändern könnte, um solche Übergriffe zu verhindern? Welche Tipps können Sie Frauen mit auf dem Weg geben, wenn sie sich  zum Beispiel alleine auf dem Heimweg befinden oder eben, was leider viel zu oft vorkommt, auf der Tanzfläche begrapscht werden?

A: Langfristig, im Großen gedacht, hilft nur eine Verschiebung des sozialen Konsens, dazu gehört z.B. auch kein Victim-Blaming zu betreiben. Deswegen: Frauen (und anderen, die belästigt werden) möchte ich als Tipp mit auf den Weg geben, es nicht als selbstverständlich hinzunehmen, dass sie diejenigen sind, die ständig bereit zur Abwehrhaltung sein müssen. Stattdessen möchte ich Männern mit auf den Weg geben: Belästigt keine Frauen. Aber eigentlich mag ich den Geschlechtergraben da auch nicht, deswegen: Grapscht nicht in der Anonymität der Tanzfläche andere Menschen an, außer diese haben klar signalisiert, dass sie Lust auf Körperkontakt mit euch haben. Lasst Menschen in Ruhe, die signalisieren, dass sie sich keine Unterhaltung mit euch wünschen. Vergewaltigt keine anderen Menschen. Sagt Leuten an Bar oder Tür oder einfach anderen Gästen, die in der Nähe stehen gleich Bescheid, wenn jemand übergriffig wird. Tut das nicht länger als Bagatelle ab, macht es sichtbar. Wenn ihr etwas beobachtet, was übergriffig aussieht, fragt einfach mal nach, ob es für die Person okay ist, oder ob sie Unterstützung beim Abwimmeln braucht.

F: Sie engagieren sich ja auch neben dieser Veranstaltung gegen Sexismus. Welche Möglichkeiten hat der MV um die Sicherheit von Frauen in Discos, Bars und Co. zu verbessern?

A: Wir versuchen, Gästen zu vermitteln, dass wir eine Nulltoleranzpolitik bezüglich Übergriffen fahren, via Webpräsenz, Aushängen und Visuals. Alle die bei uns an Einlass und Bar im Einsatz, sind stets bereit zu helfen, und wir haben inzwischen bei jeder Party mindestens einen Security im Einsatz. Wir versuchen sogar, dass bei jeder Party auch jemand von uns auf der Tanzfläche ein bisschen die Augen aufhält. Da die Grenze zwischen Veranstaltenden und Publikum bei einem Kollektiv wie dem Musikverein oft fließend ist, liegt uns an einem Austausch mit unseren Gästen, deswegen die Reclaim The Night Lounge: eine öffentliche Plattform schaffen. um Erlebnisse zu schildern, Wünsche an Veranstaltende zu äußern, Ideen für kleine Aktionen in den Raum zu werfen.

Entschuldigung aber ich habe ganz vergessen zu fragen wie denn der gesamte Abend ablaufen soll (Programm und geplante Aktionen)?

Nach einem einleitenden Vortrag von mir wird es eine offene Gesprächsrunde geben, in die sich alle, die kommen einbringen können. Bettina Wagegg vom Musikverein wird das moderieren und mit ein paar Fragestellungen ins Rollen bringen. Danach gibt’s noch ein bisschen Bar-Musik, damit auch im kleineren Kreis noch Gespräche fortgeführt werden können. Und ein bisschen was zum Snacken gibt’s auch.

Rassismus-Kehrwoche: RegierungTM vs Facebook the Hutt

Als ich zu denen gehörte, die es nicht verkehrt fanden, dass Heiko Maas Facebook um ein härteres Durchgreifen in Sachen rechter Hetzpostings bat, war ich einen Moment lang besorgt, ob ich damit auch gleich automatisch zu denen gehöre, die sich eine Regierung wünscht, die mal richtig durchgreift. Schon mehr Bruce Willis als Chuck Norris, also mehr Xena als Hitler, aber irgendwie trotzdem besorgniserregend. Dann kam mir aber, dass Voraussetzung dafür ja wäre, dass ich dran glauben täte, dass die RegierungTM FacebookTM mehr als ein wohlkalkuliertes höflich-verständnisvolles Lächeln abringen könnte. Deswegen ist das Vorpreschen von Maas, dem sich Merkel inzwischen ja angeschlossen hat, schon eine amüsante Sache, denn es wird zeigen, dass Facebook letztlich die Merkel der sozialen Plattformen ist: Kritik, das Aufzeigen von Grenzen und Verbesserungsvorschläge versacken stets in einer lächelnden mausgrauen? Mausblauen! Jabba-The-Hutt-PR-Wabbelhaut, die alles soweit eindringen lässt, dass es den Anschein einer Reaktion hat, dann aber lässig zurückfedert in was-auch-immer eh vorher schon ihre Position war. Macht wabert hinter Faux-Durchschnittlichkeit, hinter dem Hoodie des Jedermann, der nur dein Bestes will, sein Bestes versucht, wie du und ich, aber es ist halt kompliziert, das musst du schon verstehen, aber: mit gesundem Menschenverstand und wenn wir uns alle gemeinsam bemühen, dann! An Facebook zu verzweifeln ist wie die Verzweiflung eines Kindes in seiner ohnmächtigen sozialen Abhängigkeitssituation. Ein Kind, das den Eltern nicht klarmachen kann, wo ein Problem liegt, weil diese, sich besserwissend wähnend, gar nicht richtig zuhören, weil: Vorsprung durch Daten, mehr Überblick, mehr Erfahrung, mehr Wissen. Mehr halt. Das kann sich ein Kind doch gar nicht vorstellen. Diese Position gönne ich Maas.

“Facebook ist letztlich die Merkel der sozialen Plattformen”

Man könnte sich ja jetzt Popcorn greifen, sich zurücklehnen und zuschauen, quasi Godzilla gegen Mothra (oder vielleicht: Mechagodzilla, aber Mothra ist cooler, weil Robert Smith gegen Streisand, egal: jedenfalls Supervergleich, weil beide auch nicht 100% gut oder 100% böse), aber dann dämmert dir: Blöd, dann sind die Flüchtlinge ja die Einwohnerinnen von Tokyo, will heißen: im besten Fall Statistinnen ohne Stimmen, im blödesten: Kollateralschaden. Und überhaupt, warum kümmert Maas und Merkel das plötzlich? Ein menschlich-herziges Ablenkungspflasterl, damit die Verschärfung der Flüchtlingspolitik nicht so schmerzt? Beziehungsweise nur die Flüchtlinge schmerzt, aber die wohlmeinende deutsche Zivilgesellschaft nicht. Oder Imagesorgen um die Marke? Wir schaffen das. Wohlkalkulierte Dosierung von Wir-Gefühl, ging wohl ein bissler nach hinten los, denn soviel “Wir gegen die” war ja auch wieder nicht gewollt. Das grünwiesige und crazybiedermannberlinige (denn letztlich wird Berlin ja nur als andauernder quasi-nostalgischer Ausbruchsmoment gefeiert, nicht als Vision einer anderen Möglichkeit, an der gebaut wird, aber das ist ein anderer Rant) SchlandTM, das mit Fußball und Staatspop und etzsimmawiederwer-Gefühl, na, da wuchern nun schon ein paar Rostflecken auf der weißen – entschuldigung: “wir sind bunt”-Weste, naja: vielleicht doch eher “wir sind pastellfarben”, zu bunt soll es hier ja auch niemand treiben, jedenfalls: der braune Rost muss mal wieder weg. So ist das aber halt, wenn nix gegen das feuchte Dauerklima getan wird, weil die Parolen ja doch auch immer mal wieder praktisch für die eigene Politik sind, so ist das halt, wenn immer nur drüberlackiert wird und nie ordentlich abgeschliffen und grundiert, das sagt dir jede Autoschrauberin: da kommt der Nazidreck halt immer wieder durch.

“Warum kümmert Maas und Merkel das plötzlich? Ein menschlich-herziges Ablenkungspflasterl, damit die Verschärfung der Flüchtlingspolitik nicht so schmerzt?”

Nun mögen manche Mitglieder der weißen Herrenmasse den Finger heben, weise mahnend, dass es doch vielleicht auch gut so sei, dass das alles auf Facebook so sichtbar sei, ein wahrer Spiegel der Gesellschaft, da wisse man wenigstens woran man sei, und das Geschmeiß kreuche nicht nur im Dunklen herum, wo es dann wieder nur Agent Antifa Moulder sieht, dem eh keiner glaubt, weil in der deutschen Fußballlogik halt immer noch wie Pluspol/Minuspol gedacht: linksextrem ist die andere Seite von rechtsextrem. Dass sich die Definition von linksextrem aber seit Jahren von “Bombenattacken gegen den Staat” zu “noch einen Funken sozial-politisches Verantwortungsgefühl und Empathie im Leib” verschoben hat, und sich somit zu einem Gütesiegel entwickelt hat – wen juckt’s. Aber früher wurde ja auch mal geglaubt, dass Homosexualität widernatürlich sei, weil Magnet: Pluspol und Pluspol stoßen sich ab. Von daher bleibt tröstende Hoffnung, dass auch die Extremismustheorie Jahre nach ihrer theoretischen Überwindung auch noch IRL eingemottet werden wird. Zu der Logik, dass es doch super wäre, dass der rechte Dreck nun dank Facebook sichtbar sei und nicht an dunklen Stammtischen verborgen bliebe: Nun, das mag für manche Nichtbetroffene schon so sein, dass sie sich das als kleinen Gruselschauer beim Morgenkaffee geben wollen, aber ob das nun Flüchtende als bereichernd empfinden, dass sie das so alltäglich  in die Fresse kriegen? Wohl weniger. Denen geht es wohl eher wie mir, wenn ich den “endlich mal für alle sichtbaren, yeah!” sexistischen und homophoben Dreck um die Ohren kriegte, dass mir schon vorm Frühstück der Magen klamm wurde. Nicht umsonst habe ich eine liebevoll handgemachte, immer wieder überarbeitete Filterbubble, die mir niemand Nichtbetroffenes ever ranzig machen wird. Diesen Hassdreck im sozialen Kontext von Facebook immer wieder zu lesen, bringt Gewöhnung mit sich und resultiert in der Verschiebung von Grenzen des Tolerierten. Nicht umsonst arbeiten Menschen inzwischen mit allen Mitteln – Facebookmeldung, Anzeige bei der Polizei, Shaming bei Arbeitgeber und sozialem Umfeld – um einen sozialen Konsens wiederherzustellen, in dem es nicht alltäglich ist, rassistischen Dreck von sich zu geben.

“Super, dass dank Facebook, dem Spiegel der Gesellschaft, der rechte Dreck nun sichtbar ist? Für Flüchtlinge und andere Betroffene wohl kaum.”

Facebook als Spiegel. Nuja. Wenn, dann schon eher so ein Labyrinth von Zerrspiegeln, wie am Oktoberfest, in dem manches doppelt so breit oder wellenförmig gezeigt wird, und anderes gar nicht. Und wenn du verstehen willst, wie das aufgebaut ist und funktioniert – ich sag dir: keine Chance. Da irrst du tagelang durch das Kabinett und rennst dir bloß das Hirn blutig. Was dir aber klar wird, während du im Bierzelt nebenan mal eben noch einen Stärkungsschluck nimmst, ist, dass schon gezielt manches mehr gezeigt wird als anderes. Zum Beispiel Emotionalisierendes. Vielleicht war es ein Schluck zu viel, denn das war tapsig und dir entgleitet die schöne Spiegelkabinettmetapher, oder – nee, war nicht das Bier: Funktioniert hat sie von Anfang an nicht, weil: Es wird ja überlegt, bevor gepostet wird, ausgewählt, formuliert, Inszenierung, Performanz überall wohin du schaust. Fast wie offline, aber bewusst für online. Auch Rassist*innen können schließlich Social Media managen und da funktioniert so eine soziale Plattform ja genauso toll wie für Sexist*innen. Prima zum gegenseitigen Hochschaukeln und Schulterklopfen, ob öffentlich oder in geschlossenen Gruppen mit Verschwörungsbonus, und was für ein tolles Tool zum Vernetzen und Organisieren. Facebook ist ein gottverdammter Verstärker. Merkst du was ich merke? Wie sich mystery und hystery und history verstärken.

“Auch Rassist*innen können schließlich Social Media managen und Facebook ist ein verdammter Verstärker.”

Lass uns nicht über Sexist*innen reden, aber Rassismus geht dann doch zu weit. Wobei sich auch die Misos seit Jahren wirklich viel Mühe geben – das muss auch mal anerkannt werden, auch wenn sie jetzt gegen die rechten Sprüche abstinken – aber hey, mit blutrünstigen Todesdrohungen und hochkreativer vernetzter Verächtlichkeit – das da draus noch kein Event gemacht worden ist, wo du einen Eintritt dafür zahlst, eigentlich ein Wunder. Ach, gab’s schon. Sieh eine an. That’s social media: Aus Scheiße Gold machen und damit noch zur Senkung der Toleranzgrenze beitragen. Das muss man ja auch mal sagen dürfen: Egal, aus was für einem Grund das gesagt wird, es wird gesagt, und irgendwie muss alles mal gesagt werden heutzutage. Dürfen. Ich muss dürfen! Einsdrölf. Immer mit diesem Gestus, als hätte dir’s jemand verboten, das zu sagen. Immer die Sorge um die Meinungsfreiheit. Wessen eigentlich? Dazu müsste es doch erst mal eine gleiche Meinungsfreiheit für alle geben, was wir offline nicht hinkriegen, aber Facebook könnte das: neutrale Voraussetzungen schaffen. Du brauchst keine Lupe zu zücken, um drauf zu kommen, dass die soziale Plattform ganz schön rutschig ist, und es wieder mal die Marginalisiert*innen sind – ja, sieh einer an: ein Scherz über die inkludierende Schreibweise gleich mal selbst vorweggenommen, bevor du ihn bringst -, wo war ich: ach ja, die rutschige Plattform ist dann doch wieder eher für den Grip der bärtigen Sohlen mancher gemacht, nicht für alle. Haste die falschen Brustwarzen, biste raus. Willste selber vorsorgen, dass keine genärrischen Maskulinen oder Rechten über deinen Namen deinen Wohnort rausfinden und ihre kreative Hate Poetry offline in kreative Hate Performance umsetzen, und meldest dich deswegen unter einem Fakenamen an, wirste von einem Moment auf den anderen gekickt, weil dich wer meldet, dem oder der deine Postings nicht passen. Weg, das soziale Umfeld, weg, die Kontakte, ja, hätteste nur Emailadressen getauscht usw jaja, hätteste pätteste. “Wo soll das hinführen, wenn Privatunternehmen über Äußerungen entscheiden?” ist eine rhetorische Frage, gell? Die Antwort sehen wir doch längst in der angewandten Praxis. Wenn wir genau hinsehen.

“Willste selber vorsorgen, dass keine genärrischen Maskulinen oder Rechten über deinen Namen deinen Wohnort rausfinden und ihre kreative Hate Poetry offline in kreative Hate Performance umsetzen, und meldest dich deswegen unter einem Fakenamen an, wirste von einem Moment auf den anderen gekickt, weil dich wer meldet, dem oder der deine Postings nicht passen.”

Beißt sich in den Schwanz: Dass die Plattform nicht auch für deine freie (und das heißt: sichere) Meinungsfreiheit strukturiert ist, zwingt dich überhaupt erst zum Fakenamen. Der Fakename sorgt dafür, dass du rausgeschmissen wirst. Ein Klassiker, ja, quasi sowas wie das Wiener Schnitzel unter den Gegenargumenten zu “wer nix falsches tut, braucht nix zu verbergen”. Mit Panade und Zitrone. Selber schuld, wenn deine bloße Existenzweise für die soziale Struktur der Plattform-Mehrheit ungeeignet ist. Facebook kann sich seine putzigen 88 Optionen dein Geschlecht anzugeben mit einer gehörigen Portion Emojis, damit’s auch ein bisserl schmerzt, in seine tighte ToS schieben. Guckense halt weg, gibt’s nix zu sehen, Profil ist weg und dank der lustigen ausschnittweisen Anzeigen von Postings in der Timeline merkt’s noch nicht mal wer. Wie vom Erdboden verschluckt. Nadia Drake, Laurie Penny, Michael Anti, Feminista Jones, Salman Rushdie – um ein paar bekannte Namen zu nennen, die von Facebook gebannt wurden. Nicht leicht, sie zu finden, diese Geschichten. Wie ein blinder Fleck, das wachsende Nichts in der unendlichen Geschichte. Grausam, nicht mal so ein Abgang wie Artax in den Sümpfen der Traurigkeit ist dir da gegönnt. Keine auf der Wange zitternd glitzernde Träne, keine winkenden Taschentücher, kein Glamour. Eher so Kafka. Noch eine Pointe an der Sache: Fake für wen? Dein Fakename ist im sozialen Sinne eh gar keiner, weil dein Bekanntenkreis genau weiß, wer du bist. Aber die leidige Anzeigenkundschaft. Für die ist es halt ein Fake, da kommt Facebook nicht drumrum und kann’s doch nicht mal laut aussprechen, denn das könnte ja User vergraulen. Mit so einem Fake kann man sich halt nichts kaufen. Da braucht es halt Profile wie deutsche Reihenhäuser. Mit Jägerzaun, Hund, zwei Kindern, Till Schweiger und Oktoberfest. Dann biste safe. Wie DeutschlandTM halt. Ja, liebe Flüchtlinge, willkommen, aber lernt erst mal Kehrwoche, Karneval und Knödel schätzen, ze germin KKK quasi, sonst wird das nix mit uns.

Aber worauf wollte ich eigentlich raus? Ach ja, auf so ein semi-resigniertes “Ob es eine Imagekampagne für ein deutsches Identitätsgefühl ist – das man schon will, aber halt nicht gleich so wie jetzt diese Neonazis abgehen – oder ob es um den Lack vom humanitären Facebookselbstbildnis geht, letztlich: Wenn plötzlich mehr Hetze gelöscht werden sollte, dann nur, weil doch niemand seine Werbung neben Faschosprüchen stehen haben will.”

#Merkelstreichelt – Regieren ex negativo und wer shitstormt hier wen?

“Valar Merkelis!”*
Günter Hack

Die Bundeskanzlerin und das Flüchtlingsmädchen

Der Vorfall ist inzwischen bekannt: Merkel ging unter dem Titel “Gut leben in Deutschland” auf PR-Tour. Inszenierter Bürgerkontakt als Charemoffensive oder sowas war wohl der Plan. Das ging nach hinten los: “Kanzlerin Angela Merkel wollte das ‘wirkliche Leben’ sehen. Jetzt hat sie es gesehen. Und es schlug ihr mit der Faust ins Gesicht,” schreibt Viktoria Morasch (taz). Der Konfrontation mit einer ganz offen über ihre Situation redenden jungen Asylsuchenden und ihren Tränen hatte Merkel nichts Effektives/Emotionales entgegenzusetzen. Als eine kritische Hashtag-Aktion #Merkelstreichelt aufbrandet, realisiert die Presse die Relevanz und reagiert mit zahlreichen Artikeln, und auch etliche Blogs schreiben darüber. Ich bin endlich dazu gekommen, mir einiges davon durchzulesen und um mir einen besseren Überblick zu schaffen, hab ich mal thematisch zu einer Art kommentierten Presseschau sortiert:

Was vernichtend ausfiel, ist mal wieder die Berichterstattung über die Hashtag-Aktion, durch die der Vorfall überhaupt erst zu einem Thema für die Presse wurde. Deswegen als zweiter – vielleicht für manche sogar interessanterer –  Teil dies Blogposts eine Medienkritik: Wer shitstormt hier wen?

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Die ehrliche Kanzlerin

Manche blenden den Punkt Flüchtlingsproblematik und die Inszeniertheit der kompletten öffentlichen Figur Merkel aus, und versuchen sie als die ehrliche, authentische Kanzlerin ohne Schnickschnack in Szene zu setzen. Nico Fried (SZ) verteidigt Merkel: Nur weil sie Gefühle nicht politisch instrumentalisieren will, wirke sie meist “cool”, aber manchmal eben auch “kalt”. Er verzettelt sich beim Buckeln vor ihr darin, dass genau dieser Vorfall im Rahmen einer PR-Kampagne der Kanzlerin stattfand, die Emotionalisierung einsetzt, um sie als bürgernahe Politikerin zu inszenieren. Auch Michael Hanfeld (FAZ) betreibt Hofberichtserstattung: Böser hämischer Internet-Mob auf der einen Seite. Super ehrliche Kanzlerin, die an dieser Situation nur gescheitert ist, “weil sie die Kunst der Verstellung nicht so gut beherrscht wie viele andere ihrer Zunft.” Die Ehrlichkeit bestehe darin, dass sie sagt wie’s ist: “Deutschland kann auf Dauer nicht alle Flüchtlinge aufnehmen.”

Die Krise der Flüchtlingspolitik

Diese Aussage Merkels, dass “nämlich Deutschland nicht in der Lage sei, alle Flüchtlinge aufzunehmen, die es im Nahen Osten gebe”, entlarvt Thorsten Denkler (SZ) als unangebrachte Stimmungsmache gegen selbige: “Zum einen: Das verlangt auch niemand. Zum anderen: Deutschland leistet längst nicht so viel wie andere EU-Staaten.” Wenn der Artikel auch etwas arg auf der wirtschaftlichen Nützlichkeit von Flüchtlingen herumreitet, räumt er doch auch mit einigen falschen Klischees auf. Dass zweiteres bitter nötig ist und ersteres gefährlich, sollte in Zeiten, in denen CDU/CSU Politiker darauf, dass fast kein Tag mehr ohne Anschläge auf Flüchtlingsheime vergeht, so reagieren, dass sie in Sachen Flüchtlingspolitik Einsparungen fordern.

Vor der “Nützlichkeit” als Argument warnt auch Frida Thurm (Zeit), die eine von mehreren ist, die den Vorfall als misslungenen Realitätscheck für Merkels Flüchtlingspolitik beschreiben: “Da steckt das eigentliche Problem an Merkels Bürgerdialog: Das Regierungsprogramm wird konfrontiert mit der Realität. Da wird schnell klar, dass die Unterscheidung in ‘gute’ und ‘schlechte’ Ausländer, wie die Bundesregierung sie gerade mit ihrem neuen Asylgesetz festgeschrieben hat, nichts taugt.”

Annett Meiritz (Spiegel) stellt die Brutalität der deutschen Flüchtlingspolitik noch deutlicher heraus: “Asylanträge würden künftig schneller bearbeitet, betonte sie [Merkel]. Und die einzige Antwort, die wir haben, ist: Bloß nicht, dass es so lange dauert”, sagte sie wörtlich. Wohlgemerkt: Die einzige Antwort. Das ist zu wenig, und kaum eine Szene zeigt die Schwächen und Widersprüche deutscher Flüchtlingspolitik so klar und verdichtet wie das Gespräch zwischen der Regierungschefin und der Rostocker Schülerin.”

Désirée Linde (Handelsblatt) erweitert den Symbolgehalt des Vorfalls für Flüchtlingspolitik über Deutschland hinaus: “Wie hilflos Europa – und wenn man es größer betrachtet – die ganze reiche Nordhalbkugel angesichts der Flüchtlingsströme ist, die Krisen, Kriege, Hunger und Elend produzieren. Der Kontrast zwischen Politik und Realität wurde selten deutlicher.”

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Den Vorfall als Konfrontation mit der Realität der GroKo-Flüchtlingspolitik zu verstehen, bedeutet auch zu erkennen, wie sehr sich diese mit rechten Gruppierungen wie PEGIDA und AfD deckt. Regieren ex negativo: Merkel hat die Situation NICHT zu einem Appell gegen Fremdenfeindlichkeit genutzt, obwohl in Deutschland nun inzwischen schon alle paar Tage Unterkünfte Asylsuchender attackiert werden, obwohl ganze Dörfer in rechter Hand sind, obwohl sich dieser Vorfall, die Symbolkraft noch unterstreichend in Rostock abspielte. Mit diesem verantwortungslosen Schweigen macht sie sich Kanzlerin, die offener für die sogenannten besorgten Bürger als für humanitäre Hilfe ist.

Die Junge Welt lobt dementsprechend sarkastisch die Ehrlichkeit der Kanzlerin: “Das muss man Merkel lassen. An ihrer Politik ist deutlich ablesbar, dass sie Flüchtlinge lieber im Krieg sterben, in Lagern dahinvegetieren oder im Mittelmeer ertrinken lassen würde. Was die Kanzlerin in ganze Sätze fasst, entspricht exakt den Parolen, die der rassistische Mob 1992 beim Pogrom im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen brüllte. Ihr Kanonenboot ist voll.”

Rassismus, Extremismus der Mitte, er nährt sich auch davon, dass er unter dem Deckmäntelchen der Binnenpluralität in Nachrichtenmedien Raum gewährt bekommt. Da hilft auch kein rassismuskritischer Artikel, wenn dieser nur als die andere Seite zweier gleichberechtigt anerkannter ‘Meinungen’ Raum findet. Rassismus und andere Diskrimnierungen sind keine Meinungen und die Teile der Presse, die dies nicht (an)erkennen, machen sich mitschuldig an der Stärkung dieser Positionen. Ebenso wie jede*r einzelne Journalist*in, die nicht kritisch den Mund aufmachen, wenn dies in dem Blatt geschieht, für das sie selbst arbeiten. Um noch ein wenig mehr Licht auf das Wuchern fremdenfeindlicher Haltungen in Deutschland zu werfen, hier einfach mal kurz in meine Twitter-Timeline gegriffen und drei Blogposts zum Thema herausgefischt, alle von gestern: “Sterbende Dörfer fest in rechter Hand”, “Der hässliche Deutsche”, “Die Fremdenfeindlichkeit sitzt in der Mitte der Gesellschaft”.

Was ich mir aktuell von einer der großen Zeitungen wünschen würde, schon mal allein gegen das Abstumpfen und das Verlieren des Überblicks: So etwas wie das The Counted Projekt vom Guardian nur über Angriffe auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte in Deutschland. Wer ernsthaft glaubt, es gäbe dafür nicht genug Stoff, dem oder der empfehle ich z.B. Robert Andreasch auf Twitter zu folgen.

Der PR-Fail

Ein weiterer Fokus der bei Berichten über den #merkelstreichelt Vorfall Beachtung fand, war ihn als bloße Panne in der PR-Inszenierung der Kanzlerin zu lesen: Nicht ihre Politik ist das Problem, sondern die Inszenierung dieser Politik lief nicht rund. Der Postillon bringt das satirisch auf den Punkt: “Merkels Bodyguard gefeuert, weil er weinendes Flüchtlingsmädchen nicht rechtzeitig entfernt hat.” Das ist so entsetzlich treffend, weil es so nah an der Realität ist. Eine Politik, deren Vorgehensweise von ihrer Unsichtbarkeit lebt, von ihrem Verbergen in der Inszenierung, wurde in diesem Vorfall einen Moment lang sichtbar. Zutiefst unsoziale Strategien werden unsichtbar gemacht oder mit einem Twist als “unvermeidbar” verkauft, um sie besser durchsetzen zu könnenWie es in Der Welt Robin Alexander (dessen tumbes Treten gegen Kritik an der derzeitigen Flüchtlingspolitik als bloßen “moralischen Distinktionsgewinn des politisch Korrekten” zwar nicht von sehr viel sozialer Tiefe zeugt, aber der diese Marketing-Ebene) gut beschreibt: “Sie wird als patente Problemlöserin inszeniert, ja, als wandelnder Sachzwang. Der Euro muss gerettet werden, weil es ‘alternativlos’ ist. Griechenland muss dies und jenes tun, weil anonyme Institutionen, die der Bürger nicht kennt, und Regeln, die er nicht versteht, das eben so vorschreiben. Dieser gelebte Bürokratismus beruhigt die Deutschen, die Zeiten sind stürmisch genug.

Nebenbei gesagt: Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie Leute aus der PR-Ecke feinteilig wie Literatur/Kunst-Theoretiker*innen sprachliche und bildliche Elemente und Daten interpretieren. Traurig, weil sie eben nicht Kunstwerke untersuchen, sondern menschliches Verhalten auf Manipulierbarkeit hin. In dieser Denke wird “Menschlichkeit” zur bloßen darstellerischen Leistung, wie hier in einer Analyse des Vorfalls durch einen Persönlichkeits-Coach auf Meedia.

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Regieren ex negativo – Politische Inszenierung als politische Praxis

Was lerne ich daraus? Eine Politik des Marketing heißt heute nicht: eine strahlende, charismatische Figur mit Zukunftsvisionen aufbauen, genauso wie Werbung heute nicht mehr in Form eines HB-Männchens funktioniert. Politik des Marketing heißt heute, um eine schöne Zeile Nils Markwardts (Zeit) aufzugreifen: “eine Form der Gouvernementalität, die den demokratischen Streit durch die geräuschlose Deaktivierung von Alternativen ersetzt.” Könnte auch von Mark Fisher sein.

Wenn Politik immer mehr die Methoden von Marketing einsetzt, zum bloßen Machterhalt – ab wann entfernt sie sich zu weit von ihrer repräsentativen Aufgabe und von der Demokratie? Und welche Instanz zieht die Grenze, oder ist überhaupt noch fähig, eine Grenze zu ziehen, wenn es Teil der Praxis ist, die Mechanik, die Unmenschlichkeit der Zustände für manche, unsichtbar zu halten? Merkels fehlende Bodenhaftung kritisierend, schreibt Michael @mspr0 Seemann: “Sie ist außer Stande noch außerhalb der Kategorien des politischen Theaters zu funktionieren oder zu denken. Wie soll so eine Frau, die sich so sehr von den Lebensrealitäten der Menschen entfernt hat, diese Menschen noch regieren?” Gleichzeitig hält er aber auch fest, warum es so weitergehen dürfte: “Machen wir uns nichts vor, die meisten von uns leben nicht schlecht damit.” Wenn das Gros der Bevölkerung nur am Erhalten des Status Quo interessiert ist, und auf alle, denen es schlechter geht – pardon my language – scheißt, dann hat dieses Land genau die Regierung, die es verdient. Joa, dann haben wir eine repräsentative Demokratie par excellence. Dass dem so sein könnte, dafür ist auch der Rechtsruck der Mitte ein warnendes Signal und mein “It’s time to be afraid of Germany again” nehme ich auch nach ein paar Tagen Gemütsabkühlen nicht zurück.

Christopher Lesko (Meedia) schreibt: “Niemand ist in der heutigen Zeit auf seinem langen, zähen und schmutzigen Weg an die politische Macht zentraler Steuerungsfunktionen gelangt, weil er herzlich, beziehungsvoll und empathisch war. Wäre es so, er oder sie hätte nicht lange in der Rolle überlebt. […] Berührbarkeit jedenfalls gehört nicht zu akzeptierten Werten des politischen Systems, im Gegenteil: Sie hält auf, reduziert subjektiv erforderliche Distanz und schränkt kühle, rationale Steuerungs- und Handlungsfähigkeit ein. Berührbarkeit, so also das System, macht potentiell erfolglos.” Zur Kritik am System denkt Lesko (Chef der Leadership Academy Berlin) das nicht weiter: “Berührbarkeit ist Luxus”, so ist das halt. Hier ist es wieder, das Unvermeidbare. “Es ist, wie es ist”, wie schon die Böhsen Onkelz sangen.

Leonard Novy (Carta) wehrt sich dagegen. Er weist auf Merkels Schwäche in Sachen normativer Argumentation hin, Carolin Emcke zur rhetorischen Weichgespültheit von Merkels Sprache zitierend, in der “Positionen … gar nicht als Positionen, sondern gleichsam als dezisionistische Notwendigkeiten beschrieben“ werden. Sein Resumée: “Merkel fährt gut damit, doch unserer politischen Kultur schadet es. Chantal Mouffe beschrieb diese technokratisch-konsensorientierten Politikansatz als ‘Negation des ‘Politischen’’. Sie beraubt eine Gesellschaft der Offenheit der Wege, die sie einschlagen kann, und der Berechtigung des Konflikts darüber. Demokratie ist mehr als die Exekution von Sachzwängen.” Und er hat einen Hoffnungsschimmer parat: “Die Leute allein bei kurzfristigem Interessenkalkül, Pragmatismus oder ihrem Bedürfnis nach Sicherheit abzuholen, wird 2017 kaum funktionieren. Das ist Merkels Terrain. Es gilt, demokratiepolitisch und politisch-moralisch Alternativen aufzuzeigen, wieder „ins Offene“ (Carolin Emcke) zu denken und bei den Menschen so ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass eine andere Politik, eine andere Sprache und auch ein anderer Umgang mit palästinensischen Flüchtlingsmädchen möglich ist.” Danke dafür, Leonard Novy.

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#Merkelstreichelt – wer shitstormed hier wen?

In einem ist die Presse sich mal wieder ziemlich einig: in ihrer Meinung zu #merkelstreichelt, der Hashtag Aktion. Nur ein paar Beispiele (als Listicle, aus Gründen):

  • Thorsten Denker (SZ): “Es ist leicht, jetzt auf Bundeskanzlerin Angela Merkel einzudreschen. In den sozialen Medien ist die Häme groß,”
  •  Michael Hanfeld (FAZ): die “Pöbler, die “Shitstormer”, die “empörten” “Online-Twitterer” (sic),
  • Christopher Lesko (Meedia): “reagierten dabei die Kommentatoren auch nicht anders als Merkel selbst Reem gegenüber: Sie ignorierten komplexere Wirklichkeiten und ihre Gegenabhängigkeiten und sprangen emotional auf einen kleinen Ausschnitt. Nichts anderes hat Merkel in der Situation getan. Vereinfacht ausgedrückt, behandelten die Kommentare Angela Merkel letztlich so, wie sie es Merkel im Umgang mit der jungen Libanesin vorwarfen,”
  • und auch Viktoria Morasch interpretiert die Hashtag-Aktion als “Deutschland streichelt mit”, letztlich den guten alten Slacktivismus implizierend.

Schon interessant, angesichts dessen, dass ohne #merkelstreichelt wahrscheinlich der Vorfall gar kein großes Medienecho erhalten hätte. Insofern war die Hashtag-Aktion nämlich erfolgreich: Es wurde die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit darauf gelenkt, und das ist Funktion einer solchen Aktion im Gefüge von Möglichkeiten bürgerlichen Protestes. Leider ist die Presseaktion, die folgt, immer die gleiche: Es wird darüber berichtet, weil es einen Hashtag gab. Bei der Berichterstattung taucht dieser aber nur noch als Randnotiz von der dummen trollenden Masse auf, die nicht ernstzunehmen sei. Immer wieder.

Die Stimmen der Menschen auf Social Media einerseits in ihrer Signalwirkung für Relevanz zu nutzen, sie für Inhalte zu melken, aber andererseits diese Menge von Menschen, die auf Twitter ihre Kritik äußern, die weder Ausbildung noch Podium und Reichweite von Medienleuten haben, mit solch einer, ja, Schadenfreude, Häme, mit soviel Hass, mit so einem andauernden Shitstorm von Negativpresse runterzurreden, kleinzuhalten – darin steht eine unglaubliche Arroganz diesen Stimmen gegenüber, die ja auch die Leserschaft, das eigene Publikum darstellen, dass es ein Armutszeugnis für den Journalismus ist. Von sozialer Medienkompetenz (in beiderlei Wortsinn) keine Spur.

In Kurzfassung: Natürlich werden bei einer Hashtag-Aktion keine komplexen Reaktionen gezeigt. Das liegt schon allein im Kontext begründet. Ich erinnere mich an ein Foto von einer Londoner Studentendemo von vor ein paar, auf dem eine Studentin neben einem Schild mit einem knappen politischen Slogan eines hochhielt, auf dem sinngemäß sowas stand wie: “Natürlich hab ich eine wesentlich komplexere Meinung dazu, aber die hat nicht auf’s Schild gepasst.” Hashtag-Aktionen sind sehr nahe an so einer Demo-Situation, spontane Proteste oder Reaktionen, sprachlich in ihrer Spontaneität nahe an mündlicher Kultur, und in Bewusstsein der Gruppenwirksamkeit. Es ist nicht das Medium für tiefe kritische Analyse, natürlich (auch das in beiderlei Wortsinn) wird hier vereinfacht.

Und, um auf Christopher Leskos “Berührbarkeit als Luxus” zurückzukommen: Emotionalität gehört durchaus auch dazu, schließlich wird aus dem Überschwang der spontanen Reaktion und des Gefühls der Vernetzung mit anderen heraus gepostet. Berührbarkeit, also: emotional zu reagieren, das ist für Mächtige, die zum Erhalt und Erreichen ihrer Position auf sie verzichten müssen, vielleicht Luxus. Die Machtlosen jedoch, die keine große Plattform für ihre Stimme haben – sie haben genug davon. Wenigstens davon. Nicht umsonst werden Mitgefühl und Solidarität, soziale Werte, immer wieder aggressiv als naiv und romantisch abgekanzelt. Letztlich ist das eine gute Portion “Sozialneid” mal andersrum verstanden: Der Neid auf die Common People, die einfach drauflos socializen können, auch mal platt und ausfallend, die sich auch mal danebenbenehmen können, weil sie nicht so viel zu verlieren haben.

Merkel wurde unter #merkelstreichelt stellvertretend als Repräsentantin einer politisch rücksichtslosen und nach unten tretenden politischen Haltung kritisiert, die in der Situation mit dem Flüchtlingsmädchen einfach nur einen bildlichen Ausdruck fand, Stichwort Meme-Kultur: die kreative grassroots Social Web-Bildsprache für soziale und politische Kritik. Tiefschwarzer Humor in the face of alles Übel der Welt. Das gestreichelte Flüchtlingsmädchen wird in der Bilder- und Geschichtenlogik der Memes zur Figur, die für alles steht, wo deutsche Politik zu kalt und egoistisch handelt, ob Flüchtlingspolitik oder Griechenland. Natürlich gab es schnell eine Tsipras streichelnde Merkel, die von Rechten angelegte (und inzwischen gelöschte) Google-Map von Flüchtlingsheimen machte ex-de:Bug-er @Bleed zum Streichelzoo Deutschland, Alexander @Nabertronic Naber (Publikative/Jungle World/Vice) zückte ein passendes Adorno und Horkheimer Zitat, und selbst ein Evgeny Morozov konnte sich den Sarkasmus nicht verkneifen: “This week has been fantastic for German public diplomacy. All that was missing was Merkel making refugee children cry.”

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Auch der Zeitpunkt spielte hier eine Rolle: Der Hashtag-Protest wäre vielleicht nicht so groß geworden, wenn nicht gerade die Kanzlerinnen-PR-Maschine durch dichte zeitliche Aufeinanderfolge von Griechenland-Schock und dem (natürlich!) unkritischen LeFloid-Interview eine gewisse Dissonanz erzeugt hätte. Angesichts politischen Verhaltens, mit dem viele nicht einverstanden waren, hat sich im Netz spürbar ein Gefühl der Ohnmacht, der Machtlosigkeit verbreitet, das in #merkelstreichelt ein symbolisches Ventil fand. Die Ablehnung der Ehe für alle waberte noch als Restwutwölkchen in den Hinterköpfen herum, und die Quasi-Domestizierung vom ‘jungen wilden’ YouTuber LeFloid zur Regierungs-PR folgte so schnell auf das paternalistische, ‘unmoralische Angebot’ Schäubles an Griechenland, das Merkel auch noch als “nie gekannte europäische Solidarität” zu verkaufen versuchte, dass die mit der Situation mit dem Flüchtlingsmädchen entstandene Lücke in Merkels sonst so effizienter PR-Gummimauer selbstverständlich als memeförmiges Ventil genutzt wurde. Dass dahinter eher Platinen und Kontakte zum Vorschein kamen als Fleisch und Blut (mehr Data oder mehr Lore, was meint ihr?), bestätigt nur, worauf unser politisches System Wert legt und was ich weiter vorne im Text schon beschrieb.

Zum Schluss noch mal in aller Deutlichkeit: Ein #Hashtag-Storm ist nicht anhand wörtlich genommener Tweet-Inhalte zu analysieren, genauso wenig wie sich anhand wörtlich-genommener einzelner Slogans auf Demo-Schildern der ganze Hintergrund einer Demo auf der Straße verstehen lässt. Oder for the media people: Eine Zeitung ist mehr als ihre Schlagzeilen und ihr solltet eure Leserschaft respektieren statt sie runterzumobben – lasst das Wort Shitstorm das nächste Mal doch einfach stecken und fangt lieber das analysieren und recherchieren an und vergesst den Respekt vor der Quelle nicht.

Ein Social Media Storm ist Ausdruck eines Smart Mob, eines Schwarms von Meinungen, die dem Medium, der Plattform und ihrer Struktur und ihren Regeln gemäß zugespitzt und vereinfacht und auf eine Pointe hin konstruiert sind: Social Media sind so angelegt, dass nur Virales zu einer breiteren Masse durchkommt. Darauf gehen manche User (genauso wie manche Newsmedien) bewusster, manche intuitiver ein, manche gewitzt und stilvoll, manche plump und daneben, aber alle haben sie verstanden: wer sich nicht den viralen Regeln der Plattform anpasst, bleibt unsichtbar und ungehört. Eigentlich sollten Journalist*nnen das am besten verstehen. Ich sag nur: bescheuerte Clickbait-Schlagzeilen, allwöchentlich durch’s Dorf gejagte “Zukunft der Medien ist WhatsApp/Snapchat/Periscope/AppleWatch” Panik oder mit fast religiöser Andacht verfolgte Social Media-Tipps und -Seminare, die längst zu einer eigenen Branche gewuchert sind.

 

*)  Das eingangs gefallene Günter Hack-Zitat für Nichtguckende von Game Of Thrones, der Serie (die vor blutiger Gewalt- und Willkürherrschaft nur so strotzt): Valar morghulis (“All men must die!”) ist dort ein Gruß, dem traditionell “Valar dohaeris” (“All men must serve!”) erwidert wird.