Die Rolle, die Körperlichkeit und Soziales in meinem Erleben von Musik spielen: Der Kontext, der mir abhanden gekommen ist.

Der @horse_ebook Tweet, den ich zum Jahresanfang zitiert habe, ist immer noch treffend: “Everything happens so much.” Seit 12. März 2020 bin ich nun schon in halbfreiwilliger Corona-Isolation. Ich gehöre zur Risikogruppe, und das lässt mich vorsichtiger sein, als ich es von mir gedacht hätte. Bis auf gelegentliche kleine Fahrradausflüge, Spaziergänge und ein Mal die Woche Einkaufen bin ich zu Hause. Diese Zeit hat mir die ganzen Relationen rund um physische und psychische Anwesenheit und Nähe durcheinandergewirbelt.

Mein Bedarf an sozialen Momenten, ist mir so viel bewusster geworden. Es ist unglaublich, zu spüren, wie ein simpler Videochat mit Freund*innen sich positiv auf meine Stimmung auswirken kann, auch wenn ich es mit Home Office und alleine Wohnen eigentlich gewohnt bin, mich nicht dauernd mit jemandem zu treffen, sondern schon immer im Alltag auch meine isolierten Tage genossen habe. Aber das lag auch daran, dass ich sonst auch oft sehr viel unter sehr vielen Menschen bin durch das Veranstalterinnen-Dasein, und einen großen Bekanntenkreis habe. Nach Abenden mit vielen Begegnungen tat mir immer danach eine Dosis Alleinsein gut, so wie nach Nächten mit lauter Musik die Stille. Und der Kontakt über Messages oder Social Media begleitet mich ja eh 24/7.

Ich weiß nicht, wie mich diese Zeit verändern wird. Jetzt gerade merke ich, dass so langsam FOMO aufkommt

Derzeit fehlt dieser Gegenpol – also: unter vielen Menschen, die ich mag, zu sein, – und ich merke sehr: Fuck, auch ich kann mich ganz schön alleine fühlen, haltlos. Dazu trägt auch die Unbefristetheit dieses Zustands bei. Ich glaube nicht daran, dass wir in diesem Jahr noch Konzerte und Parties veranstalten werden können. Ich weiß nicht, wie mich diese Zeit verändern wird. Jetzt gerade merke ich, dass so langsam FOMO aufkommt, die Angst etwas zu verpassen, das Gefühl ausgeschlossen zu sein, da die Lockerungen in vielen Bereichen da sind, aber ich immer noch Öffentlichkeit meide, denn ich weiß, dass so bald ich wieder unter Menschen bin, die ich mag, werde ich unvorsichtig und die ganzen Sicherheitsregeln einzuhalten, wird mir verdammt schwer fallen, und ich will mich dem Risiko nicht aussetzen. Mein einziger richtige Krankenhausaufenthalt bis jetzt ist mir immer noch in zu übler Erinnerung.

Die Rolle, die Körperlichkeit und Soziales in meinem Erleben von Musik spielen: Sie bilden den Kontext, der mir abhanden gekommen ist.

Diese zwei Monate sind unglaublich schnell und langsam zugleich verstrichen. Ich ärgere mich, dass ich nicht gleich zu schreiben begann, weil ich die Hälfte von dem, was mir durch den Kopf ging, was ich gelernt habe, oder was ich empfunden habe, schon wieder entglitten ist, und ich jetzt schon merke, dass ich das gerne, so tagebuchmäßig, noch mal lesen würde. Wie und was sich von Woche zu Woche veränderte. Ich habe so viel gelernt in dieser Zeit. Durch Gelesenes, durch Vorträge und Diskussionen, die ich mir gestreamt habe, durch Menschen, denen ich auf Social Media folge. Viel aber auch darüber, was mir an der Musikkultur, in der ich mich engagiere, die ich veranstalte, wichtig ist. Die Rolle, die Körperlichkeit und Soziales in meinem Erleben von Musik spielen: Sie bilden den Kontext, der mir abhanden gekommen ist. Dass es Menschen dazu bringt, sich zu begegnen, sich nahezukommen, und was das in Einklang mit der Musik mit uns macht. Das war mir vorher nur vage bewusst, vor allem das mit der Körperlichkeit, weil es einfach da war, wie die Luft im Raum. so selbstverständlich, dass es keinen Gedanken wert war. Ich bin kein superkörperlicher Mensch, einerseits zumindest. Aber jetzt merke ich in meinen Erinnerungen und meinem Vermissen eine Sensibilisierung darauf. Die Berührungen beim sich Durchschieben durch einen vollen Raum, voller Musik, voller Menschen, zur Theke, zur Bühne, zur Tanzfläche, zu Zigarette und Gespräch vor der Tür.

Laute Musik zu spüren.

Es feht mir, laute Musik zu spüren. Die Bassfrequenzen beim Dubstep – was hab ich in letzter Zeit an die frühen SUB:CITY Parties oder Shackleton im Zentralcafé gedacht! Das Vibrieren der Luft, das Mitbeben meines Körpers bei extremen Konzerten wie denen von Lightning Bolt oder Sunn o))). Wie mir die Musik die Lungenflügel zuzudrücken schien bei einer frühen Ministry Show. Und – um hier nicht zu pathetisch zu werden: das verdammte alberne supernervige Kitzeln in der Nase bei bestimmten Bassfrequenzen. Krasse brutale akustische Attacken wie Konzerten von The Locust oder An Albatross, die zu kathartischen Momenten führten, bei denen mir plötzlich mittendrin ganz leicht ums Herz wurde. Als könnte ich das erste Mal seit Langem wieder frei durchatmen.

Körper zu Musik zu spüren.

Es fehlt mir, Körper zu Musik zu spüren. Nicht sexuell, oder vielleicht manchmal schon auch, aber überhaupt nicht auf einen sexuellen Akt gerichtet, sondern höchstens in der Flüchtigkeit eines vorbeischwirrenden Gefühls genossen. Das Umherschubsen und Drängen im Pit bei Punkkonzerten, die verschwitzte freundschaftlich-aggressive Körperlichkeit, wo auch Schmerz okay war. Frühe Against Me! oder World Inferno Friendship Society Konzerte. Das exzessive Moment davon, und von so vielen Partynächten ist ohne physische Nähe nicht zu haben. Vom Tanzen bis zum leichten Berühren, wenn du jemanden im lauten Raum ins Ohr sprichst, und nicht zu vergessen die ganzen Umarmungen und Küsschen. Der Virus macht mir jede Berührung bewusst.

Bestuhlte Kultur, bei der sich Menschen besser voneinander trennen lassen, und Kultur, bei der freie Bewegung und unvorhersehbare Begegnungen und Berührungen zwischen Menschen ein Teil des Kulturerlebnisses sind – das wird wohl die nächste Kluft bei Öffnungen in dieser Ecke der Gesellschaft werden.

Das ist es, was mir gerade auch das Herz schwer macht, wenn es darum geht, wie wir uns Veranstaltungen vorstellen könnten, wenn es denn dann irgendwann um Öffnungen der Clubs gehen wird. Ich merke, dass ich da keine Freundin von Kompromissen bin. Vorsicht und Sicherheit und andauernd reflektierte Distanz soll nicht zum Wesen der Kultur werden, die ich machen will. Bestuhlte, ruhige Konzerte waren noch nie so mein Ding, auch wenn ich auch da schon schöne erlebt habe. DJ Livestreams scheinen mir gerade auch in erster Linie zu zeigen, was fehlt, wie gesagt: ihr Kontext. Wir DJs und Musiker*innen sind bei live Veranstaltungen nichts ohne das körperlich anwesende Publikum, das tanzt, Raum hat sich gehen zu lassen, enthemmt ist, socialized, sich nahe kommt, uns liebt, uns hasst, und nur zusammen sind wir die crazy vielköpfige, vielkörprige Kultur, die wir jetzt so vermissen. Musik in Clubs, ob Konzert oder Parties, lebt davon, dass sie Menschen zusammenbringt, ein Petridish voller Möglichkeiten ist, aber deswegen eben auch ein Hotbed für virale Ansteckung. Bestuhlte Kultur, bei der sich Menschen besser voneinander trennen lassen, und Kultur, bei der freie Bewegung und unvorhersehbare Begegnungen und Berührungen zwischen Menschen ein Teil des Kulturerlebnisses sind – das wird wohl die nächste Kluft bei Öffnungen in dieser Ecke der Gesellschaft werden.

Auseinandersetzung um Antje Schrupps ‘Gibt es Frauen und Männer überhaupt?’

Als ich Freitagabend in der Tram in meiner Twittertimeline ein kurzes Hin und Her darüber las, ob die Kritik an einem Text in der ZEIT gerechtfertigt oder überzogen sei, entfuhr mir ein gedankliches “Oje”, weil ich vermutete, dass es um Antje Schrupps ‘Gibt es Frauen und Männer überhaupt?’ gehen würde. Ich lag richtig, und zwei Tage später hatte ich jetzt auch endlich Zeit, den Text zu lesen und der Kritik ein wenig nachzuspüren.

Wenn ich es richtig verstehe, liegt der Hund im Ende begraben, wo Folgendes zu lesen ist:

“Das feministische Projekt, das heute ansteht, bestünde hingegen darin, genau diese Personen – Menschen mit Uterus, die Kinder gebären (möchten) – als politische Subjekte zu positionieren, deren Interessen, Anliegen und Bedürfnisse nicht länger missachtet werden dürfen.”

Das ist unscharf formuliert und kann bedeuten: 1.) NUR solche Personen sollen das politische Subjekt des Feminismus sein. Oder: 2.) Diese Personen sollen AUCH einen Platz als politische Subjekte des Feminismus bekommen. Die Lösung im Sinne Antje Schrupps ist 2.), was eigentlich allen auch im darauf folgenden Satz hätte klar werden können:

“Es wäre der Kampf für eine Gesellschaft, in der Menschen AUCH DANN nichts an Einfluss, Macht, Wohlstand und Lebensoptionen verlieren, wenn sie schwanger sind oder kleine Kinder versorgen.” (Hervorhebung von mir.)

Einige lasen aber glasklar die Bedeutung, die ich unter 1.) beschrieben habe und Leute (teilweise auch welche mit richtig vielen Followern wie Margarete Stokowski und Mario Sixtus, die ich beide auf ihre Art schätze, aber denen ich beiden auf Twitter nicht mehr folge, weil sie so zugespitzt schreiben. Das ist so ein Dauerreizeffekt, als würdest du dauernd provoziert. Mir sind die leiseren Accounts lieber.) tweeteten lautstark, dass Antje Schrupp im TERF-Sinne fordere, dass Feminismus nur für Gebährfähige da sei.

Es schwelt. Halb Feminismusdeutschland scheint schon darauf zu warten, dass der polarisierende Kampf zwischen transinklusivem und -exklusivem (TERF) Feminismus, der z.B. in Großbritannien schon lange ausgebrochen ist, auch hier ‘endlich’ den Mainstream erreicht. (Wobei zu diskutieren wäre, inwieweit ihn die UK-Mainstreampresse überhaupt erst angeschürt hat.) Ich bin froh, dass es hier noch nicht das nächste große Thema des toxischen Kolumnenjournalismus ist, aber hatte, wie einführend schon erwähnt, als ich las, dass Antje Schrupp einen neuen Text in der ZEIT veröffentlicht hat, schon geahnt, dass es Kritik in diese Richtung geben würde, da Antje in der Vergangenheit schon Kritik aus der Enby- und Transgender-Ecke bekommen hat. Warum, weiß ich nicht und ich möchte das auch nicht recherchieren.

Dass sich der Tonfall von Trans- und Enby-Queerfeminismus-Twitter in großen Teilen über die letzten Jahre sehr verschärft hat, ist so schmerzhaft wie schmerzvoll. Schmerzhaft für die, die – oft zurecht – einen geballten Ansturm der Kritik erleben. Schmerzvoll, weil in der Verhärtung des Tonfalls, der Zementierung der Position und der Annahme, das Gegenüber könne nur das Schlechtmöglichste meinen, in Vorverurteilungen, in Forderungen nach eindeutiger Positionierung und nach Anerkennung, schlicht der Schmerz von wiederholten Diskriminierungserfahrungen steckt.

Auf der anderen Seite des Rings: der professionelle weiße Cis-Feminismus, der teils mit komplettem Unverständnis auf die Schärfe der Kritik und auch auf die Unprofessionalität des jungen Queerfeminismus mit DIY- und Meme-Bildungshintergrund reagiert, statt ihn zu verstehen zu versuchen.

Feministische Theorie und erlebte Diskriminierung, Politik vs Akademie, und andere prallen hier immer wieder aufeinander, als wären sie oppositionelle Lager, was man auch meinen könnte, bis der Blick auf die Männers fällt, weiß männlich hetero Mittelschicht aufwärts, wieder mal zum Großteil bloß außenrum sitzen und milde lächelnd den Kopf schütteln über diese crazy Queers und Feminist*innen und die ganzen anderen Freaks im Ring. Hoho, man könnte fast denken, für diese stünde irgendwas auf dem Spiel in diesen Kämpfen. Unterhaltsam allemal, während sie sich dann wieder mit den wichtigen Dingen des Lebens beschäftigen können. Oder sogar mit selbstausgesuchten Themen.

Die Kämpfe werden nicht aufhören.

Die diskursive Macht, die es allein schon durch Reichweite hat, in einem großen Printmedium zu veröffentlichen, oder mehrere Tausend Follower zu haben, ist erschlagend für die, die sich von so einem Artikel falsch dargestellt oder diskriminiert, nicht gehört, abgedrängt, zur Marginalie gemacht fühlen. Aber wenn sich viele, die alle nur eine kleine Reichweite haben, zusammentun, können sie auch gehört werden. So wird ein Machtausgleich versucht: durch Lautstärke und Zuspitzungen und Zusammenschließen zum Hive. Die Affordance von Twitter und Facebook ist ja nun mal, dass man dadurch am besten gehört wird.

Ja, mitunter wird dabei über das Ziel hinausgeschossen und die sogenannte Cancel Culture ist nicht automatisch fair und angemessen, nur weil sie von Marginalisierten kommt. Aber es ist eben ein Mittel der Ohnmächtigen, derer ohne Macht. Um eine Auseinandersetzung auf gleicher Sprechhöhe führen zu können, muss vielleicht erst die Ohnmacht abgeschafft werden. Oder zumindest: Mitgedacht werden. Den Grund für die Schärfe des Tonfalls mitzudenken, wäre doch mal ein Ansatz, oder? Sich der Verzweiflung, die hinter der Aggressivität oder Vehemenz stecken könnten, bewusst werden?

Das heißt nicht, Gesagtes gar nicht kritisieren zu dürfen, aber vielleicht mal etwas mehr Zeit in den Versuch investieren, zuzuhören und verstehen zu wollen. Nachvollziehen zu können, woher die Wut und die Kampfbereitschaft kommt, und sie anzuerkennen. Die eigene scheinbare Nüchternheit bei einem Thema nicht mit Objektivität/Neutralität/Professionalität usw. zu verwechseln, wenn sie eigentlich schlicht einer Privilegiertheit entspringt.

Aber das hat jetzt ganz weit weg von Antje Schrupp geführt, pardon.

Ich nehme Antje Schrupp hier nichts übel, da ich sie als pragmatische Feministin schätze, die sich gerade nicht im Akademischen genügt, sondern die sich traut, laut zu denken und öffentlich zu diskutieren, wie in ihrem immer wieder bereichernden Blog. Der Artikel, um den es hier geht, wirkt auf mich etwas so, als hätte die ZEIT gern mal wieder angetestet, ob das Transgender/TERF-Ding jetzt hier auch schon zieht – deswegen der J.K. Rowling-Aufhänger -, aber als hätte Antje Schrupp dann lieber doch zum Thema ihres aktuellen Buchs geschrieben. ^^

Ihr aktuelles Buch Schwangerwerdenkönnen habe ich noch nicht gelesen, aber wäre jetzt doch neugierig drauf. 17€ sind aber leider ein stolzer Preis für einen 192-Seiten-Essay und Bücher über Schwangerschaft sind jetzt nicht die Top-Prio auf meiner Interessensliste, wo ich erst vor ein paar Monaten The Argonauts und Full Surrogacy Now gelesen habe. Und letzteres sei auch allen in diesem Kontext ans Herz gelegt: Sophie Lewis Ansatz, von Schwangerschaftsarbeit – “gestators of all genders unite!” – zu sprechen und Leihmutterschaft und Wahlfamilien ins Zentrum einer Utopie des Ausgleichs dessen zu stellen, was Antje Schrupp “reproduktive Differenz” nennt, halte ich für einen großartigen Ansatz. Auf deutsch ist es noch nicht übersetzt, aber Lukas Hermsmeier hat schon mal was dazu geschrieben.

Als Vorgeschmack, empfehle ich hier für die Englischlesenden auch noch diese zwei Essays von Sophie Lewis: Who Liberates the Slave?, ich sag mal grob: über Handmaid’s Tale und weißen Feminismus. Und auch ganz großartig, zum Thema Familie und Midsommar / Hereditary: The Satanic Death Cult Is Real.

P.S.: Bisschen Beef mit Antje Schrupps ZEIT-Text hab ich aber trotzdem: Wenn schon bis hin zu millimetergenauen Angaben auf Biologie eingehen, dann nicht alte Mythen reproduzieren. Das tut sie, wenn sie von der Durchschnittsgröße einer Klitoris schreibt, “die bei der Geburt zwischen 0,2 und 0,85 Zentimeter groß ist.” Dabei geht es mir nicht um pingelige Zahlenklauberei, sondern um die bittere Geschichte instutionalisierter Unsichtbarmachung bis hin zu Feindlichkeit Frauen und deren Lust gegenüber, die bei diesen falschen Angaben zwischen den Zeilen mitschwingt. (Mehr zur Klitoris und wie verborgen und schambehaftet das Wissen dazu auch heute noch ist, gibt’s zum Beispiel in diesem Artikel.)

 

Years And Years

Years And Years

Eine meiner Lieblingsserien des vergangenen Jahres war Years And Years. Russel T. Davies, den ich schon für seine Science Fiction Arbeit an Doctor Who und Torchwood und seine queeren Serien Queer As Folks und Tofu / Cucumber / Banana schätze, hat eine ganz wunderbare 6 Episoden lange Miniserie gemacht, in der er einen spekulativen Entwurf der kommenden fünfzehn Jahre wagt. Davies erzählt die Geschichte einer Familie in Tradition des poppigeren British Social Realism wie Billy Elliot, Trainspotting oder Pride, der sich mit Schicksalen der Working Class in der Thatcher Ära auseinandersetzte.

Schon nach der ersten Minute kommt der erste WTF-Moment, als eine Frau in einer TV Show auf eine Publikumsfrage antwortet: “If it comes to Israel and Palestine I don’t give a fuck,” und erklärt: “All I want is for my bins to be collected.” So wird Emma Thompson eingeführt, die Viv Rook spielt: eine brilliante Populistin, die später ihre Partei nach dem in Zeitungen durch vier Sterne ersetzten “fuck” dieser Aussage tauft: Four Star Party. Wir sehen den Ausschnitt aus dieser Talkshow mit einer Familie, den Lyons: Dan, schwuler Housing Officer, der sich um die Unterbringung von Flüchtlingen kümmert, darunter auch der Ukrainer Viktor, in den er sich tragisch verknallt. Dans Freund Ralph, der sich zunehmend offen für Verschwörungstheorien bis hin zur Flat Earth wird. Rosie, die working class single Mom, die im Rollstuhl sitzt und die Kantine einer Gesamtschule führt. Muriel, die Großmutter der ganzen Lyons-Geschwister, mit der sich Celeste immer wieder kabbelt, wenn sie diskriminierende Sprache verwendet, Hausbesitzerin ohne Geld, dieses instandzuhalten. Edith, weltreisende politische Aktivistin, die sich in eine Nachbarin Dans verliebt, die Storytellerin ist: Das entwickelt sich in dieser Zukunft zum Beruf, da sich herausgestellt hat, dass nicht nur Wissenschaft, sondern auch Geschichten dazu beitragen, Menschen die Welt zu erklären. Stephen, reicher weißer Finanzberater, mit seiner Frau, der schwarzen Chefbuchhalterin Celeste, und ihren Kinder Bethany und Ruby – sie sind die einzigen, die in London leben, der Rest wohnt in Manchester.

Diese Familie tauscht sich in der Eingangsszene 2019 während des Fernsehens über Textmessages aus, als der politische Aufreger von einem anderen Ereignis abgelöst wird: Rosie ruft auf dem Weg ins Krankenhaus an – ihr Baby kommt. Sie ist alleinerziehend, es ist ihr zweites Kind, und ihr Bruder Dan macht sich, von seinem Freund gedrängt, auf ins Krankenhaus, damit sie nicht alleine ist. Der Rest der Familie plant schnell per Telefon, wer wann wen abholt, um das Neugeborene am nächsten Tag zu besuchen. Im Kreis der Familie im Krankenhaus stellt sich Dan unter Empörung der anderen die Frage, ob er überhaupt noch ein Kind in eine Welt wie diese setzen würde.

Er erinnert: “Remember back in 2008 we thought politics were boring. But now, I worry about everything.” Und er beginnt aufzuzählen und erklärt damit eigentlich gleichzeitig das Konzept von Years And Years: Wenn jetzt schon alles so viel krasser und schneller geworden ist, wie wird es erst in 30 Jahren sein, in 10, in 5? Und damit setzt ein Fast Forward Modus ein: In einer schnell geschnitten Folge sehen wir familiäre Momente und Nachrichtenmeldungen. Den ersten Kindergeburstag des Babies Lincolns. Die Wiederwahl Trumps. Das Silvesterfeuerwerk 2021 mit Heiratsantrag von Dan an seinen Freund Ralph, der Ja sagt. Nachrichtensendung über eine neue künstliche Insel in China, Hong Sha Dao, einem nuklearen Waffenstandort. Viv Rock kandidiert als Parteilose, verliert (das wird sich später ändern – nicht umsonst waren Boris Johnson und Donald Trump die Inspiration für ihre Figur). Die Bilder flitzen weiter: 2022. Die ukrainische Armee hat die Regierung übernommen, die russische Armee wird nach Kiev geladen um für Stabilität zu sorgen. Die EU erkennt den Status von Hong Sha Dao, der chinesischen Insel, nicht an. Der 90. Geburstag der Großmutter der Familie, sie stehen frierend um ein Lagerfeuer im Garten und sie führt die Tradition ein, ihn jedes Jahr als Winter Feast im Garten feiern zu wollen. Mehr News: Deutschland trauert nach Merkels Tod. Der Tod der Queen – “long live the king!” Wieder sitzt Viv Rook in einer TV Talkshow, und es wird klar, dass sie wegen ihrer provokanten Aussagen da sitzt, obwohl sie keinerlei Status als öffentliche Person hat – sie weiß es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und die Medien schaffen es nicht, dem zu widerstehen. Silvesterfeuerwerk 2024. Immer mehr ukrainische Flüchtlinge kommen in Dover an. Und der Schnelldurchlauf fährt herunter, wir kommen wir wieder im Familienalltag an. Mit diesen Tempowechseln schafft es Years And Years, sowohl Geschichte, also eher große Ereignisse, zu erzählen, dabei aber auch nie die Geschichten der Figuren im Zentrum der Handlung, ihre Entwicklung, aus den Augen zu verlieren.

Nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern auch Technologie widmet sich Years And Years. Vor allem aus der Alltagsperspektive der “kleinen Leute”. Insta/Snapchat-Masken gibt es 2024 in Form kleiner Headsetprojektoren nicht mehr nur auf Social Media, sondern sie können direkt vor das Gesicht projeziert werden. Bethany, die technophile Tochter von Stephen und Celeste können und die Tochter versteckt sich die ganze Zeit dahinter, auch vor ihrer Familie, und macht digitale Appointments mit ihren Eltern, obwohl sie neben ihr in der Küche stehen. Bisschen Black Mirror schwingt mit, wird aber gebrochen. Sprachassistenzgeräte wie Alexa haben sich durchgesetzt und werden zu einem Tool, dass die Familie in regelmäßigen Gruppengesprächen sozial vernetzt, zusammenhält. Heute noch von vielen als Überwachungsgerät angesehen, ist das doch eine zu erwartende Entwicklung, das sich solche Home Assistants breit durchsetzen, sind sie doch zum Beispiel für alte Menschen leichter und intuitiver zu bedienen als ein WhatsApp-Familienchat.

Dan lernt eine Nachbarin kennen, Fran, sie erzählt vom Leben in London, von abgeriegelten Stadtteilen, die nur noch nach Vermögensprüfung betreten werden dürfen. Sie ist Story Teller, was ein Beruf geworden ist, weil erkannt wurde, das auch Geschichten helfen können, die Welt besser zu verstehen. Dan arbeitet in einem sich dauernd vergrößerndem Flüchtlingslager, das eigentlich nur als vorübergehende Unterkunft gedacht war. In einem Streitgespräch mit einer flüchtlingsfeindlichen – “I voted Leave!” – Kollegin, erfahren wir dass es eine Wahl gab, bei der 97% der ukrainischen Bevölkerung angeblich dafür stimmten, russische Staatsbürgerschaft anzunehmen und dass Russland nun die Namen der restlichen 3% hat, die für “Umsiedlung” vorgesehen sind, wobei nicht klar ist, wohin – die Möglichkeit ihrer geplanten Massenermordung schwingt mit. Dan lernt Viktor, einen Flüchtling kennen und es knistert zwischen ihnen. Wobei “knistert” ein eher schlechtes Wort ist, weil Viktor davon erzählt, wie er in der Ukraine nach Übernahme Russlands für seine Homosexualität gefoltert wurde: Mit Stromschlägen auf die Fußsohlen, was kaum physische Spuren hinterlässt und es ihm so erschwert, um seinen Flüchtlingsstatus zu kämpfen.

Die Mutter von Bethany macht sich Sorgen und entdeckt beim heimlichen Stöbern in deren Browserverlauf lauter Suchen rund um den Begriff “trans” – “help for trans”, “trans hope”, “your questions about trans issues” – und die Eltern sind, ganz progressiv und akzeptierend, fast froh, dass sie nun wissen, was mit Bethany los ist. Nur stellt sich dann im persönlichen Gespräch heraus, dass Bethany (“I was thinking about that ever since I was born I don’t belong in this body” – ihre Eltern: “oh, it’s alright, we understand and will always love you”) nicht transsexuell, sondern transhuman ist: “I don’t want to be flesh. I’m really sorry, but I’m going to escape this thing and become digital.” Sie möchte ihren kompletten Körper loswerden ihr Gehirn in die Cloud laden. Mutter: “So you want to kill yourself?” – Tochter: “No life or death, just data” – die Reduktion auf pure Information in einer Gesellschaft, in der Frauen körperlich nie schön, dünn, ausreichen genug sein können, als Befreiung gedacht.

Harter Tobak, und es scheint im ersten Moment an Transfeindlichkeit entlangzuschrammeln wie Dolezal am Rassismus, oder: eine andere Perspektive um über die in den letzten Jahren in Großbritannien erstarkte transfeindliche TERF-Bewegung nachzudenken. Der Transhumanismus wird hier als Generationsproblem eingeführt, in einer Gesellschaft, in der sich liberale Kreise, wie es die Eltern von Bethany sind, in Akzeptanz und Offenheit überschlagen, aber auch oft von einer Technologiefeindlichkeit geprägt sind, die sich heute schon in absurden Detoxing-Apps und ähnlichem niederschlägt. Transhumanismus, von technologischen Implantaten bis zum Traum vom Hochladen des Bewusstseins in eine Cloud, stellt so ein neues Identitätsproblem dar, einen Bruch zwischen Generationen und den konservativeren und progressiveren Ecken der Gesellschaft, der in neuer Form die Bereitschaft Widersprüche und Uneindeutigkeiten auszuhalten und auszudiskutieren, auf die Probe stellt.

Trotzdem blieb mir ein fader Nachgeschmack von dieser Stelle: Ist es ein Lächerlichmachen von Transmenschen, wenn hier der Vergleich mit Transhumanismus gezogen wird? Ich denke, über einen als absurder Lacher, der im Hals stecken bleibt, in der weiteren Konsequenz der Serie nicht, da sie um den Preis einer hier wirklich überzogenen Zukunftsvision, gerade an diesem Thema im weiteren Verlauf der Handlung auch durchspielt wird, was die Konsequenzen sind, wenn Jugendliche nicht ernstgenommen werden, und sich heimlich auf schlechte illegale Lösungen einlassen, bei denen keine medizinischen Grundstandards eingehalten werden (was nebenbei auch als Anspielung auf Abtreibungskliniken gelesen werden kann). Ich muss keine Freundin des Transhumanismus sein, um dieses spekulative Spiel zu schätzen.

Wer denkt, jetzt eh schon alles gespoilert bekommen zu haben: Das waren gerade mal die ersten zwanzig Minuten von Years And Years, aus denen ich hier erzählt habe. Selbst vom an das Musikvideo zu Dancing With Tears erinnernde Finale der ersten Folge zu erzählen, verkneife ich mir, auch wenn es schwer fällt. Die Fülle an Themen, die sich als Anspielungen oder als Weiterdenken von heute schon existierenden Problemen lesen lassen oder die zu Diskussionen anregen können, ist riesig. Nur noch ein weiteres Beispiel: In einem Alternativentwurf zum Verbot, das 2019 in Großbritannien fast zum Porn Ban im Rahmen des Digital Economy Act geführt hätte, inzwischen aber aufgegeben wurde, wird Pornographie in der Zukunft von Years And Years zum Schulstoff: Es wird ab 11 Jahren “Sexual Awareness Image And Control” gelehrt.

Es gibt natürlich auch kritisierenswertes an der Serie: Eine Familie ins Zentrum zu stellen, ist mir eigentlich zu konservativ, denn eines der Dinge, von denen ich mir bzw. den nächsten Generationen mehr wünsche, ist, dass sie ganz frei andere Zusammengehörigkeitsgefüge für sich erforschen und erfahren können, und das mindestens auf gleichberechtigter Ebene mit dem verstaubten christlichen, verstaatlichte Ehekonzept und der Kleinfamilie. Aber Years And Years macht einen guten Job, so eine Großfamilie als Bild für die britische Gesellschaft der Zukunft einzusetzen, und nichts anderes als ein Bild dafür ist sie, worauf schon der Familienname Lyons, die Löwen, wohl der britischste Telling Name schlechthin, anspielt. Diesen zusammengewürfelten Haufen Menschen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten, mit verschiedensten Identitäten, Vorstellungen, Abstammungen, mit den verschiedensten Problemen, als Familie zu entwerfen, ist ein in typischer Russel T. Davies-Manier solidarisches Zentrum in der dystopischen Zukunft, die Years and Years entwirft.

Das war’s von mir zu Years And Years – wenn ihr’s noch nicht gesehen habt, schreibt’s euch auf die To Watch-Liste, einen besseren Einstieg in ein Jahr wie 2020, an dem gleich am 2. Januar #WWIII auf Twitter trendet, gibt es derzeit kaum.

Prost Neujahr! oder: Everything happens so much.

Ein neues Jahr also. Die Zeit um Weihnachten und Neujahr habe ich wieder mal sehr viel zu Hause verbracht und viel gelesen und Filme nachgeguckt, die ich verpasst habe und war eher im Kino als in Clubs. Und ich habe mir Gedanken darum gemacht, wie ich mit meinem Medienkonsum von Kultur bis Social Media umgehe und was ich von ihnen will. Dass ich zu wenig reflektiere, zu wenig setzen lasse. Deswegen mal wieder der Vorsatz, mehr zu schreiben und mehr Mut zu Fragmentarischem und offenen Enden zu haben. Jahresendliste als Liste nicht, aber zu Büchern, Filmen und Serien, die mir letztes Jahr etwas gaben, will ich schon noch was schreiben. Musik ist schwieriger geworden. Das liegt an verschiedenen Dingen, nicht zuletzt den neuen Entwicklungen, die mit Social Media, dem Sterben der Musikpresse, allesdurchdringendem Marketing und der Schwierigkeit, das richtige Medium für mich zu finden, zu tun haben. Das “richtige” Format prägt mein Hören, prägt die Bedeutung von Musik für mich. Spotify ist es nicht, aber es ist für viele Veränderungen mit verantwortlich. (Tapes und Vinyl sind es übrigens auch nicht.) Dazu will ich aber auch noch was schreiben. Auf Medienkritik, die mich lange beschäftigte, hab ich keine Lust mehr. Zu frustrierend und sich wiederholend, siehe Omagate und Silvester in Connewitz.

2019 habe ich unglaublich viel gelernt, aber zu wenig davon festgehalten und Konsequenzen gezogen. Tim Colishaw kramte auf Twitter letzthin den treffenden @Horse_ebooks-Tweet von 2012 raus: “Everything happens so much.” Bevor ich dazu komme, etwas umzusetzten, die langwierige praktische Arbeit anzugehen, zerrt mich schon der nächste Aufmerksamkeitsheischer durch die nächste Tür. Oder die Tür brennt gleich ganz ab und bringt erst mal einen ganzen Batzen Zusatzarbeit mit sich, wie beim Brand der Kantine, des Clubs, in dem unser Veranstaltungskkollektiv derzeit haust. Oder eben nicht haust. Brenners “jetzt ist schon wieder was passiert” als Dauerzustand. Zu oft treiben Themen, Probleme und Ideen mich vor sich her statt dass ich sie mir aussuchen und vertiefen kann. Zu oft hatte ich das Gefühl, etwas zu retten, mich übernommen zu haben, statt es lustvoll mit anderen gemeinsam zu organisieren. Aber weniger machen? So vernünftig bin ich glaube ich immer noch nicht. ><

Ein paar Themen haben sich aber auch im positiven Sinne mich ausgesucht und zu längeren Texten und Vorträgen inspiriert: Die rechte Radikalisierung im Internet, insbesondere über Antifeminismus und die Methoden der Rechten – dazu habe ich wirklich unglaublich viel gelesen und gelernt – aber auch das Aufräumen mit Klischees zu weiblicher Fankultur gehörte zu meiner Vortragsarbeit. Das Vortragsreisen hat mir auch wirklich Spaß gemacht im vergangenen Jahr. Und Interviews und Podiumsdiskussion durfte ich zu Frauen in der Musikszene beitragen – da war 2019 endlich so ein bisschen der Comedown des neoliberalen Feminismus. Gut so. Feminismus darf nicht (nur) heißen “mehr Frauen auf der Bühne,” “Fuck you pay me” und Self-Care als Waffe, um sich für den harten kapitalistischen Konkurrenzkampf fitzumachen. Feminismus ist ein Thema, das ich als Pflicht betrachte, keines das ich mir aussuchen würde. Pflicht in dem Sinne, dass ich dazu inzwischen einfach einiges aus Praxis und Theorie zusammenbringen und einen Beitrag leisten kann, der anderen helfen kann. Care Work. Ein anderer Vortrag, den ich heuer dann auch endlich mal in überarbeiteter Form in Nürnberg halten werde, denkt verschiedenste Facetten von Speculative Fiction und Design mit Stadtpolitik und dem Recht auf Stadt, zusammen. Das ist ein superspannendes Feld, zu dem ich mehr machen will. Zu Weltuntergangsgefühlen angesichts der Klimakatastrophe und ihrer Folgen habe ich auch schon was zu schreiben begonnen, das es hier auch demnächst geben wird.

Als ich so Mitte Zwanzig war, war meine größte Angst, dass ich irgendwann nicht mehr gespannt auf Neues bin, keine Veränderungen mehr antreiben will, und nicht mehr wissensdurstig bin. Dass diese Angst gar so unbegründet sein würde und wie anstrengend das wird, hätte ich mir nicht träumen lassen! 🙂

Antifeminismus, Manosphere und verletzte Männlichkeit als Einstieg nach Rechts

Dieser Essay ist ursprünglich als kurze Einleitungsrede in einen Abend anlässlich eines sogenannten Genderkongresses von antifeministischen Männerrechtler*innen in Nürnberg entstanden. Als Protest gegen deren Genderkongress habe ich mit dem Musikverein 2016 einfach parallel dazu selbst noch einen Genderkongress veranstaltet: Einen Abend, zu dem ich Freund*innen – extra überwiegend Männer – eingeladen hatte, feministische Beiträge beizusteuern. Ich selbst gab einen kleinen Einblick in das lose antifeministisches Netzwerk der Männerrechtsszene, der Manosphere und darauf, was sich hinter der Veranstaltung Genderkongress tatsächlich verbirgt. Danach hab ich den Text noch mal für einen Artikel in der Analyse und Kritik überarbeit, noch mehr auf das Thema der Onlinerekrutierung und -radikalisierung nach Rechts in der Manosphere hin, aber auch darüber, warum sich für Rechte Frauenfeindlichkeit so gut eignet, um in der Mitte der Gesellschaft anzudocken. Und nachdem ich dann Anfragen zum Thema erhielt, habe ich ihn noch um einige Aspekte auf Vortragslänge erweitert und immer wieder aktualisiert und ergänzt. Es ist ein endloses Thema und inzwischen fühle ich mich, als könnte ich ein Buch darüber schreiben.

Dieses Wochenende findet der frauenfeindliche Genderkongress ein weiteres Mal in Nürnberg statt, und für morgen ist auch ein Protest vor Ort geplant: 12-15 Uhr Königstraße! Weil ich derzeit nicht fit genug bin, um dort wie angefragt eine Protestrede zu halten, habe ich mich entschlossen, als kleinen Beitrag zum Protest die aktuellste Version meines Vortragstextes jetzt hier in ganzer Länge zur Verfügung zu stellen. Und wie es dann immer so kommt, habe ich noch mal ein paar Stellen aktualisiert und ihn mit Links zum Weiterlesen gespickt. Voilà.

Antifeminismus und verletzte Männlichkeit, die Manosphere als Einstieg nach Rechts

Genderkongress und Männerrechtsbewegung: Es geht nicht um Gleichberechtigung

Zum Einstieg ein paar Worte zur Männerrechtsbewegung, wie sie sich hinter einer Veranstaltung wie dem Genderkongress verbirgt. Es gibt seit vielen Jahren eine internationale Männerrechtsbewegung, die ein stark vereinfachendes negatives Bild von Feminismus schürt, das ihn nicht als eine Gleichberechtigunsbewegung akzeptiert, sondern einfach mit Männerhass und Männerunterdrückung gleichsetzt. Was sie von klassischen Antifeministen unterscheidet, ist laut einer Expertise, die Hinrich Rosenbrock für die Heinrich-Böll-Stiftung erstellt hat (PDF), dass sie nicht mehr argumentieren, dass das männliche Geschlecht dem weiblichen überlegen sei, nein, sie argumentieren eher aus einer Opferhaltung heraus: Männer als Opfer einer vermeintlichen Femokratie, einer Herrschaft von Feministinnen, die angeblich unsere Gesellschaft dominiere. Tatsächliche gesellschaftliche Benachteiligungen von Frauen werden ausgeblendet oder abgeschwächt, damit eine männliche Opferideologie entwickelt werden kann. Das ist auch eine Parallele zur Strategie der Neuen Rechten, die sich als Opfer einer linken politischen Korrektheit und eines sogenannten Gutmenschentums inszeniert. Eine im Vergleich zu früher größere Teilhabe von Frauen und Queers am öffentlichen Leben wird als Herrschaft von Feminist*innen und “Genderwahnsinnigen” misinterpretiert. Pseudowissenschaftliche Strategien und guteinstudierte, standardisierte rhetorische Ablenkungsmanöver runden das Ganze ab.

Wenn man sich die Liste der Verbände ansieht, die auf der Website des Genderkongresses als Grundlage aufgezählt werden, wird schnell klar, dass es hier nicht um Gleichberechtigung geht, wie sie in ihrer Selbstbeschreibung behaupten, und auch dass sich Gender lediglich im Titel des Kongresses findet, um das Vokabular der Gegner*innen zu übernehmen und inhaltlich zu entleeren. Ebenfalls eine Strategie der Neuen Rechten. In den Namen auf dieser Liste, taucht das Wort “Frau” oder “woman” nur exakt ein einziges Mal auf, und zwar bei der Gruppe “Women against Feminism”. Dagegen stehen 32 Vereine mit “Mann” oder “Männer” im Namen, darunter auch einige, die auch gerne mal auf rechte Websites wie die der Jungen Freiheit verlinken.

Ein großes Thema bei den Männerrechtlern, wie sie zum Beispiel beim Genderkongress zu finden sind, ist das Väterrecht. Sie behaupten gerne, dass hier eine systematische Ungerechtigkeit vorherrsche, und dass Kinder bei Scheidungen viel häufiger Müttern zugesprochen würden, statt das gemeinsames Sorgerecht herrsche. Was schlicht nicht stimmt. Ein Datenreport des Statistischen Bundesamt Deutschlands von 2018 kam zum Ergebnis, dass bei fast allen (genauer gesagt: 97%) der Scheidungen, bei denen gemeinschaftliche minderjährige Kinder betroffen waren, das Sorgerecht bei beiden Elternteilen blieb. Bei den Alleinerziehenden liegt ebenfalls nach einer Untersuchung des Statistischen Bundesamts der Väteranteil nach einem Report von 2017 bei gerade mal 12%. Die Reform des Sorgerechts 2013 hat an dieser niedrigen Zahl nichts geändert und es wird vermutet, dass “unterschiedliche Rollenvorstellungen nach wie vor eine wesentliche Rolle spielen.”

Dass sich die Väternetzwerke trotzdem einem so faktenfernen, unverhältnismäßigen Hineinsteigern in Behauptungen widmen, nur um Stimmung zu bestimmten Themen zu machen – auch das kennen wir von der “Neuen Rechten”. Das Traurige ist, dass frustrierte Väter, denen Unrecht widerfahren ist, und die Hilfe oder Austausch suchen, in vielen Väterrechtsgruppen und Männerplattformen im Netz nicht auf Leute stoßen, die ihnen helfen, sondern auf Leute, die ein Feindbild schüren. Es geht in der ganzen Manosphere, der online vernetzten Männerrechtsszene, um die es hier geht, nicht darum Männern, die tatsächlich Opfer von einem schädlichen Männerbild sind, zu helfen, und es geht nicht um einen Austausch, sondern nur um das Abwerten der vermeintlichen Gegner*innen. Und Gegner*innen sind letztlich alle emanzipatorisch eingestellten Menschen, denen es tatsächlich um Gleichberechtigung geht.

Was sich bei den Gruppen, die der Genderkongress als inhaltliche Basis seiner Arbeit aufzählt, auch findet, sind so homo- und transphobe Gruppen wie “Demo für alle”, ein Ableger der französischen Bewegung La Manif Pour Tous, die auch mit der AfD verbunden sind. Auch ähnliche Gruppierungen wie “Gender-Wahn stoppen!” und “Gender-Unsinn” sind hier mit aufgezählt. Es mag auf den ersten Blick widersinnig scheinen, dass da auch das Logo des Schwulenmagazins ‘Männer’ zu sehen ist. Ist es aber nicht, da dessen Chefredakteur für ein paar Jahre der schwule Rechtspopulist David Berger war, der dann auch für Compact schrieb und heute den Philosophia Perennis Blog mit neurechter Propaganda füllt, zum Beispiel schreibt er über die Umvolkung, die Theorie des großen Austauschs. An den Logos des Genderkongresses lässt sich so ein Netz von deutschen anti-feministischen und anti-queeren Gruppen ablesen.

Das Bonding über Antifeminismus als Einstiegsdroge nach Rechts

Gefährlich an dieser ganzen Männerrechtsgeschichte ist ihre starke Rechtsoffenheit. Da kann das mit anderen Männern geteilte Gefühl, das sie von Feministinnen unterdrückt würden, eine ganz schöne Sogwirkung entwickeln und die Frauenfeindlichkeit ist in der extremen Rechten ein sehr zentraler Punkt. Und das geht oft auch über Worte hinaus. Der rechte Rassist Richard Spencer wurde 2018 von seiner Frau wegen häuslicher Gewalt angezeigt, ebenso Matthew Heimbach von der Nationalist Front. Eine Aussteigerin erzählt von der Normalität der misogynen Gewalt in der rechten Szene: “Gerade als junges Mädchen ist man in der Szene Freiwild. Mal ist es nur eine Hand auf deinem Bein, mal sogar Vergewaltigung. Ich kenne Mädchen, die als Jugendliche von Männern missbraucht worden sind, und niemand hat sich eingemischt. Da steht die Kameradschaft über den Frauen. ”

Die Rolle des Frauenhasses in den Beweggründen vieler rechter Attentäter ist erst langsam im Verlauf der letzten Jahre im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommen, bzw. hat erst in den letzten Jahren mediale Aufmerksamkeit bekommen, und selbst aktuell nach dem Attentat in Halle wurde dieses Element medial meist ausgeblendet. Für viele ist ein Attentat immer noch entweder frauenfeindlich oder politisch motiviert. Beispiele für misogynen Terror gibt es aber leider inzwischen viele.

Der norwegische Anders Behring Breivik, der von einer “Feminisierung der europäischen Kultur” und einer angeblichen “Kriegsführung gegen den europäischen Mann” schrieb. George Sodini, der 2009 in Pennsylvania austickte und mehrere Menschen tötete, weil er sich von Frauen zurückgewiesen fühlte. Eliot Rodger hinterließ nach seinem Massaker an sechs Menschen ein ganzes Manifest seines Frauenhasses, das online schnell und weit verteilt wurde. Alek Minassian, der im April 2018 in Toronto 10 Menschen umbrachte, berief sich auf ihn. Das sind natürlich Extremfälle, und es gilt keineswegs der Umkehrschluss, dass aus jedem Mann, der sich ungerecht behandelt fühlt durch Männerrechtsnetzwerke ein potenzieller Attentäter wird. Aber: ich will dieses verbindende und oft heruntergespielte Element als eine Art Warnblinker des Ernstes der Lage sichtbarer machen.

Es löst jedes Mal heftige Reaktionen aus, wenn bislang männlich besetzte Filmfiguren heute auch mal mit Schauspielerinnen statt Männern besetzt werden, von Ghostbuster über Doctor Who bis zu James Bond. Oder wenn eine Gilettewerbung das Thema der toxischen Maskulinität, des Aufzwingens eines männlichen Rollenbildes, das viele Männer unglücklich macht, aufgreift, dann toben die Kommentarspalten, dann tobt die Manosphere. Sie machen sich laut und breit, weil sie wissen, dass dort ein Ansatzpunkt ist, an dem sie Leute auf ihre Seite bringen können.

Den Genderkongress, wegen dem ich mich mit diesem Thema hier befasst habe, kritisiere ich deswegen nicht nur für seine Frauen- und Queerfeindlichkeit, sondern auch dafür, dass solches Bonding durch oder über Antifeminismus als Einstiegserlebnis in rechte Gefilde dienen kann – und es oft auch tut. Dafür kritisiere ich allerdings auch das Verhalten vieler Männer und Frauen im Alltag. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass von dem scheinbar harmlosen Punkt, dass sich viele Männer gerne darüber scherzend, wie sie von Frauen unterdrückt würden, gegenseitig auf die Schulter klopfen, eine meist verharmloste Linie bis hin zu aktiven Männerrechtlern und von dort bis hin zu Übergriffen und Gewalt und hin zu rechten Bewegungen führt. Das ist kein Entweder/Oder, sondern das sind fließende, graduelle Übergänge auf einer Skala der Frauenfeindlichkeit und der Feindlichkeit gegenüber Männern, die nicht einem toxischem Klischee von Männlichkeit entsprechen. Uneigentliches Reden am einen Ende – und das reicht von gemeinsamen frauenfeindlichen Scherzen oder Songtexten oder Comedy und misogyner Gewalt in Spielen und Filmen – und aktives Umsetzen in Handlung irgendwo am anderen. Und, wie es Franziska Schutzbach formuliert: “So verschieden die inhaltlichen Positionen sein mögen, beim Feindbild Feminismus oder Gender kann man sich offenbar verständigen. Antifeminismus ist also nicht nur ein fester Bestandteil völkischer Ideologie, sondern auch ein Scharnier, das Querverbindungen und Gemeinsamkeiten mit anderen Akteur*innen, vor allem mit der gesellschaftlichen Mitte herstellt.”

Die Hasserfüllten stehen gewiss nicht für die Mehrzahl der Männer und Frauen da draußen. Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums teilen nur 5% aller Männer die antifeministischen Ansichten der Maskulisten, allerdings: Ein Drittel aller Männer – und 15,2% aller Frauen – seien für einzelne derer Einstellungen empfänglich. Darüber wieviele wiederum schweigende Mittäter sind, die Frauenhass gesellschaftlich akzeptabel machen, indem sie ihn nicht kritisieren oder gar höflich belächeln, nun ja, dazu gibt es keine Zahlen. Wenn es um eine größere Offenheit für verschiedenste Formen von geschlechtlichen und sexuellen Lebensweisen geht, hat die Rechte hier oft leichtes Spiel in der Mitte der Gesellschaft anzudocken.

Verschwörungstheoretische Züge: Redpilling

Ich hatte für diesen Essay als Vortrag ursprünglich nicht nur weil ich Alliterationen mag, den Titel ‘Matrix und die Manosphere’ gewählt, sondern weil sich darüber auch ein Blick in die Welt des frauenfeindlichen und rechten Denkens werfen lässt, und wie dieses unter anderem mit Hilfe von Popkultur aufgebaut wird. Verschwörungstheorien sind nach Philippe Wampfler im neutralsten Sinne eine Denkbewegung, die kollektive Erfahrungen als Resultat einer geheimen Absprache interpretiert. So können Menschen Erlebtes mit einem Sinn versehen. James Bridle setzt da zum Beispiel auch einen Bezug zu Folklore und Aberglaube, die Menschen helfen Unverständliches zu erklären. Verschwörungstheorien reduzierten politische Komplexität, indem sie Geschehnisse auf wenige mächtige VerursacherInnen zurückführten. Gleichzeitig steigern sie die Komplexität der Zeichen: Alles mögliche kann als bestätigendes Zeichen für die Theorie gedeutet werden, oder kann als Symbol für die gefühlte Wahrheit stehen.

Ein wichtiges solches Bild ist die rote Pille aus dem Film Matrix. Auch der Männerrechtler-Genderkongress, von dem ich eingangs erzählte, trug als Untertitel “Gender Reloaded” im Namen, eine Anspielung auf “Matrix Reloaded”, den zweiten Teil des Films, und es wurde dort unter anderem auch ein Film namens “The Red Pill” gezeigt. Volker König, der ein Screening des Films in Berlin besucht hatte, schreibt darüber: “Der Titel des Films ist eine Anspielung auf den Film ‘Die Matrix’. Nur wer die rote Pille schluckt, erkennt die Wahrheit. Alle anderen leben weiterhin in einem Gefängnis, in einer Scheinwelt, die aufgebaut wurde, um die Wahrheit zu verschleiern. Es geht dem Film also nicht darum, die Perspektive zu erweitern, die ‘andere Seite’ zu hören, Männer zu Wort kommen zu lassen, sondern es geht um einen höheren Wahrheitsanspruch. Entsprechend dem aktuellen Zeitgeist wird die Frage des Films ideologisiert und pathetisch überhöht zum Kampf von Feminismus und ‘Lügenpresse’ gegen Meinungsfreiheit.”

Das Erleuchtungserlebnis, wenn man endlich die (vermeintliche) Wahrheit erkennt, wurde längst zu einem eigenen Begriff, dem “Redpilling”, das sowohl in der Manosphere als auch in der rechten Szene zum geläufigen Slang gehört. Wie solche Begriffe da etabliert werden, dafür hab ich zum Einstieg als Beispiel einen Auszug aus einem Podcast der neu-rechten Identitären Bewegung zu Matrix und Redpilling für euch zum Reinhören.

[Auszug IB Podcast, ist inzwischen offline, weil Youtube die IB blockt.]

Der Auszug zeigt schön, wie die Vorstellung von einer “lügenden Systempresse” aufgebaut wird, die das “Merkelsche System” als “falsche” Realität vorgaukele. Er ist auch ein gutes Beispiel dafür wie die Identitäre Bewegung bis zum Lächerlichen bemüht ist, in ihrer Rhetorik immer mit allen möglichen Kulturzitaten aufzutrumpfen, und auch wie ein eigenes Vokabular geschaffen wird, das für mehr Identifizierung mit der Gruppe sorgt. Dass Matrix, der Film der Wachowsky-Schwestern, heute viel eher als Transgender-Allegorie gelesen wird, davon fällt hier natürlich kein Wort.

Andere Popkulturmomente in diesem Podcast sind zum Beispiel 1984, da vergleichen die Identitären gendergerechte Sprache mit Orwells Neusprech, Platos Höhlengleichnis taucht auch noch auf, und der Disneyklassiker Susi und Strolch, und zwar eine Szene, in der Siamkatzen die Wohnung verwüsten und die Schuld danach auf den Hund Susi schieben – von ihnen als bescheuertes Bild dafür gedeutet, wie Flüchtlinge angeblich Deutschland kaputt machen und die Wahrheit von der “Lügenpresse” so verdeht werde, dass niemand der ganzen verblendeten Bevölkerung sie als die Schuldigen wahrnehme, sondern immer die armen Rechten die Bösen sein sollen.

Aber auch noch andere Punkte sind da drin: Der Begriff “Kulturmarxismus” zum Beispiel, übernommen von der US-amerikanischen neuen Rechten. Rechtsextremismusforscher Thomas Grumke erklärt ihn so, dass mit den Emigranten der Frankfurter Schule in den 1930er Jahren – wie Theodor Adorno und Max Horkheimer – angeblich ein politischer Mainstream in den USA entstanden sei, der als “Kulturmarxismus” charakterisiert wird, und mit dem angeblich ein Kulturkrieg gegen den weißen christlichen Mann geführt würde. Die Journalistin Aja Romano erklärt, dass es auch einer der Lieblingsbegriffe des Breitbartgründers Andrew Breitbart ist, und er in der US-farright Szene abwertend für alle verwendet wird, die aktiv versuchen, Kunst und Kultur inklusiver zu machen und soziokulturelle Veränderungen hin zu mehr Diversity voranzutreiben, da sie damit nach der Meinung der Farright das weiße Patriarchat auslöschen wollen. Was ja nicht der einzige Verschwörungsplot ist, der dort gepflegt wird: auch Juden und Muslime sind angeblich auf einen weißen Genozid aus, auf den sogenannten “großen Austausch” oder der “Umvolkung.”

Bildung und Funktion eines eigenen Dialekts

Auf verschiedensten Plattformen im Netz haben sich schon immer eigene “Dialekte” gebildet, wie es Nikhil Sonnad nennt, der für das Quartz Magazine mit einem Team “billions of reddit comments” auf sechs der gängisten Alt-Right Foren untersucht hat. Viele Dialektbegriffe im Internet sind aus Abkürzungen entstanden, wie z.B. bei “LOL” oder “WTF”, oder bei Leetspeak aus dem Ersetzen von Buchstaben mit Zahlen, z.B. “g33k” statt “geek”. Bei Leetspeak spricht auch ein gewisser Exklusivitätsanspruch aus der Namensgebung: “Leet” kommt hier von “Elite”, also: die Sprache der Elite. Auch viele Messageboardcommunities haben eigene Begriffe oder Redensarten etabliert, zum Beispiel das “Göga” für “Göttergatte” auf Chefkoch.de. Meist ist das zwar sprachlich interessant, wie sich da Nischenkulturen mit ihrer eigenen Folklore bilden, aber eher nicht gefährlich.

Im Falle der Männerrechtler und Rechten ist das bewusste Einsetzen von Begriffen allerdings weniger harmlos. Oft dient es zur Stützung der rechten Ideologie, zum Tabubruch, zur Provokation und zur Bindung an die rechte Community. Bevor sie weitverbreitet sind, dienen solche Begriffe einem gewissen Exklusivitätsgefühl, so Sonnad, denn nur Eingeweihte verstehen, was sie bedeuten und wissen sie einzusetzen. Darüber hinaus enthüllt solcher Jargon auch Konzepte, die eine Gruppe als ihnen allen gemein empfindet, und die wichtig genug dafür sind, dass es ein Wort dafür braucht.

Ich will nur ein paar Begriffe der Manosphere als Beispiele herausgreifen. Wie Nikhil Sonnad schreibt, gibt es im Englischen – überraschenderweise – keinen Begriff für “Frauen sind roboterhafte Untermenschen”, aber viele in der farright-Männerszene teilen die Ansicht, dass Frauen keine richtigen Menschen seien. Deswegen haben sie einen Begriff dafür erfunden: “Femoids”. Damit so ein Begriff mehr Zugkraft gewinnt, muss ihn die Community anerkennen. So einen Begriff zu verwenden, obwohl er kontrovers und politisiert ist, signalisiert anderen deinen Mut. Es wird erst mal behauptet, es sei ja nur ironisch, und je akzeptierter er dann durch häufigeren Gebrauch wird, desto mehr dient er dazu, zu zeigen, dass du dazu gehörst, zu denen, die diesselbe unkonventionelle Perspektive haben. Es ist eine Win-Win-Situation, denn wenn sich der Begriff nur innerhalb der Community etabliert, trägt er zu einer Verschärfung der Kluft zur Außenwelt bei, also zu Leuten mit anderen Ansichten. Das “wir gegen die anderen”-Gefühl wird verstärkt. Wenn er aber bis in den Mainstream dringt, ist das auch nicht schlecht, denn dann wird das Konzept, für das er steht, ein Stück weit gesellschaftlich enttabuisiert und normalisiert.

Ein paar typische Begriffe der Szene wären zum Beispiel noch: “Chad” für attraktive Männer, die Erfolg bei Frauen haben. Er ist 2013 aus der 4chan-Ecke heraus entstanden, ein Messageboard, und er hat sich erst in den letzten Jahren in der Manosphere richtig weit verbreitet. Es ist ein Neidbegriff. “Meek” ist noch eine Steigerung davon: Meeks steht für Männer, die erfolgreich bei Frauen sind obwohl sie negative Charaktereigenschaften haben. “Hypergamy” ist ein Begriff für das in der Manosphere verbreitete Konzept, dass die “Top” 20% der Männer im Wettbewerb um die “Top” 80% der Frauen stehen und Frauen nur Männer heiraten, die sozial “über” ihnen stehen. Die Idee hat nach Nikhil Sonnad seine Wurzeln im ökonomischen Pareto-Prinzip, laut dem immer 80% deiner Verkäufe von 20% deiner Kunden kommen.

Das Interessante an Sonnads Recherche ist, dass sich ein Begriff wie “Hypergamy”, obwohl er am verbreitesten in Manosphere-Foren ist, auch von einer signifikanten Zahl von Trump-Anhängern und auf alt-right Foren und von “Gamergatern” verwendet wird, was statistisch die Überschneidungen dieser Szenen zeigt. Den Begriff des “Redpilling” haben wir in dem Podcast der Identitären gehört, wo auch auf die Herkunft des Begriffs aus dem “Gamergate” verwiesen wird, als männerrechtlerische angebliche “Wahrheit”, die sich gegen die Vorherrschaft des Feminismus wehren muss.

Gamergate: it’s not about ethics in game journalism

Gamergate war ein zentrales Ereignis in der Entwicklung der Männerrechtsbewegung. Der Höhepunkt von Gamergate war 2014 bis 2015. Anita Sarkeesian erwirtschaftete damals über Kickstarter 160.000 statt der von ihr angestrebten 6000 Dollar von Unterstützer*innen für eine feministische Gaming-Youtube-Serie namens “Tropes vs. Women in Video Games”. Von diesem Zuspruch für feministische Kritik fühlten sich viele männliche Gamer bedroht und starteten ein wirklich unfassbar krasses Gegenfeuer. Endlose Hasskommentare auf Social Media, Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, Sarkeesians Website und Social Media Accounts wurden gehackt, ihr Wikipedia-Eintrag wurde rassistisch und sexistisch verunstaltet. Ein Angreifer entwarf ein Spiel namens Beat Up Anita Sarkeesian, in dem eine sie darstellende Figur vom Spieler zusammengeschlagen werden konnte. Ein Vortrag von ihr musste wegen einer Bombendrohung abgesagt werden, und sie konnte ähnlich wie Zoe Quinn und Brianna Wu, die beiden anderen Frauen im Zentrum des Gamergate-Angriffes, nicht mal mehr zu Hause wohnen wegen all der Gewaltdrohungen.

Bei der Gameentwicklerin Zoe Quinn war der Auslöser, der sie ins Visier der antifeministischen Gamer rückte, ein Ex-Freund, der in einem 10.000 Zeichen Blogeintrag das Gerücht in die Welt setzte, dass sie von einem Journalisten für Sex bessere Kritiken für ihre Games bekommen habe. Später stellte sich zwar heraus, dass der Journalist sie nur kurz in einem Artikel erwähnt hatte, und das nicht mal zu der Zeit, als sie mit ihm zusammen war, aber Fakten waren hier egal, denn es ging um etwas Größeres: Gamer versuchten ihr patriarchales Kulturterritorium gegen emanzipatorische Prozesse zu verteidigen. Frauen, Queers, People of Colour und auch viele Männer hatten die Nase aber voll davon, übten Kritik und verlangten, dass Games vielfältigere Perspektiven wiederspiegeln sollten. Das englischsprachige Twitter war 2014 ein einziges Höllenfeuer wegen diesem Kampf.

Zu den Memes auf dem Slide hier: Die typische Entgegnung der Gamer auf jegliche Sexismuskritik war damals, dass es überhaupt nicht um Sexismus in der Gamingszene ginge, sondern um die Ethik des Game-Journalismus. Weil sich mit Humor vieles besser ertragen lässt, entstanden als Reaktion, die sich darüber lustig machte, diese ganzen Memes, die eine zeitlang zur ironischen Standardantwort auf so gut wie alles gepostet wurden. Weniger lustig war es, dass wirklich massive Trollarmeen über alle Spieleblogs und anderen öffentlichen Äußerungen herfielen, die sich der Sexismuskritik anschlossen. Viele der Techniken um große Gruppen dafür zu bilden um Leute zu belästigen und fertigzumachen, und viele der rhetorischen Kniffe, die da im Gamergate auf diversen Männerrechtsforen entwickelt wurden, gehören inzwischen auch zum Standard-Online-Kampfwerkzeug der neuen Rechten, vor allem das Verabreden zum konzertierten Angreifen im Netz. Da die Mainstreammedien, gerade hierzulande, die Gameskultur immer noch als Undergroundnischenkultur abtut, statt sie ihrer wirklichen Größe, ihrem kulturellen Reichtum und ihrer weiten Verbreitung gemäß zu behandeln, bekam das Gamergate-Thema hier wenig öffentliche Aufmerksamkeit. Dort liegen aber die Wurzeln der internetaffinen Antifeministen und Rechten. Deswegen eben hier auch noch mal dieser kurze Überblick.

Plattformen und Deplatforming

Das Zentrum der Gamergate-Bewegung war ein Forum auf Reddit namens The Red Pill, und erst 2017 gelang es The Daily Beast zu enthüllen, dass der Gründer ein gewisser Robert Fisher war, ein republikanischer Abgeordneter. Da auf dem Forum einige wirklich üble frauenfeindliche Kommentare und Vergewaltigungsrechtfertigungen von ihm stammten, lief eine Untersuchung, ob er weiter als Abgeordneter fungieren dürfe, woraufhin er ziemlich schnell von sich aus zurücktrat. Auf Messageboards, vor allem eben auf The Red Pill spitzte sich Gamergate so zu, dass, wie David Futrelle, der sich seit langem auf dem Blog We Hunted The Mammoth mit der Manosphere auseinandersetzt, in einem Interview mit Aja Romano sagt, es bald nicht mehr nur darum ging, um das Recht zu kämpfen, in Videospielen Titten anstarren zu dürfen, sondern es wurde zu einem Kampf gegen den “white genocide”, den angeblichen “weißen Genozid”, die Ausrottung des weißen Mannes, um die es den sogenannten Kulturmarxist*innen angeblich eigentlich gehe.

Die Gamergate schaukelten ihre hasserfüllte Stimmung gegen Frauen gegenseitig hoch. Als auf Reddits Red Pill Forum dann doch irgendwann gegen radikale Hasspostings vorgegangen wurde, zogen viele weiter zum extremeren 4chan, als es 2014 selbst 4chan zu brutal sexistisch wurde, was da alles so gepostet wurde und sie zu moderieren und Gamergater zu bannen begannen, zogen diese zum noch extremeren 8chan Forum weiter. Im Dezember 2018 trennte sich der 8chan-Gründer Fredrick Brennan von 8chan und bereut, es gegründet zu haben. Er engagiert sich inzwischen vehement gegen diese meinungsfreiheitabsolutistische Sorte Boards, vor allem weil sie die Homebase von Anhängern der rechtsextremen Pro-Trump-Verschwörungstheorie QAnon sind. Im August 2019, nach dem vom El-Paso-Attentäter Patrick Crucius der dritte Attentäter innerhalb eines Jahres durch Radikalisierung auf dem Board bzw. sogar dem Posten eines Manifests kurz vor dem Attentat auffiel, zog sich ein Hosting Service nach dem anderen zurück und 8chan ist bis heute offline, und auch 8kun, der geplante Nachfolger hat es – nicht zuletzt dank Brennan – bis heute nicht online geschafft. (mehr Info dazu z.B. hier)

Aber noch mal zurück in die Hochphase des Gamergate: Eines der Kernmedien, von dem diese gamenden Männerrechtler angeheizt wurden, war das rechte Magazin Breitbart, mit Milo Yiannoppoulos als einer zentralen Stimme, ein eigentlich eher feminin auftretender junger Schwuler, der für so nette Botschaften stand wie “Feminismus ist Krebs”, heute aber dank dem Verbannen von Plattformen wie Twitter und Facebook so gut wie komplett vergessen ist. (Das letzte, was von ihm zu hören war, war das Klagen darüber, dass er seit er auf Twitter, Facebook und Youtube verbannt wurde, kaum mehr genug Geld zum Leben hätte. Deplatforming hilft erwiesenermaßen.) Breitbart wurde damals noch von Steve Bannon geleitet, der dann auch als Berater des US Präsidenten Trump bekannt wurde, der selbst ja auch nicht gerade für seine feministischen Züge bekannt ist.

Opferinszenierung

Trotz der dominanten, zentralen Positionen in der Gesellschaft, wie sie Vertreter maskulistischer Ansichten wie Bannon, Trump oder Peter Thiel innehaben, und trotz dem wieviele patriarchale Privilegien weiße Männer auch heute noch in der Gesellschaft haben, und trotzdem viele von ihnen immer wieder die größten mainstreamjournalistischen Plattformen für ihre antifeministischen Botschaften bekommen, ist das Werfen in die Opferpose ein Kernelement der Manosphere: Sie sehen sich als die angeblichen Opfer eines Establishments, das heterosexuelle weiße Männer unterdrücke, und auch die neue boomende Rechte in Europa hat genau diese Strategie übernommen. Beziehungsweise würde ich sagen: Foren wie Reddit, 4chan und 8chan werden ja international genutzt und es ist viel zu spät erkannt worden, wie auch aus der antifeministischen Szene heraus neue Anhänger für rechte Gesinnungen rekrutiert werden. Die Manosphere besteht eben aus solchen internationalen Foren und Blogs und Websites und Facebookgruppen, über die sich ausgetauscht und organisiert wird. Und hinter englischsprachigen Accounts stecken natürlich auch oft Leute aus allen möglichen nicht-englischsprachigen Ländern, es sind internationale Communities.

Zwischenmenschliche Beziehungen als Game: Männerrechtsforen und Pick Up Artists

Unsichere junge Männer, die Probleme haben, einem konservativen gesellschaftlichen Männerbild zu entsprechen, und die trotz des gesellschaftlichen Drucks keine Freundin abbekommen, wenden sich hilfesuchend an Männerrechtsforen oder an Pick Up Artists wie Return Of The King, auf denen sie dann zum Beispiel Beiträge finden wie “11 Tipps wie du deine Tochter auf die Rote Pille Art erziehen kannst”, wo unter anderem empfohlen wird, dass Töchtern von klein auf beigebracht werden soll, dass das Wichtigste, was sie tun können, Kinderkriegen und diese aufzuziehen ist, und Töchter zu bestrafen, wenn sie sich nicht feminin genug geben, ihnen Selbstachtung zu nehmen, indem ihnen von klein auf beigebracht werden soll, dass sie jetzt zwar attraktiv seien, aber das schnell abnehmen werde und sie sich früh einen Mann suchen müssten. Im Detail sieht das dann schon auch mal so aus, dass erklärt wird, wie Männer in Anwesenheit ihrer Tochter weibliche Bedienungen in Restaurants anbaggern sollen, sie mit Tiernamen ansprechen, ein bisschen herumkommandieren, um ihrer Tochter möglichst früh zu zeigen, was das “Game” ist.

Als zentraler Punkt der Manosphere findet sich ein Weltbild, dass Beziehungen zwischen Männern und Frauen als Game, als Spiel erklärt. Auch hier zeigen die Wurzeln und Querverbindung zu einer toxischen Ecker der Gamerkultur. Mit Game is hier auch wirklich das Spielen gemeint: mit Vorstellungen von Gewinnern und Verlierern, von Hierarchien und dass du Punkte für bestimmtes Verhalten verdienst. Das Schlimme am Feminismus ist für diese Männer letztlich, dass er Frauen soweit befreit hat, dass sie die Möglichkeit haben, Männern Sex zu verwehren, selbst wenn sie alle Regeln des Games befolgen. Es ist eine entsetzliche Pseudowissenschaft, um sowas wie ein darwinsches Überleben des Stärkeren auf dem Sexmarkt als das ‘wahre’ Verhältnis zwischen den Geschlechtern zu zementieren. Auch hier wieder dieser verschwörungstheoretische Faktor der Exklusivität: Nur die Eingeweihten erfahren diese Wahrheit des Game, die ihnen der Mainstream da draußen verheimlicht hat. Wer die rote Pille nimmt, erkennt die Wahrheit.

Alpha- und Betamänner werden nach Wert eingestuft, und das Game hat Regeln wie dass, wenn eine Frau Nein sagt, das nicht immer nein heiße, und dass Frauen es in Wahrheit nicht mögen, wenn du nett zu ihnen bist, sondern dass sie lieber Kerle haben, die sie abwertend behandeln. Weil das eben – egal was sie sagen – in ihrer Natur läge. Der Begriff “SMV” steht für den sexuellen Marktwert, “sexual market value”, und der lässt sich laut der Manosphere durch Fitness und Mode, soziale Attribute wie Körpersprache, und durch Status und Game steigern. Und Game heißt hier eben wirklich ganz konkrete Tipps und Regeln, ganz im Pick Up Artist-Stil, die letztlich nichts anderes sind, als emotionaler Missbrauch. Ein Beispiel dafür wäre die Technik des “Negging”, bei dem ein Mann die Frau immer wieder subtil kleinmacht, sie erniedrigt, nur um sie dann über kleine Komplimente wieder aufzubauen, so dass die Frau immer mehr nach seiner Bestätigung sucht.

Pick Up Artists wurden lange als Verführungskünstler oder -ratgeber verharmlost. Aber wie Veronika Kracher schreibt: “Der Grenzübertritt, die Übergriffigkeit, “ist der Kern der Ideologie von Pick-Up Artists, es handelt sich um eine maskulinistische Omnipotenzfantasie, in der die Frau nur bloßes Objekt ist, dass man sich zu eigen machen muss.” Pick Up Artists, von denen das Konzept des Game stammt erfuhren, als das Internet von immer mehr Menschen genutzt wurde, einen großen Aufschwung in der Verbreitung ihrer Blogs und Seminare, aber auch sie sind auf Onlineforen unterwegs, zum Beispiel im Seduction Reddit. Ihr auf strikten unsozialen Regeln basierendes Verständnis komplexer Beziehungsdynamiken suggeriert, dass jeder Erlernen könne, Frauen zu erobern. Während es auch hilfreiche Dating- und Beziehungsratgeber geben mag, verzerren Pick Up Artists und ihre Online Communities dieses Feld, indem sie Frauen entmenschlichen und jegliche Handlungsfähigkeit Männern zuschreiben. Sie tauschen sich detailliert aus, verabreden sich in Gruppen, um auf Frauensuche zu gehen und ihre Taktiken zu testen, und haben ein geschlossenes Weltbild, in dem weiße Männer von einer feministischen Mehrheitsgesellschaft unterdrückt werden.

Extreme der Manosphere ziehen sich bis zur MGTOW Bewegung, das steht für “Men going their own way”. Das sind Männer die Frauen so hassen, dass sie jegliche romantische oder sexuelle Beziehung zu ihnen ablehnen. Dafür gibt’s auch noch den Ausdruck “black pill”, sie wollen sich dem ganz entziehen. “Volcel” fällt da auch darunter – voluntary celibacy, das freiwillige Zölibat. Im Gegensatz zum unfreiwilligem, involuntary celibacy, den Incels. Der Begriff “Incel” hat inzwischen den Mainstream erreicht, spätestens seitdem der 25jährige Alek Minassian letztes Jahr seinen Kleinbus in eine Menschenmenge steuerte, damit 6 Menschen tötete und 10 weitere verletzte, denn es wurde bekannt, dass er sich auf Incel Boards radikalisiert hatte. Dass die Mainstreampresse Begriffe wie diesen verbreitet und erklärt, ist immer eine doppelschneidige Geschichte, da es einen aus einem höchst menschenfeindlichen Kontext heraus entstandenen Begriff auch ein Stück weit enttabuisiert oder gar normalisiert. Konsequenzen auf den Hass, der auf ihnen verbreitet wurde, folgten erst spät: Erst 2017 wurde das reddit-Board incel gesperrt, aber es gibt natürlich immer wieder neue Boards, selbst auf Reddit, zum Beispiel Braincels.

White supremacy

Aby Wilkinson, die sich lange auf dem Red Pill Forum umgeguckt hat, schreibt, dass sich auf den Foren Männer aus den verschiedensten Ecken der Gesellschaft finden, von videospielenden Teenagern, denen es an sozialer Kompetenz mangelt über ältere verbitterte geschiedene Väter bis hin zu jungen Männern auf Elite-Unis, die finden, dass Frauen ihnen nicht so viel Respekt und Zuneigung entgegenbringen, wie sie es verdienen. Und die Überlappung mit Rechten wird auch darin deutlich, dass es dort viel Rassismus gibt, es ist eine sehr weiße Angelegenheit. Es gibt zwar auch eine Black Manosphere, aber die ist, wie Aaron G. Fountain Jr. schreibt, wenn auch genauso problematisch, nur die Subkultur einer Subkultur.

Viele in der Manosphere sind der Ansicht, dass es sowas wie eine Rape Culture nur in islamischen Gefilden gäbe. Dazu kommt: Wer nicht weiß und/oder eine Frau ist und es trotzdem zu etwas gebracht hat, muss dabei irgendwie getricktst haben – so die Denke der unzufriedenen Meritokraten. Was ein echter Redpiller ist, der hat eben auch bei Rassedenken den Durchblick, ist sogenannter “racial realist”.

Frauenhass als treibender Faktor von Attentaten

Wenn über Gründe für das Erstarken der neuen Rechten nachgedacht wird, wird gerne über die Zusammenhänge von ökonomischem und Bildungs-Status in der Gesellschaft und rassistischen und antisemitischen Ideologien geredet, aber die Verbindung zwischen Online-Hass und Antifeminismus und dem Erstarken des Neofaschismus wird seltener ernstgenommen. It hits too close home, wie es so schön heißt. Ein bisschen Sexismus schadet doch nicht, ist immer noch ein gesellschaftlicher Common Sense. Aber Online-Radikalisierung betrifft nun mal nicht nur Muslime, wie so gern getan wird. Aus der Manosphere heraus sind Attentäter wie der schon erwähnte Elliot Rodger hervorgegangen, der UC Santa Barbara Attentäter, der ein 140seitiges Manifest hinterließ, zu dem ein “Krieg gegen Frauen” gehörte, als Rache dafür, dass Frauen nicht mit ihm schlafen wollten. Der 22jährige hatte noch nie mit einer Frau geschlafen. Er schrieb darin auch, dass in seiner perfekten Welt alle Frauen in Konzentrationslager gesteckt würden und er nach seinem Attentat schon alle sehen würden, dass er der wahre Alpha-Mann ist. Nicht nur das Manifest auch ein Abschiedsvideo von Rodger kursierten danach heftig im Netz und auch die reißerischeren unter den Zeitungen stürzten sich sensationslüstern darauf, was immer die Gefahr von Märtyrertum und Nachahmungstätern mit sich bringt.

Aufmerksamkeitskapitalismus: Soziale Plattformen, Medien und wir alle sind gefragt

Es wurde auch nach dem Christchurch- und dem Halle-Attentat davon gesprochen, dass die Tat auf die Verbreitung auf Social Media hin zugeschnitten war, durch das Livestreaming und durch dutzende von Anspielungen im 4Chan-Slang und Memekultur, die sich im Manifest fanden. Ein Beispiel für diese Instrumentalisierung: Die Erwähnung von PewDiePie im Christchurch-Manifest führte dazu, dass PewDiePie sich öffentlich distanzierte. Das wiederum machte viele seiner über 17 Millionen Follower überhaupt erst darauf aufmerksam. Die Gamification weist auf die Wurzeln in der Gamerszene weist auf die Wurzeln in der Manosphere, die jegliche zwischenmenschliche Beziehung als Game begreift. Nicht Gewaltexzesse in Videospielen sind das Problem, sondern die Gamifizierung als Methode, die eine Verbreitung weit über eine Spieleszene hinaus gefunden hat.

Und es geht nicht nur um die Plattformen: Mindestens genauso stark läuft die Verbreitung und Präsenz von Attentatvideos über Mainstream-Nachrichtenmedien, von denen einige Details aus Manifest und Video auch noch lange online hatten, nachdem Facebook und Youtube die Mitschnitte und Links zum Manifest offline nahmen. Es sind nicht einfach nur das böse Internet oder nur die sensationslüsternen Medien schuld, sondern es ist leider wie so oft komplizierter. Facebook wird gerne vorgeworfen, dass es nur unter aufmerksamkeitslogischen Kriterien vorgehe, aber das stimmt nicht (mehr): Facebook versucht seit inzwischen schon ein paar Jahren die Plattform zu moderieren. Was bei 2.32 Milliarden aktiven Usern, die sie 2018 hatten, halt nur nicht ganz so einfach ist. oderation ist gerade bei so gut wie jeder sozialen Plattform das heiße Thema. Seit Jahren sind sich eigentlich alle dessen bewusst, dass die Social Networks sich mit einer wirklich guten und sinnvollen Moderation gar nicht rechnen würden und dass die Probleme bis tief in den Strukturen sitzen. Letztlich sind die Internetplattformen auch eine öffentliche Infrastruktur, die von Menschen für Kommunikation, Organisation und Unterhaltung genutzt werden und Pauschalkritik an Internetplattformen lenkt davon ab, dass jede*r einzelne genauso selbst sein Umfeld mitprägt und mitverantwortlich ist.

Das sei aber bitte nicht als Tone Policing zu verstehen. Es geht hier aber um Ethik und wir sollten nicht in die “Civility Trap” laufen, wie es Ryan M Milner und Whitney Phillips nennen, beide Professor*innen der Kommunikationswissenschaften, die sich viel mit Meme- und anderer Internetkultur beschäftigt haben. Sie sagen, es gehe nicht darum, dass die Gesellschaft wieder zu einem zivilisierteren Umgangston finden müsse, und dass man nicht vergessen solle, dass der Ruf nach einem zivilisierteren Umgangston oft nur ein sogenanntes “tone policing” ist, das traditionell oft auch dazu verwendet wird, Forderungen von Marginalisierten nach mehr Gleichberechtigung zum Schweigen zu bringen. Dabei wird verdrängt, dass diese mit höflichen ruhigen Formulierungen meist einfach ignoriert werden, und nur deshalb überhaupt erst zu lauteren, zugespitzteren und aggressiveren Ausdrucksformen gegriffen haben. Ein ruhigerer Umgangston mag hilfreich sein, aber funktioniert eben nur, wenn alle Seiten mitspielen, und Höflichkeit allein löst keinen strukturellen Sexismus und keine Umvolkungs-Theorien auf, und der Verzicht auf Facebook und Twitter genauso wenig. Im Gegenteil: Die Nutzung sozialer Netzwerke hat vielen überhaupt erst eine breitere und vielfältigere Perspektive auf die Welt eröffnet. Das ist etwas, was bei all dem negativen Fokus auf Filterbubbles und Echokammern nicht vergessen werden sollte. Offliner stecken meist in viel engeren Filterbubbles und Echokammern. Was ist aber dann das Problem, wo können wir ansetzen? Nun, Milner und Philips machen als Antwort das, was gute Wissenschaftler*innen meistens machen: Sie erklären, dass und warum die Sache komplizierter ist. Kurz und grob zusammengefasst: Viele einzelne kleine, oft als Bagatelle erscheinende, unethische oder unsoziale Kommunikationsverhalten auf den Plattformen summieren sich und sind tragen genauso viel zu großen unethischen Vorfällen bei, wie zum Beispiel Vergewaltigunsdrohungen, Hasskommentare oder Mobbingattacken, auf die sich fokussiert wird. Es entsteht insgesamt ein toxisches Ökosystem.

Sie wählen zur Verdeutlichung das Bild einer Biomassenpyramide. Extremisten brauchen Verstärker, und als solche dienen nicht nur große Medien, sondern auch jede*r Einzelne von uns, die deren strategisch platzierte Inhalte weiterverbreitet, selbst wenn das geschieht, in dem wir uns drüber aufregen und davon distanzieren. Damit in einem Lebensraum ein Löwe überleben kann, braucht es ziemlich viele Insekten. Nach Milner und Philips füttern kleine unethische Verhaltensweisen – wie ein sarkastischer Kommentar, mit dem ein Newsartikel geteilt wird, oder das ironische Weiterverbreiten von einem Hoax, oder Spotten, oder Insiderjokes, usw. – sowas stärkt in der Masse überhaupt erst eine Atmosphäre, in der dann große Fälle von Desinformation wie ein Aufreger-Hasstweet von Trump überleben können. Das nur als ein kleiner Einblick, was alles zusammenspielt, Journalismus spielt da natürlich auch noch rein, auch die spezifischen Affordances der einzelnen Plattformen, usw. – aber das ist noch mal ein ganz eigenes großes Thema, vielleicht irgendwann für einen anderen Vortrag. Aber erst wenn ich das komplette Buch der beiden dazu gelesen habe, das “The Ambivalent Internet” heißt.

Steigbügelhalter Rape Culture

Zurück zum frauenfeindlichen Terror, der aus einem schädlichen gesellschaftlichen Männerbild erwachsen kann: Eliot Rodger ist kein Einzelfall und war lange nicht der erste, es wurde nur zu lange nicht so benannt: Neben den schon erwähnten, erstach zum Beispiel 2014 ein 18jähriger in Portsmouth drei Frauen und begründete seine Tat damit, dass er noch nie Sex gehabt hätte, obwohl er doch so erzogen worden sei, dass Frauen der schwächere Teil der menschlichen Rasse seien. 2009 ermordete ein Mann in Pittsburgh drei Frauen und sich selbst und hinterließ als Motiv, dass er 29 Jahre lang keinen Sex gehabt hätte. Die Vorstellung, als Mann ein natürliches Recht auf Sex mit Frauen zu haben, ist Teil dessen, was unter dem Begriff der Rape Culture gefasst wird: Ein gesellschaftliches Umfeld, in dem Übergriffe normalisiert sind, und indem z.B. große Medien das Wort “Sexattacke” statt “Vergewaltigung” benutzen, um nur eines von zahllosen Beispielen zu nennen. Jordan Peterson ist auch ein gutes Beispiel dafür wie normal, wie weit akzeptiert radikale Frauenfeindlichkeit ist. In der New York Times wurde er als “einflussreichster Intellektueller der westlichen Welt” bezeichnet, sein Buch hat sich inzwischen weit über 3 Millionen mal verkauft, und auch hierzulande schrieben einige große Zeitungen erschreckend kritiklos über ihn. Lukas Hermsmeier kritisiert ein 8seitiges Porträt, das im SPIEGEL erschienen war: „Petersons Anhänger werden als ‘einsame, sinnsuchende Großstadtjungs’ und ‘Männer, die Fragen haben statt Antworten’, verniedlicht. Dass eine britische Journalistin nach einem Interview mit Peterson Morddrohungen erhielt, wird nicht etwa auf den in Petersons Community weitverbreiteten Frauenhass zurückgeführt, sondern damit begründet, dass ‘Popularität im Netz auch Polarisierung, Wut, Hass bedeutet’. .. Peterson scheint eine Erlösung zu sein. Für all die Männer, die darauf gewartet haben, dass ein fleischfressender Professor die banale Verachtung für Feministinnen in bedeutungsschwere Sätze verpackt. Was vom ‘Spiegel’-Text hängen bleibt? ‘Nonkonformistisch’, ‘charismatisch’ und ‘neugierig’ sei Peterson. Ein Cowboy mit Positionen, die sich im ‘Spektrum konservativ-libertären Denkens’ befinden. Wie beschreibt man ihn am besten? Vielleicht so, wie es die ‘Frankfurter Allgemeine Zeitung’ im April tat, also als ‘die Stimme der schweigenden liberalen Mitte’. ”

Und um noch mal in aller Deutlichkeit das Level von Misogynie zu zeigen, für das er steht: Nach dem Anschlag in Toronto letztes Jahr, den der Täter mit einer Incel-Ideologie begründete, sagte Jordan Peterson in einem Vortrag: “Der Täter war wütend auf Gott, weil Frauen in zurückwiesen. Die Heilung dafür ist erzwungene (“enforced”) Monogamie.” Das ist für ihn eine rationale Lösung, weil Frauen sonst nur an Männern mit dem höchsten Status interessiert wären und die Hälfte aller Männer leer ausgehen würden. Das entspricht genau der Incel-Weltanschauung und wenn das tatsächlich, um das FAZ-Zitat aufzugreifen, die Stimme der schweigenden liberalen Mitte ist, wisst ihr, warum wir von einer in unserer Gesellschaft weit verbreiteten Rape Culture sprechen. In den Kreisen der Manosphere werden Vergewaltigungen schöngeredet und der Mythos aufrechterhalten, dass Männer eigentlich die größten Opfer von Vergewaltigungen seien, weil Männer überwiegend von Frauen ungerechtfertig einer Vergewaltigung bezichtigt würden. Tatsächlich sind es “je nach Untersuchung, Land und politischer Weltsicht der Autoren … zwischen zwei und acht Prozent”.

Der Verdacht der Falschbeschuldigung als Reflexreaktionist kein explizit rechtes Vorurteil, aber es ist eines. Und es ist eines, das sich im verängstigten Aufschrei vieler Männer nach MeToo wiederspiegelt, was man denn jetzt überhaupt noch dürfe. Eine Frage, die nichts anderes heißt als: werden wir jetzt wohl belangt, wenn wir eine Frau gegen ihren Willen antatschen? Es ist die Formulierung von Angst vor Konsequenzen. Und das drückt aus, wie normal Übergriffe und Missbrauch in unserer Gesellschaft sind. Deswegen sind die Angriffe der Rechten auf diesem Gebiet so gefährlich: bei diesem Thema können sie tief in der Mitte des gesellschaftlich Akzeptierten vorstoßen und Verbündete finden. Ich teile hier die These von Franziska Schutzbach, dass Antifeminismus und Anti-Gender “zu einer zentralen Chiffre [wurden], mit der die Einmittung rechter Weltanschauungen möglich wird, mit der also rechte Positionen in verschiedenen politischen Milieus gesellschaftsfähig werden.”

Szientismus, Skeptizismus, Meinungsfreiheitabsolutismus

Es sind keine klassischen Konservativen, sie sehen sich oft als Progressive. Konservative, so Jay Allen, stünden für sie für Zensur und Unwissenschaftlichkeit, während sie für Gedanken- und Meinungsfreiheit und Skeptizismus stehen. Und für Meritokratie, für eine pure Leistungsgesellschaft, ob das im Game ist, um Frauen zu gewinnen, oder auch sonst in jedem Gesellschaftsbereich: Wenn du erfolgreich bist, dann verdienst du es, weil du überlegen bist. Jede Frau oder jede* Schwarze, die erfolgreich sind, sind das nur, weil sie getrickst haben oder sie sind es wegen verweichlichender Mechanismen sozialer Gerechtigkeit, die es zu überwinden gilt. Redpiller rationalisieren noch die bösartigste Diskriminierung als Hass auf eine spezielle Person, die nur zufällig einer Minderheit angehört, statt als Hass auf die Minderheit selbst. Jay Allen erklärt auch, dass die Red Piller ihre Vorstellung, dass ihnen eine Verschwörung von Kulturmarxist*innen, die der ganzen Gesellschaft progressive Überzeugungen aufzwingen wolle, nicht nur ablehnen, weil sie sie als unfair ihnen gegenüber verstünden, sondern auch, weil sie die Warheit verschleiern würden.

Und es geht hier nicht um tatsächliche Wissenschaftlichkeit. Während die wissenschaftliche Methode sich nur mit dem beschäftigt, was beobachtet und gemessen werden kann, handelt es sich bei den Redpillern meist um Szientismus. Szientismus geht einen Schritt darüber hinaus, so Allen, und lehnt die Autorität oder den Wert von allem ab, was nicht empirisch beobachtet werden kann. Deswegen wird auch alles, was subjektiv erforscht wird, wie Philosophie, Religion und Theologie oder Kunst als minderwertig betrachtet, weil es nicht die vermeintlich objektiven Wahrheiten der hard science, der Naturwissenschaften, vorweisen kann. In der Praxis heißt das aber lediglich, dass sie ihre eigenen Ansichten, egal wie wenig beweisbar, einfach als objektiv betrachten und behaupten. Jay Allen nennt das denn auch konspirativen Szientismus und verfolgt das bis in Bitcoin-Kreise hinein. Evolutionäre Psychologie und Neuropsychologie sind auch Felder, die dort gerne missbraucht werden, um bereits vorhande Vorstellungen scheinbar wissenschaftlich zu ‘begründen’.

Dark Enlightenment, Neoreactionaries, Reactosphere

Noch stärker ist das alles bei dem sich durchaus überschneidendem Dark Enlightenment ausgeprägt, der Bewegung der dunklen Aufklärung, das neoreactionary movement, das ganz klar anti-demokratisch ist, und einem pseudowissenschaftlichen Rassismus frönt, Stichwort “racial realism” und “human biodiversity”. Die Anhänger des des Dark Enlightenment würden sowas wie eine Monarchie begrüßen, nur statt dem göttlichen Recht von Königen und der Aristokratie gäbe es ein “genetisches Recht” von Eliten, beschreibt das Klint Finley. Zu diesen Neoreactionaries, werden auch Leute wie Steve Bannon oder Peter Thiel gezählt, der Mitgründer von Paypal und Trump-Berater und Vorstandsmitglied von Facebook. Thiel (auch einer der neurechten Schwulen), hat klar geäußert, dass er bezweifelt, dass Freiheit und Demokratie miteinander kompatibel seien, nicht zuletzt weil in einer Demokratien auch Empfänger von Sozialleistungen sowie Frauen das Wahlrecht haben. Wählen sollten, ginge es nach ihm, nur die wirtschaftlich “nützlichen” Mitglieder einer Gesellschaft dürfen. Diese Neoreaktionäre Bewegung wird auch unter “reactosphere” genannt, “Reactosphäre”, ein Begriff, den auch die beiden Jungs von der Identitären Bewegung in dem Podcast, den ich eingangs erwähnte, für sich als Selbstbezeichnung in Anspruch nehmen. Ich glaub, im Deutschen ist “paläolibertär” ein ähnlicher Begriff. Aber bevor ich noch weiter in diese zahllosen rechten Verzweigungen und Subszenen abgleite, ziehe ich hier mal einen Schlussstrich und kehre zur klassischen Manosphere zurück.

Verunsicherte junge Männer geraten in toxische Männlichkeitsgruppen mit sektenähnlichen Rekrutierungsmethoden

Es wird wie gesagt auf diesen Foren ein Weltbild etabliert, dass Sex mit Frauen etwas sei, was Männer automatisch verdienen würden, wenn sie bestimmte Spielzüge korrekt absolvieren, und die Frauen, die ihnen trotzdem Sex verwehren, würden ein Unrecht begehen und seien undankbare “Feminazis”. Es wird ein Bild toxischer Männlichkeit aufgebaut, mit dem auch Männer nicht glücklich werden können, ein schädliches Männlichkeitsideal – jeder steht in Konkurrenz zu jedem, Empathie und Gefühl sind Schwächen, die es zu überwinden gilt. Diese Manosphere lockt mit der Verheißung, Jungen und Männern, die offline kein hilfreiches soziales Umfeld haben, dort online Hilfe zu finden. Wo sie nach Hilfe suchen, um mit mangelndem Selbstbewusstsein, Unsicherheiten und Beziehungsproblemen fertig zu werden, wird ihnen eine Welt eröffnet, in der es zwar schon auch um scheinbar harmlose Tipps rund um Styling, körperliche Fitness und das Aufbauen eines Selbstbewusstseins geht, aber das eben in einer Weise, die höchst hierarchische und konkurrenzgeprägte Züge trägt. Es geht immer wieder nur um Macht und deren Kehrseite: Ein Versager, ein Beta, zu sein. Jennifer Cool, eine Anthropologin, die an der USC Internetkultur und -geschichte erforscht, sieht das Problem in einer gesellschaftlichen Individualisierung des Prozesses jemanden für eine Beziehung zu finden. Nicht offline versus online, sondern wo vor vielen Jahren Leute eher durch Aktivitäten in Gruppen eingebettet waren, seien an diese Stelle heute für viele eher personalisierte Erfahrungen getreten. Und wo sie sonst keine sozialen Kontakte fänden, haben sie online die Möglichkeit eine soziales Forum zu finden, in dem sie zwar keine Partnerin fänden, aber wenigstens einen Kreis von Leidensgenossen. Was aber passiert, wenn junge verunsicherte Männer, die sonst wenig Kontakt mit anderen haben, im abgeschotteten Weltbild der Manosphere landen, kann gefährlich werden.

Es wird immer wieder mit Sekten verglichen, nicht zuletzt von ehemaligen Red Pillern selbst. Amelia Tait hat für den New Statesman mit einigen Ex-Red Pillern gesprochen. Joao aus Portugal, zum Zeitpunkt des Interviews 24 Jahre alt, stieß mit 17 Jahren auf solche Foren und er erzählt: “Ich glaubte alles, alles. Und wenn du nicht alles glaubtest… wenn du auf ein Red Pill Reddit gehst und nicht einer Meinung mit dem Rest bist, löschen sie entweder deine Kommentare oder sie versuchen sich über dich lustig zu machen und dich zu beschämen. Du kannst nichts kritisieren, weil Leute ganz schnell versuchen, dich herabzusetzen.” Jack, ein 24jähriger britischer Ex-Red Piller sagt: “Wie die Bewegung Evolutionäre Psychologie einsetzte, das überzeugte mein rationales Denken, dass alles, was ich las, ein wissenschaftlicher Fakt sei, der von Feministinnen unterdrückt werde. Ich begann male Victimhood, den männlichen Opferstatus, überall in der Gesellschaft zu sehen. Es hat meine Confirmation Bias – also die Schwäche, dass Menschen dazu neigen eher Dinge zu glauben, die ihrem Weltbild entsprechen – gefüttert, dass die Gesellschaft so aufgebaut sei, dass Männer, die auf Frauen eingehen, dafür Sex zu bekommen haben.” Einige erzählen, wie sie das Incel Forum auf Reddit immer tiefer in einen Selbsthass trieb, nachdem sie eh schon davon überzeugt gewesen waren, nichts wert zu sein, nie von jemandem begehrt zu werden, und dass all ihre Freunde und ihre Familie hinter ihrem Rücken über sie lachen würden, weil sie die simple Aufgabe, eine Freundin zu finden nicht hinbekamen.

Tim, ein 22jähriger aus Neuseeland, glaubt, er sei nur deswegen nicht dort hängengeblieben, weil er immer schon viele Frauen in seinem Freundeskreis gehabt hätte, und so auch außerhalb noch ein anderer Blick auf die Welt präsent war. Louis, ein 19jähriger aus New York erzählt, dass er es erst schaffte, sich aus dem Forum zu lösen, als es immer rassistischer wurde. Louis ist ein Schwarzer. Während sich der Männerrechtsaktivismus zwar so darstellt, als sei er für alle Männer da, geht es eigentlich um die weißen Männer, die sich nicht nur von Frauen, sondern auch durch People Of Colour, letztlich alle nicht-westlichen Menschen und queere Menschen bedroht fühlen. Der Rassismus klingt auch in einem Begriff wie “cuck” an, der zu ihrem Jargon gehört: Eine Bezeichnung für Männer, die freiwillig an ihrer eigenen Unterdrückung teilhaben, und von der Begriffsgeschichte her stammt sie aus der Pornographie und bezeichnet dort ein Genre, in dem ein Mann dabei zusehen muss, wie seine Frau mit einem anderen, typsischerweise einem schwarzen Mann Sex hat. Die rassistische Aufladung des Begriffs wurde zum Beispiel auch deutlich, als Richard Spencer dagegen protestierte “Cuckservative” als Bezeichnung für Beta Males oder Liberals zu verwenden. Er bestand darauf: “It doesn’t make sense without race.”

Der Übergang zur rechten Szene ist ein fließender

Nicht alle Frauenhasser sind Rassisten und umgekehrt, aber eine tiefsitzende Verachtung für Frauen bildet, wie es die ADL in einem Reader zur Intersection of Misogyny and White Supremacy formuliert, ein “verbindendes Gewebe” zwischen Rechten und Gruppen wie den Incels, den Mänerrechtsaktivisten und den Pick Up Artists, es sei eine robuste Symbiose, die sich gegenseitig befruchte. Beispiele: Bevor er einer der bekanntesten Rechten der USA wurde, war Christopher Cantwell auf Männerrechtswebsites unterwegs und schrieb frauenfeindliche Blogposts. Der Alt-Right Blogger Matt Forney hat seine derbsten Anti-Frauen-Posts auch auf der Männerrechtswebsite Return Of The King gepostet. Viele Rechte in den USA verwenden den Begriff “thots” für Frauen, der für “that ho over there”, “diese Hure dort drüben” steht. Ein Begriff, der soweit in den Mainstream gelang, dass er auch in Hiphoptexten gängiger Jargon ist. Auch Andrew Anglin vom Naziblog The Daily Stormer wird in dem ADL Reader zitiert: “Your worst enemy is not Jew, White Man, but your own females.” – “Dein größter Feind ist nicht der Jude, weißer Mann, sondern deine eigenen Frauen.” Oder “Weibchen”, wie females vielleicht besser übersetzt wäre. Er beschreibt sich selbst als die “Speerspitze gegen die feministische Bedrohung.” Roger Devlin, ein nationalistischer Akademiker, führt aus, dass die Women’s Liberation den weißen Männern geschadet habe, weil weiße Frauen, wenn sie die Wahl haben, nicht mehr unbedingt heiraten und Kinder kriegen, und so nicht mehr die weiße Rasse am Leben erhalten. Auch auf Incel Messageboards wird beklagt, dass die Frauen zu viel Freiheit haben, was Männer wie sie um ihr sexuelles Geburtsrecht brächte. Manche, so der ADL Reader, finden, dass, indem sie Männern Sex verwehren, Frauen eine “reverse rape” begehen, eine umgekehrte Vergewaltigung, die ihrer Ansicht nach auch Raum in der metoo Diskussion finden müsse.

So sind die Manosphere-Foren eine Szene, die, wie auch Abi Wilkinson beobachtet hat, ein Nährboden für Neofaschisten ist. Sie finden dort wütende, frustrierte junge weiße Männer und ziehen sie nach ihrem Vorbild heran. Wilkinson schreibt, dass sie bei einigen Forenmitgliedern, deren Postings sie von früher bis heute gelesen hatte, eine Entwicklung lesen konnte, die von einer vagen Unzufriedenheit und dem Verlangen nach sozialem Status und sexuellem Erfolg bis hin zum voll ausgebildeten Festhalten an einer geschlossenen Ideologie von weißer Vorherrschaft und Frauenhass reichen.

Radikalisierungsmethoden: taktische Ziele, Manipulation, Polarisierung

Es ist kein Zufall, dass Rechte solche Foren nutzen, um Männer zu radikalisieren, sondern es ist Teil einer breit angelegten Taktik. Julia Ebner zählt in ihrem Essay “Counter-Creativity” in ‘Sociotechnical Change from Alt-Right to Alt-Tech’ drei taktische Ziele auf:

  • Radikalisierungskampagnen die an mögliche Sympathisanten gerichtet sind (da würde die Arbeit auf solchen Foren darunter fallen)
  • Manipulationskampagnen, die auf den gesellschaftlichen Mainstream gerichtet sind
  • Einschüchterungskampagnen, die auf politische Opponent*innen abzielen

In rechten Netzwerken werden Anleitungen geteilt, strategische Dokumente, in denen erklärt wird, wie man Gespräche anfangen kann, Vertrauen aufbaut, weitverbreitete Missstände ausnutzen kann und wie man die Sprache auf die Person zuschneidert, der man seine Ideologie nahezubringen versucht. Alice Marwick und Rebecca Lewis erklären in ‘Media Manipulation and Disinformation Online’, wie ein Amalgam aus Verschwörungstheoretikern, Technologie-Libertären, weißen Nationalisten, Männerrechtlern, Trollen, Anti-Feministen, Anti-Immigrations-Aktivisten, und gelangweilten jungen Leuten die Techniken der partizipatorischen Kultur, z.B. Memes, und den Angriffspunkten von Social Media einsetzen um ihre Überzeugungen zu verbreiten. Sie nutzen ganz gezielt die Möglichkeiten, die ein wegen Werbungsfinanziertheit auf Aufmerksamkeitsökonomie hin strukturiertes Internet bietet, um Schwächen im Newsmedienökosystem auszunutzen.

Ein Beispiel bei Marwick und Lewis ist 8chan/pol. Auf diesem Forum werden selbst angefertigte Memes und andere Bilder untereinander getauscht, kommentiert und Verbesserungstipps gegeben. Es ist bis hin zu angemessenen Verhaltensweisen auf Effizienz hin durchstrukturiert, so werden zum Beispiel Neulinge dazu angehalten, erst mal eine Weile nur mitzulesen, um die Gruppennormen zu verstehen, und sollen erst dann selbst posten. Ein konkretes Beispiel, wie sich dort gegenseitig etwas beigebracht wird, wäre, dass jemand dort z.B. anonym eine Flowchart postet, die Schwächen im liberalen Denken aufzeigen soll, und in dem Posting um Feedback bittet. Die Antwort hier mal als längeres Beispiel, um zu sehen, wie diese Ratschläge sich detailliert mit Zielgruppen und Medienpsychologie auseinandersetzen:

“This may seem like a good argument to people who already agree with it, but it
won’t make it past any memetic defenses of the brainwashed. You need to make
the message short and simple, so that the reader has already intaken [sic] all
of it before their brain shuts it down. And you need to make it funny so that it
sticks in their brain and circumvents their shut-it-down circuits.”

So werden gemeinsam Techniken und Memes ausgearbeitet, wie sich ihre Ideologie verbreiten lässt und Normies geredpillt werden können. (”Normies” ist Internetsprache für nicht sehr internetaffine Menschen aus der gesellschaftlichen Mitte.)

Die Rechten teilen auf ihren Plattformen, zu denen z.B. auch Discord zählt, auch ein breites Angebot von Literatur miteinander, um mehr über Medien und öffentliche Meinung zu lernen. Dazu gehören klassische Medienstudien und soziologische Texte wie “Understanding Media” von Marshall McLuhan und “The Crowd” von Gustave Le Bon, ebenso wie Material zu Propaganda und Überzeugungstechniken, aber auch Saul Alinskys “Rules For Radicals” oder weniger bekannte Literatur über subliminale Werbung und Gehirnwäschetaktiken der US-Regierung. Social Engineering ist auch ein beliebtes Thema, die Praxis psychologischer Manipulation um Leute zu bestimmten Aktionen zu bringen. Das reicht von akademischen Publikationen bis zu radikalen Manifesten, von Marketing Texten bis zu CIA Trainingsmaterial und vielem mehr. Es ist klar, dass es ihnen darum geht, ein breites Verständnis der Medienumgebungen zu entwickeln, um sie besser zur Verbreitung ihrer Ideologie ausnutzen zu können.

Es geht um strategische Verstärkung und Framing und bei letzterem ist auch immer wieder wichtig, dass es für die Manipulatoren egal ist, ob Medien über ein Ereignis als etwa tatsächlich Geschehenes berichten, oder ob sie darüber berichten, um es zu Debunken, also: um es Richtigzustellen. Es geht gezielt darum, überhaupt eine Berichterstattung darüber zu bekommen. Es geht um Agenda Setting, das Setzen von Themenschwerpunkten. Denn: Wenn über ein Thema viel berichtet wird, erscheint es als ein bedeutendes Thema, es erscheint dann so, als müsse ja quasi was dran sein, sonst würden die großen Medien ja nicht dauernd darüber berichten. So schaffen es rechte Gruppierungen auch immer wieder, sich größer erscheinen zu lassen, als sie sind und traurigerweise gleichzeitig auch, mehr Anhänger*innen zu finden, da mehr Menschen dann glauben, dass etwas dran sein müsse – siehe nur die Berichterstattung über Flüchtlinge.

Es geht aber nicht nur ums Agenda Setting, sondern das Framing, also wie ein Ereignis gedeutet wird, ist ihnen natürlich auch wichtig, da bekannt ist, dass eine Misinformation fast nie wieder komplett richtiggestellt werden kann, wenn sie mal richtig die Runden gemacht hat. Richtigstellungen sind oft langweiliger und komplizierter und werden deshalb lange nicht so weit verbreitet.

Ein halbwegs aktuelles Beispiel wäre die Berichterstattung über den Angriff auf Frank Magnitz, bei dem es die Rechte schaffte, dass die Medien ein einprägsames Bild des blutüberströmten AfD-Politikers mit der Meldung verbreiteten, er sei von Linksradikalen mit einem Kantholz niedergeschlagen und am Boden liegend noch getreten worden. Beides wurde im Nachhinein dank Videoaufnahmen entkräftet, aber das erste Framing bleibt immer ein gutes Stück weit haften. Wenn selbst der Bundespräsident vorschnell das falsche, rechte Framing übernimmt, das die Tat als Gewalt von politischen Gegnern darstellte, ist es schwer, das wieder rückgängig zu machen.

Noch dazu verbreitet sich durch solche Richtigstellungen im Nachhinein eine immer größere Unsicherheit, was denn überhaupt noch wahr sei, an dem, was die großen Newsmedien berichten. Auch das nutzen die Rechten bewusst, denn dieses Chaos arbeitet ihnen zu: Je mehr gesellschaftliche Verunsicherung, desto mehr mögliche Leute, die sich radikalisieren lassen. Es wird bewusst in der Grauzone, der Zone der Unentschlossenen, manipuliert; es ist eine taktische Polarisierung, die die Gesellschaft immer weiter spalten soll, damit sich binäre Welterklärungsmodelle durchsetzen. Die moderate Mitte soll dazu gebracht werden, eine Seite zu wählen, damit die politischen Ränder stärker werden, so Julia Ebner.

Rechte Hive Mind, die vom Chaos profitiert

Es sollte klar sein, dass es sich bei diesen Kreisen nicht um ein paar verwirrte Köpfe handelt, sondern dass hier eine Hive Mind am Werk ist, die sich stetig verändert, keine geschlossene Gruppierung, sondern eine die überall lose Enden zur Anknüpfung hinterlässt und die von einem immer chaotischer erscheinenden Weltbild profitiert. Und die von der Aufmerksamkeitsökonomie der sozialen Plattformen profitiert.

James Bridle beschreibt im Conspiracy-Kapitel von New Dark Age (Übersetzung von mir): “Wenn du dich auf Social Media einloggst und beginnst nach Information zu Impfungen zu suchen, wirst du schnell deinen Weg zu Anti-Impf Meinungen finden. Und wenn du solchen Informationsquellen erst mal ausgesetzt bist, werden andere Verschwörungen – Chemtrailers, Flatearthers, 9/11Truthers – in deinen Feed promoted. Schnell fühlen sich diese Meinungen wie die Mehrheit an: Eine endlose Echokammer unterstützender Meinungen. … Wenn du online nach Unterstützung deiner Ansichten suchst, wirst du sie finden. Und darüberhinaus, wirst du einen andauernden Stream der Bestätigung gefüttert bekomme: mehr und mehr Information von immer extremeren und polarisierenderen Natur. So graduieren Männerrechtsaktivisten zu weißem Nationalismus, und so fallen unzufriedene muslimische Jugendliche dem gewalttätigen Jihadismus anheim. Das ist algorithmische Radikalisierung, und sie arbeitet den Extremisten in die Hände, die wissen, dass Polarisierung der Gesellschaft ultimativ ihren Zielen nutzt.”

Danah Boyd, Gründerin von Data & Society, formuliert es in ihrem Essay ‘The Messy Fourth Estate’ über die Rolle des Journalismus beim Erstarken der Rechten so: “In zeitgenössischer Propaganda geht es nicht darum, jemanden davon zu überzeugen, etwas zu glauben, sondern sie davon zu überzeugen, das zu bezweifeln, was sie zu wissen glauben.” Womit wir wieder beim verschwörungstheoretischen Denken wären, auf das ich am Anfang des Vortrags eingegangen bin.

Den Einschlag absorbieren

Ich hab eine Weile überlegt, wie ich diesen Vortrag beenden will, klassisch mit einem zusammenfassenden Resümée, mit einer kämpferischen feministischen Ermutigung oder mit Werkzeugen zum Dagegenhalten, aber ich hab mich dann für einen etwas längeren Auszug aus dem eben erwähnten Essay von Danah Boyd entschieden, die seit vielen Jahren zu Jugendlichen und Internetnutzung forscht, als eine Art offenes Ende, das hoffentlich zum Weiterlesen, Weiterdenken und Aktivwerden anregt. Danah Boyd schreibt (Übersetzung von mir):

“Als Kind, wenn ich gegen alles und jeden aufbegehrte, was es meine Mutter, die mich nachts hielt, bis ich einschlief. Als ich ein Teenager war und meine Nächte im Usenet durchchattete, waren es zwei Leute, die mir im Gedächtnis blieben, wie sie mich auffingen und mir halfen wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen, ein Soldat im Einsatz und eine Transgender Frau, die mir beide das Gefühl gaben, mich zu halten, während ich verrückte Fragen stellte. Sie haben den Einschlag absorbiert und mir eine andere Art zu denken gezeigt. Sie haben mir die Macht von Fremden gezeigt, die jemanden in einer Krise beraten. […]

1995, als ich versuchte, meine Sexualität zu verstehen, begab ich mich in diverse Onlineforen und stellte einen Haufen idiotische Fragen. Ich wurde quasi adoptiert von der schon erwähnten Transgenderfrau und vielen anderen, die mir zuhörten, mir Hinweise gaben, und mir halfen, mich durch das hindurchzudenken, was ich fühlte. 2001, als ich versuchte herauszufinden, was die nächste Generation tat, realisierte ich, dass Jugendliche, die ähnlich mit etwas zu kämpfen hatten, viel wahrscheinlicher bei einer christlichen Gay Conversion-Therapie landen würden, als bei einem sie unterstützenden Queer Peer. Queere Menschen hatten es satt, von anti-LGBT Gruppen attackiert zu werden und hatten sich Safe Spaces in privaten Mailinglisten geschaffen, die ein verlorener queerer Jugendlicher nur schwer finden konnte. Und so wurden diese Jugendlichen in ihren dunkelsten Stunden von denen mit einer schmerzhaften Agenda aufgefangen.

Spul noch mal 15 Jahre vor und Teens, die versuchen soziale Themen zu verstehen, finden keine progressive Aktivisten, die dazu bereit sind, sie aufzufangen. Sie finden die sogenannte Alt-Right. Ich kann euch gar nicht sagen, bei wie vielen Jugendlichen, die wir Fragen stellen sahen, wie ich sie stellte, wir beobachteten, wie sie von Leuten zurückgewiesen wurden, die sich mit progressiven sozialen Bewegungen identifizieren, nur um dann Kameradschaft in Hassgruppen zu finden. […]

Verbring mal etwas Zeit damit, die Kommentare unter den YouTube Videos von Jugendlichen zu lesen, die damit kämpfen, die Welt um sie herum zu verstehen. Du wirst schnell Kommentare von Leuten finden, die Zeit in der Manosphere verbringen oder sich dem white supremacy Denken verschrieben haben. Sie tauchen da rein und reden mit diesen Jugendlichen, bieten ihnen ein Gerüst an um die Welt zu erklären, eines, das in zutiefst hasserfüllten Vorstellungen wurzelt. Diese selbstberufenen Selbsthilfe-Akteure umwerben Menschen, damit sie sehen, dass ihr Schmerz und ihre Verwirrung nicht ihr Fehler ist, sondern der Fehler von Feminist*innen, Immigrant*innen, People Of Color. Sie helfen ihnen, zu verstehen, dass die Institutionen, denen sie eh schon misstrauen – den Nachrichtenmedien, Hollywood, Regierung, Schule, Kirche -, sogar daran arbeiten, sie zu unterdrücken. Die meisten, die diesen Ideen begegnen, werden sie nicht annehmen, aber manche werden es. Und die anderen werden vielleicht nie mehr den Zweifel los, der in ihnen gesät wurde. Es braucht nur einen kleinen Funken.”

Medium Sweet – 1 Jahr Kantine

Ich habe mir derzeit zwei Wochen Urlaub genommen und es hat tatsächlich fünf Tage gedauert, bis ich soweit runtergekommen bin, dass ich das Schreiben wieder anfangen konnte. Vorher: eine Wespennest von Gedanken, ein einziges Getriebensein und Gefühle nur noch in Extremen, zwischen Abgrund und Euphorie. Jetzt sitze ich gerade über einem Text zu politischem Handeln in Zeiten der Weltuntergangsstimmung, entlang an The Good Fight S3 und von Triers Melancholia, und ein paar theoretischen Texten. Bin selber gespannt, was und ob was Rundes draus wird.

Wenigstens habe ich wirklich viel gelesen in letzter Zeit, das hat gut getan. Viele Romane. Sachbücher: die meisten nur angefangen, aber noch nicht fertig gelesen. Gut fand ich fast alles, was ich mir ausgesucht hatte, z.B. Lukas Rietzschel – Mit der Faust in die Luft schlagen, Cory Doctorow – Radicalized, Amitav Gosh – The Great Derangement, Jasper Nicolaisen – Erwachsen, Anna Burns – Milkman, Eckhart Nickel – Hysteria, Tim Maughan – Infinite Detail, Jessica Townsend – Nevermoor 1 und 2, Maggie Nelson – The Argonauts, Berit Glanz – Pixeltänzer. Über einige der Bücher will ich auch noch unbedingt Besprechungen schreiben.

Sonst noch halbwegs aktueller Output von mir: Ich habe für Analyse & Kritik (ak 651) eine Stranger Things 3 Besprechung geschrieben (hot take: Die Netflix AI ist das eigentliche Monster) und für Zement einen Remix gemacht (noch nicht veröffentlicht), für den ich Fruity Loops wiederbelebt habe – nach wie vor eine ganz wunderbare Software zum Beats machen. Partyplanung für Herbst steht auch halbwegs, auch noch mal ein Voguing Ball. Jetzt muss ich bloß aufpassen, dass ich nicht wieder tausend kleine zusätzliche Ideen bekomme, dann könnte es tatsächlich ein Herbst werden, in dem ich wieder den Kopf frei genug zum Schreiben habe.

Und ganz aktuell: Ich bin ja Teil des alternativen Veranstaltungskollektivs Musikverein. Wegen einer großangelegten Restaurierung mussten wir letztes Jahr aus unserer alten Location (Zentralcafé, K4) ausziehen. Dafür bekamen wir von der Stadt aber fantastisch zentral und nah am alten Ort gelegene Zwischennutzungsräumlichkeiten gestellt. Da wir letzthin feststellten, dass unser Umzug nun schon wieder fast ein Jahr her ist, haben wir noch kurzfristig beschlossen, das zu feiern. Für die Party habe ich Text, Namen und Plakat entworfen und freu mich schon drauf.

 

MEDIUM SWEET

Musikverein feiert 1 Jahr Kantine

Unser Umzug vom Zentralcafé in den Ausweichort Kantine war für den musikverein ein Jahr des Neuerfindens. Große Kompromisse, viel Improvisieren, viel weniger Platz, Neuorientierung hinten und vorn. Manche MV-Family-Mitglieder schieden dann leider auch aus, aber es kamen auch wieder neue dazu. Zu den ganzen Booking- und Veranstaltungstätigkeiten kam ganz schön viel Arbeit, die wir noch in den Club stecken mussten. Nicht immer ganz einfach, gerade für Ehrenamtliche. Aber langsam wird’s. Und hey, dieses erste Jahr in diesem Exil war auch schon voller positiver Momente, und bei vielen Dingen bekamen wir auch Hilfe. Es hat uns auch ganz schön zusammengeschweißt. Klar vermissen wir das Zentralcafé – es bleibt unvergleichbar und unvergessen. Aber es ist auch schön, eine neue Location mitzuformen, auch wenn es nur eine vorübergehende ist, und daran zu arbeiten, sie nicht nur einfach als Veranstaltungsort zu nutzen, sondern auch Arbeit reinzustecken, auch die Kantine als einen hedonistisch-kritischen, bescheuerten und widerborstigen, geliebten und gehassten, linken und inklusiven Ort prägen.

Musikalisch sind wir natürlich immer noch breit aufgestellt: In diesem ersten Jahr gab’s in der Kantine Livemusik von Punk, Synthiepop, Indie, Rap, Screamo bis zu Ambient, Doom, Wave, Drone, Krautpop, Beats, experimenteller elektronische Musik, u.v.m., dazu Club Nights in die verschiedensten Richtungen und auch einige Vorträge und Lesungen, und neue Formate, wie z.B. Feministisch Biertrinken, und einige Kooperationen, bei denen wir den Veranstaltungsideen Anderer Raum gaben. Wir sind jetzt schon gespannt, was das nächste Jahr bringt, zum Beispiel an neuen Mitgliedern (wie wär’s?!) und hey, das spannendste: Ob wir im zweiten Jahr vielleicht vom Heißluftballon unter den Digitalisierungshauptstädten endlich Internet in der Kantine kriegen. Stadt Nürnberg, you listening?! :slightly_smiling_face:

Insgesamt lässt sich sagen: Wir – und zu diesem “wir” gehören auch unsere Gäste – sind langsam in der Kantine angekommen. So, wie der Ort langsam physisch Patina gewinnt, haben wir ihn auch schon mit einigen Erinnerungen besetzt, die Funken sprühen und diese Party-Nacht wird hoffentlich dazu gehören!

Natürlich mit fast allen euren Lieblings-DJs vom Musikverein: Ramshackle, Philip Manthey, atomic_betty, Dj Fail, Comandante Manolo und eve massacre!

 

Deep Malle – Hölle? Hölle, Hölle, Hölle!

Zur Blauen Nacht, einem Beispiel städtischer Eventkultur in Nürnberg, habe ich für den musikverein zum Motto des Jahres 2019 ‘Himmel und Hölle’ einen Abend unter dem Titel “Hölle? Hölle, Hölle, Hölle!” entworfen:

“Hölle? Hölle, Hölle, Hölle!” lautet das Zitat eines großen deutschen Künstlers, das der musikverein für seinen Beitrag zur Blauen Nacht als Konzept aufgreift. Malle goes Noise und Techno und Pop und Deconstructed Dancefloor. “Sangria” kommt von “Aderlass” und “Limbo” ist ein Kreis der Hölle. Kritische Soundexperimente treffen auf ein Stahlbad voll Fun mit lokalen Künstler*innen: Live Acts, Installationen, DJs. So ein Wahnsinn.

Mit: Franz-Josef Kaputt (Otomatik Muziek), double u cc (Trouble in Paradise), Tobi Lindemann (Salon der unerfüllten Wünsche, Noris ohne Mauer, Libroscope) und vom musikverein: Philip Manthey, Amelie und eve massacre.

DEEP MALLE Mix

 

Mein musikalischer Beitrag war ein Mix, den ich nun auf Mixcloud hochgeladen habe. Ich habe noch aus meiner Mash-up-Phase eine große Liebe dafür, wie Kontextverschiebungen Musik verändern können, wie sich aus Textzeilen und Tracktiteln neuer Sinn ergeben kann, und für das Karnevalisieren von Musik, das Zerstückeln und Neukombinieren von Profanem mit Sakralem, von Seriösem mit Pop Trash. Eine Lieblingsstelle von mir ist in diesem Mix wie die Zeile “Vorglüh’n, Nachglüh’n, alle müssen springen!” über einen Sunn o))) oder Jóhann Jóhannsón Track gelegt, eher nach einem verzweifelten letzten Hilfeschrei klingt als nach Partygehüpfe, eine Erinnerung daran, wie eng verwandt extreme Verzweiflung und extremes Vergnügen sind.

Tracklist:

Disasterpiece – Title (It Follows OST)
Shalt – Nid de guepes
Chaos Team – Tschüss Niveau
Taso & Siete Catorce – 2 for 20$
Carina Crone – Ich hab auch Augen (Du Arsch)
Disasterpiece – Old Maid (It Follows OST)
Sunn o))) – Orthodox Caveman
Axel Fischer – Du bist mein Untergang
Isis Scott – Beautiful $ea
Jóhann Jóhannsson – Flight from the city
Marry – Vorglüh’n Nachglüh’n
Amnesia Scanner – Symmetribal
Andy Grey – Hasenzeit
Mia Julia – Wir sind die Geilsten
Air Max ’97 – Veneer
Jörg & Dragan (Die Autohändler) – Schade, dass man Bier nicht küssen kann
Throwing Snow – Simmer
Wolfgang Petry – Wahnsinn (Hölle, Hölle, Hölle)
Randomer – Far Purple Figs
Frenzy Blitz – Jung, blöd, besoffen
Dis Fig Bootie (Air Max ’97 x Oklou) – Like Rainbow Horse Running Through Misty Brain
Ikke Hüftgold – Huuh
Neana – Tell Her
Honk! feat. Andy Luxx – Wochenende, saufen, geil
Tobee – Helikopter 117 (mach den Hub Hub Hub)
Hans Zimmer & Benjamin Wallfisch – Mesa (Blade Runner 2049 OST)

DEEP MALLE Visuals

Als Visuals für den Abend habe ich ich Saufurlaubsbilder vom Ballermann mit Deep Dream und Glitch bearbeitet, als eine billige (passend zur “billigen”, verpixelten Optik, die auf das Trashige der Kultur anspielt) Metapher für den verzerrten Blick des Bildungsbürgertums und der Stadtoffiziellen, dem DIY-Kultur von kritischen Bürger*innen ähnlich wie die Arbeiter*innenkultur des Ballermanns animalisch erscheint. Gleichzeitig verweisen die Glitches und die langsame wabernde Verzerrung aber auch auf den durch Trunkenheit verschwommenen Blick der Ballermannkultur selbst, die Kritik an deren misogynen und nationalistischen Züge einarbeitend. Ein changierendes Bild, kein klares gut/schlecht Schema, Raum für trunken-mäandernde Reflexion. Hier ein Eindruck in Form kleiner gifs.

DEEP MALLE Sangria-Eimer

Neben Stoffblumengirlanden und großen aufblasbaren Plastikpalmen gab es in einer Ecke auch noch einen Sangria-Eimer, für den ich folgenden Hinweistext schrieb:

Der Sangria-Eimer, ein zweckentfremdeter Putzeimer, war das rituelle gemeinschaftsstiftende Gefäß der “Putzfraueninsel”, wie Mallorca verschrien wurde: Ein Ort, an dem der Urlaub, einst das Privileg der Bildungsschicht, eine Demokratisierung erfuhr und für den Urlaub der Arbeiterklasse, den rauschhaften Ausbruch der Arbeiterklasse aus dem Alltag stand. Für die bildungsbürgerliche Schicht ein beängstigend wilder Ausbruch voller Exzesse, ähnlich der ursprünglichen Karnevalisierung im Bachtinschen Sinne, wie Sascha Szabo feststellte. Das Ballermann-Feiern ist ein besonders heftiges, temporäres Aufbegehren gegen das protestantische und neoliberale Nützlichkeits- und Produktivitätscredo, dem sich sonst tagein tagaus unterworfen werden muss. Das schlägt sich auch in der Musik nieder: In Hits mit Titeln wie “Saufen, morgens, mittags, abends” oder “Hartz 4 und der Tag gehört dir”, mit Textzeilen wie “wenn keine Kohle, dann ab ins Dispo, doch das ist uns scheißegal”.

In den Visuals, die auf der Wand zu sehen sind, wurden Bilder von Ballermannfeiernden von Deep Dream interpretiert, einem künstlichen neuronalen Netz zur Erkennung von Bildinhalten, das vereinfacht gesagt, darauf trainiert ist, dass es Hunde erkennt. Dies spiegelt den Blick der bildungsbürgerlichen Schicht auf die Ballermannkultur: Sie wird als animalisch, verzerrt und primitiv interpretiert. Wie der Blick vieler auf viele, die aus dem Stadtbild verdrängt werden, weil sie unbequem am Bild des geregelten, ordentlichen und sicheren Nürnberg kratzen. Von Punk- und Sprayerszene bis zu berauschten Party People am Hauptbahnhof. Dementsprechend sind die Visuals keine attraktive topausjustierte Designkunst, sondern mit wenig Mitteln und Wissen von jedem und jeder machbare DIY Kunst.

Längst ist auch der Ballermann nicht mehr der wilde, entgrenzte Ort, als der er begann, sondern ist zum sicheren Erlebnistourismus herunterreguliert und -kommodifiziert. “Konfektionierte Erlebniskultur” ist allgegenwärtig, von Blauer Nacht, die von vielen als “Kultur-Ballermann” bezeichnet wird, bis Unsound oder Fusion.

Der Sangria-Eimer wurde verboten. Die Plastikstrohhalme werden es bald sein. Wir wollen ja alle vernünftig sein. Und auch morgen noch fit sein und funktionieren. Wir gedenken hier mit einem Schluck aus diesem musealisierten Sangria-Eimer den Zeiten der unvernünftigen Ekstase und des rauschhaften Ausbruchs.

Last but not least habe ich eine hervorragende Idee von Tobias Lindemann visuell umgesetzt:

Ach, dieses Wählen!

Über Politik jenseits von Feminismus, Queer Rights oder Antirassismus zu sprechen und schreiben war für mich lange Zeit ein No-Go, weil selbst meine sonst wirklich heißgeliebten linken Kreise recht gut darin sind, so gut wie jede Form von öffentlicher politischer Äußerung, die nicht genug Theoriebildung vorzuweisen hat, als naiv abzutun oder wegen einzelner Punkte komplett niederzukritisieren, am besten gleich zu mehrt. Ich denke aber gerne laut nach, dafür lieb’ ich ja auch neben offline-Gesprächen Social Media und dazu hab ich ja auch diesen Blog, und ich höre gerne Gedanken anderer zu Themen, die mir im Kopf rumgehen. Es hat seine Gründe warum es Greta Thunberg und Rezo schaffen, viel mehr Menschen zu politisieren, ihnen den Funken Hoffnung zu geben, den es braucht, um sich zu engagieren. Anyway. Eigentlich denk ich mir, dass es immer gut ist, wenn sich Menschen Blößen geben, und aus “dummen” Fragen, die ich gestellt habe, hab ich immer am meisten gelernt. Im Netz hab ich das in den letzten Jahren etwas verlernt, aber gerade habe ich wieder Lust darauf. Deswegen schreib ich hier jetzt einfach mal auf, was mir so zu meiner Wahlentscheidung zur Europawahl 2019 durch den Kopf ging.

Sonst liegt bei mir über Wahlen immer so ein frustrierter Schleier der unbefriedigenden Kompromisse, aber diesmal hob er sich bei mir und zwar aus einem simplen Grund: Bei der Europawahl gibt es keine 5%-Hürde. Plötzlich die Hoffnung unter den Kleinparteien eine zu finden, die für genau meine Interessen steht.

Die letzten Wahlen hatte ich immer brav die Linke gewählt, nachdem ich meine jugendliche Trotzphase des Nichtwählens (weil Wählen das ungerechte System bloß stützt) hinter mir gelassen hatte. Aber selbst bei der Linken hatte ich ein Bauchgrummeln – von Wagenknechts Ausspielen von Flüchtlingen gegen Arme und Schlechtverdienende bis zu Leuten mit antisemitischen Tendenzen. Dass viele wirklich tolle Leute in der Linken dagegenhielten, machte es zwar besser, aber irgendwie wünsche ich mir wie so viele andere doch immer die perfekte Partei statt den besten Kompromiss. Aber selber in einer Partei engagieren um das mitzuformen – das wär mir dann doch zu viel. Eine Freundin, die das gerade begonnen hat, bewundere ich sehr für diesen Schritt.

Aber weiter zu meiner Auswahl: SPD und Die Grünen sind für mich unwählbar, weil sie über die Jahre so viel aktiv zu sozialer Ungerechtigkeit und zu einem beängstigendem ‘Sicherheits’apparat beigetragen haben, und ihnen letztlich wenn’s um was ging, Wirtschaft stets wichtiger als soziale oder Klimapolitik war. Eine rotgrüne Regierung führte Hartz 4 ein, selbst bei ihrem Hauptthema Umwelt knickten die Grünen regelmäßig bei Themen wie z.B. Atom/Kohle-Ausstieg ein. Davon, dass sie Leute wie den verkappten Rechten Boris Palmer nach wie vor in ihrer Partei dulden, ganz zu schweigen.

Wenn Julia Reda noch kandidieren würde, wäre mein Wahl klar, da sie immer wieder im Alleingang die Piraten wählbar machte. Beste Person im ganzen EU-Parlament. Ihr Engagement und das ihres Teams war fundiert, kämpferisch, integer, und nicht nur Richtung Parlament, sondern auch immer Richtung Bürger*innen argumentierend. Durch sie fühlte ich mich ernstgenommen, informiert und gut vertreten. Aber steht leider nicht mehr zur Wahl.

Ich war wie gesagt neugierig auf die ganzen Kleinstparteien, die den politischen Trott ein bisserl durchwirbeln könnten. Die meisten konnte ich schnell aussortieren, nicht links genug oder thematisch zu eng, oder nicht entschieden genug gegen Rechts.

Volt wurde mir von einigen in die Social Media Timeline gespült, aber das ist die parteigewordene Startupkultur. Gutes Marketing, die richtigen Buzzwords setzen, aber bloß nicht zu anstrengend ‘politisch’ rüberkommen. Vom Spektrum her würde ich sie so zwischen FDP und Grüne positionieren – Wirtschaftsliberale meet Neoliberale. So fresh, dass sie sich als “weder links noch rechts” positionieren. Dazu kommt noch ein Fokus auf Sicherheitspolitik, den ich auch eher gruslig finde – lest mal die Begründungen z.B. auf Voteswiper, da wird ihr Fokus auf Stärkung von Wirtschaft und Polizei/Armee noch deutlicher.

Um das hier mal abzukürzen: In die engste Auswahl kamen bei mir dann Ökolinx um Jutta Ditfurth und Diem25, in Deutschland als ‘Demokratie in Europa’ auf dem Wahlzettel. Ökolinx sind politisch in vielem mein Ding, aber so furchbar altbacken links, dass ich sie einerseits für ihre Kompromisslosigkeit bewundere, ihnen aber einfach bei Themen wie neue Technologien und Klima nicht zutraue, meine Interessen zu vertreten.

Entschieden habe ich mich dann für Demokratie in Europa / Diem25, ganz schlicht, weil sie die einzige kapitalismuskritische Partei sind, die für soziale Gerechtigkeit steht UND eine transnationale paneuropäische Partei ist. Letzteres ist mir superwichtig, weil ich der Überzeugung bin, dass, wenn wir bei Themen wie der Klimakatastrophe und dem Umgang mit neuen Technologien ernsthaft etwas reißen wollen, wir über das Denken und Organisieren in Nationalgrenzen hinaus müssen.

Diese Punkte haben sich für mich tatsächlich erst bei meiner Auseinandersetzung mit verschiedenen Parteien und durch Gespräche mit Freund*innen und auf Social Media als die für mich wichtigsten herauskristallisiert: Ich will eine Partei, die sich scharf gegen Rechts stellt und in ihren Ansätzen zu Klima, sozialer Gerechtigkeit und Technologie transnational denkt. Alleine dafür, dass ich mir dessen bewusster bin und das für mich abgewogen habe, hat sich die Beschäftigung damit schon gelohnt. Und ja, ernsthaft: Bei dieser konkreten Mischung von Anliegen traue ich DiEM25 / Demokratie für Europa am meisten zu. Und ich glaube mehr an eine Reform der EU als an eine Revolution/ierung, vor allem in dem engen Zeitraum, der uns gerade beim Klimathema noch bleibt. Auf letzteres zu setzen, halte ich für naiv.

Bevor ihr mich für meine Entscheidung disst: Selbstverständlich ist das gleichzeitig aber auch wieder keine perfekte Partei, ich sag nur Assange und Zizek. Aus der antideutschen Ecke wurde angeprangert, dass sie sich nicht genug vom BDS distanzieren. Auch dass Varoufakis sich nicht im EU-Parlament festsetzen lassen will – eine Strategie, aus der er eigentlich schon länger kein Geheimnis macht – wird plötzlich als Enthüllung einer Täuschung hochgejizzt, kurz: Das Dreckwerfen ist in vollem Gange und an jeder Partei gibt es genug zu kritisieren. Ich werde Demokratie in Europa / Diem25 auch für Punkte, die mir nicht passen, weiterhin kritisieren, genauso wie ich das seit Jahren bei der Linken mache und sie trotzdem für den kleinsten Kompromiss hielt und sie voraussichtlich auch weiter wählen werde, wo immer es die 5%-Hürde gibt.

Ich fand übrigens auch Die Partei wieder mal sehr nützlich mit ihrem Briefwahl-Tool und dem Ersatz für den Wahlomaten, und bei aller Kritik schätze ich sie schon immer wieder als widerborstiges Element im EU-Parlament, das oft den Blick auf Themen lenkt, die sonst untergehen oder das scharfes Konter gibt. Wählen würde ich sie nicht, aber ich bin mir eh sicher, dass sie es wieder reinschaffen.

Und apropos Wahltools: Neben dem Wahlomaten, der inzwischen wieder online ist, fand ich den Voteswiper, der kein 8-Parteien-Limit hat, ganz gut. Ich schätze diese Tools dafür, dass sich recht übersichtlich Begründungen der Parteienpositionen zu einzelnen Punkten nachlesen lassen. Die 200-Seiten-Parteiprogramme sind mir denn doch too much. Und es lohnt sich wirklich, nicht einfach nur die zahlenmäßige Übereinstimmung anzugucken, sondern die Begründungen zu lesen! Ein Beispiel: Bei der Frage “Soll die EU die Laufzeiten für Atomkraftwerke auf 40 Jahre begrenzen?” war für mich der Fokus auf “begrenzen” und als jemand, die einen möglichst frühen Atomausstieg will, habe ich “Ja” angeklickt. Aber unter den Parteien, die einen schnelleren Ausstieg wollen, gibt es sowohl welche, die hier “Ja” angeben als auch welche die “Nein” angeben – gemeinsam haben sie, dass sie in ihrer Begründung schreiben, dass ihnen 40 Jahre zu lang sind. Die einen werden dann halt als mit deiner Position übereinstimmend gewertet, die anderen nicht.

Jo. Das war’s mit meinen halbgaren Gedanken zur Wahl. Ihr könnt gerne auch eure mit mir teilen. Ich höre da ja immer auch gerne andere Ansichten, auch wenn es nicht immer gut für meinen Puls ist. ^^

Ach ja, das Bild oben ist von Wolfgang Tilmans Insta: “I don’t want to wake up in a Europe like this.”

Und jetzt stürze ich mich in ein sehr spätes Frühstück und mach mich an’s Musik raussuchen. Falls ihr in Nürnberg seid, heute Abend lege ich mit Ramshackle bei HERE auf!

Kill All Normies – ein Faszinationsproblem

Eine englische Version dieses Posts ist hier veröffentlicht worden und eine tl;dr Version wird es in Druckform geben, in Analyse & Kritik.

“this is not a book about the alt-right. It is an anti-Left polemic.”
Jordy Cummings

‘the centre’ – as a proclaimed area of shared, sensible assumptions about the values, needs and possibilities of a political community, defined against threatening ‘extremes’ – is a frequently remade fiction, masking specific ideological commitments and positioning
Tom Crewe

Jetzt halt doch noch, ewig spät, ein paar Worte zu Angela Nagles Kill All Normies. Anlass ist, dass immer noch und immer wieder ärgerlicherweise neue Texte veröffentlicht werden, die sich kritiklos darauf beziehen. Aktuell gab mir den Anstoß ein Artikel von Klaus Walter, der einfach Nagles (wiederum von der Alt-Right-Selbstdarstellung kritiklos übernommene), These übernimmt, Alt-Right sei der neue Punk.
Manchmal wird in diesen Texten das Wörtchen “umstritten” eingebaut, eine Art magische Formel, die zwar signalisiert, dass geahnt wird, dass Kritik angebracht wäre, aber die gleichzeitig davon befreit, diese zu leisten. Ich würde mir bei dem Bekanntheitsgrad, den Kill All Normies inzwischen erreicht hat, aber eher wünschen, dass dieses Buch so kritisch diskutiert und zerpflückt würde wie der Sokal (Squared) Hoax und einen kleinen Beitrag dazu möchte ich hier leisten.

Keine Quellenangaben, gehässiger und schludriger Stil

Ein Grund dafür wäre schon allein Nagles “sloppy sourcing”: Es gibt keine Quellenangaben in diesem Buch. Das macht nicht nur eine Verifizierung schwierig, sondern es ist auch kaum möglich, Aussagen zu kontextualisieren. Libcom haben sich die Mühe gemacht, Quellen nachzuspüren, und ihnen ist aufgefallen, dass es Stellen gibt, die im Wortlaut Wikipedia-Einträgen gleichen. Wenn man so vorgeht, kann es denn schon mal passieren, dass man einfach die Selbstbeschreibung eines Faschisten übernimmt. In Nagles Fall Aleksandr Dugins Beschreibung seines eigenen Buches. Ähnlich Problematisches hat Charles Davis zusammengetragen, zum Beispiel dass Nagle Ereignisse basierend auf News-Artikeln beschreibt, die sie nicht zitiert, aber dabei die Stellen der Artikel weglässt, die nicht ihr Argument stützen (z.B. ihre Behauptung, dass Campus-Linke zunehmend unvernünftig und unzumutbar agieren würden).

Auch die boulevardjournalistische bissige Ausdrucksweise, die Kill All Normies prägt, einige Rechtschreibfehler und insgesamt ein Schreibstil, dem man die Schnelligkeit anmerkt, mit der dieser Text heruntergeschrieben wurde, finde ich kritisierenswert. Es wurde anscheinend kaum Arbeit ins Editieren gesteckt und, wie gesagt, auf überprüfbare Quellenangaben verzichtet. Das ist vielleicht für eine Bloggerin wie mich okay, die nicht viel Zeit und keinen redaktionellen Background und Ressourcen hat, aber für ein veröffentlichtes Buch, das inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt erschienen ist, und nun in großem Ausmaß die Runde macht und selbst von Menschen mit akademischem Background als angeblich seriöser Beleg verwendet wird, ist es eigentlich ein No Go. Ich kann nur annehmen, dass der Verlag Zero wohl darauf gesetzt hat, dass ein so reißerisches Werk ihm auch in dieser schludrigen Version aus den Händen gerissen wird. Und das hat ja auch geklappt. Clickbait in Buchform.

Jules Joanne Gleeson ordnet das Buch genremäßig ganz treffend als “Reiseerzählung für Internetkultur” ein, den exotisierenden Aspekt beschreibend: “Kill All Normies wirft einem Publikum, von dem sie erwartet, dass es das Erzählte als fremd und pikant empfindet, mit einer Reihe von Kuriositäten und Seltsamkeiten (von Neonazikults bis zu Teenagern mit undurchschaubaren Gendern) vor. Nagle versucht, sich selbst als distanzierte und ironische Forscherin darzustellen, aber an verschiedensten Punkten wird all zu klar, wo ihre Interessen liegen.”

[Hinweis: Die groben Übersetzungen aus dem Englischen sind alle von mir, die englischen Originaltexte zum Nachlesen verlinkt.]

Ablehnung des Femininem, internalisierte Misogynie

Nagles Buch durchzieht eine Ablehnung des Femininen und von Verletzlichkeit. Sie ist spürbar genervt von Feminist*innen und liest sich, als wäre sie gern “one of the guys”, a “cool girl”, es riecht hier geradezu nach internalisierter Frauenfeindlichkeit. Sie schafft schon allein in kleinen sprachlichen Details eine subtile Stimmung gegen Personen, die sie dem Tumblr-Liberalism zuordnet. So beobachtet z.B. Jordy Cummings dass Nagle bei Denkern, die sie schätzt, deren Titel (z.B. “Doktor” oder “Professor”) verwendet, aber bei Leuten wie Judith Butler den Titel weglässt.

Um Gamergate, eines der Initialereignisse im Entstehen der Alt-Right zu beschreiben, hält sie es doch tatsächlich für hilfreich, Folgendes zu schreiben:

“Gamergate itself kicked off when Zoe Quinn created a video game called Depression Quest, which even to a nongamer like me looked like a terrible game featuring many of the fragility and mental illness-fetishizing characteristics of the kind of feminism that has emerged online in recent years. It was the kind of game, about depression, that would have worked as a perfect parody of everything the gamergaters hated about SJWs (social justice warriors).
Nevertheless, her dreadful game got positive reviews from politically sympathetic indie games journalists, which turned into a kind of catalyst for the whole gamergate saga.”

Das sei auch mal deswegen in dieser Länge zitiert, damit ihr einen Geschmack von ihrem Stil bekommt. Wie Noah Berlatsky dazu anmerkt: Kein Wort darüber, dass Zoe Quinn selbst unter Depression litt, und dass die Tatsache, dass ihr Spiel sich um Traurigkeit und Zerbrechlichkeit dreht – und damit weiblich kodiert ist – einer der Hauptgründe war, warum sie dem Gamergate-Mob so ein willkommenes Opfer war (Quinn war eine der Frauen, die im Rahmen von Gamergate unter den massivsten misogynen Attacken zu leiden hatte).

An manchen Stellen, an denen Nagle so verächtlich über das offene Zeigen von Verletzlichkeit schreibt, wartete ich fast drauf, dass sie selbst gleich die Beschimpfung “snowflakes” verwendet. Wenn sie über die vermeintliche Schwäche einer Frau wie Zoe Quinn schreibt, die sich über Jahre hinweg mit Mord- und Vergewaltigungsdrohungen und dem Ausbreiten privater Details in der Öffentlichkeit herumschlagen musste, erschreibt sich Nagle dabei gleichzeitig implizit selbst als tough-minded Kritikerin von Feminismus und jedes Zeigens von Verletzbarkeit, und: als sehr konservativ, was Gender Politics angeht.

Sie beschreibt die Hässlichkeit rechter Propaganda im Netz schon deutlich, aber es klingt immer wieder durch, dass sie einen Tick zu viel Verständnis für die Alt-Right und Sexisten der Manosphere hat. So zum Beispiel wenn sie über die Wurzeln der Incels schreibt. In ihrem Kapitel über die Manosphere übernimmt sie unkritisch die Theorie der Incels, dass die sexuelle Revolution zu einer “steilen sexuellen Hierarchie” geführt habe und beschreibt den Rückgang von Monogamie ebenso unkritisch als Ursache für eine “Hackordnung” unter Männern, wie Donald Parkinson aufgefallen ist: “Die Idee, dass diese Männer einfach keinen Sex abkriegen und deswegen dazu verdammt sind, so reaktionär zu sein, nährt perfekt die Ideologie von Reddit Incels.” Es wundert kaum, dass Nagle auch Jordan Peterson nicht besonders kritisch sieht, der ja vergangenes Jahr mal Monogamiezwang als Lösung für misogyne Gewalt vorgeschlagen hat. Auch Jonathan Haidt feiert sie natürlich ab.

Was ich dem Büchlein zu gute halten ist, ist, dass es viele Subszenen dessen, wie sich die rechte US-Szene online darstellt, und ein paar feine Unterscheidungen vorstellt, aber das haben andere auch schon geleistet, und sachlicher. Nagles nerdige Faszination hat Schlagseite. Sie geht ellenlang auf Pat Buchanan und Milo Yiannopolous ein, zitiert diese auch wörtlich und übernimmt deren Thesen über einen angeblichen Autoritarismus der Linken, aber ihre Darstellung der Linken? Wow. Da erschreibt sie durch grobe Vereinfachungen und durch stimmungsmachende Beschreibung, wie zum Beispiel die (Vokabeln wie ”hysterisch”, “empfindlich”, “absurd” fallen immer wieder; sie nutzt die durch Feminisierung abwertende Sprache, die auch die Alt-Right nutzt) und durch Auslassungen überhaupt erst das undifferenzierte und unzutreffende Bild einer geschlossenen, allgegenwärtigen hypersensiblen PC-Zensur-“Linken”, das sie für ihre These braucht.

Konstruktion und Dämonisierung einer imaginären Linken: “Tumblr Liberalism”

Eine solche Auslassung ist es zum Beispiel, wenn sie, um die “Linke” als anti-free speech Bewegung darzustellen, die Proteste anlässlich des Besuchs von Milo “Feminism is cancer” Yiannopolous in Berkeley nur als Angriffe auf Redefreiheit beschreibt, aber mit keinem Wort erwähnt, dass der wichtigste Grund dafür, dass die Proteste so drastisch ausfielen, der war, dass Yiannopolous angekündigt hatte, dass er in seiner Rede Immigrant*innen ohne Papiere namentlich outen und so der Abschiebung preisgeben wollte, und er seine Fans aufrief, es ihm gleichzutun. Ein Angriff auf die Verletztlichsten unserer Gesellschaft, wie Andrew Stewart schreibt, und sich dem radikal entgegenzustellen, sich für diese konkret bedrohten Menschen einzusetzen, war das Anliegen der Protestierenden. Das in ihrer Beschreibung der Ereignisse einfach wegzulassen, ist schlicht verfälschend. Angela Nagle stellt sich hier auf die Seite eines Free Speech Absolutismus, und schlimmer noch: obwohl es auch ein Kernthema der rechten Propaganda ist, setzt sie ihre Haltung als Status Quo, und Gründe dagegen interessieren sie nicht. Es gibt noch weitere Beispiele, wie Nagle Campus-Konflikte einseitig und mit Auslassungen arbeitend darstellt, um sie als “anti-free spech” Zensur statt als politischen Protest darzustellen. Diese könnt ihr z.B. in Richard Seymours “The negative dialectics of moralism” finden.

So wie sie hier die komplexeren Hintergründe weglässt, geht Nagle auch vor, wenn sie progressive linke Ansätze, auf Diskriminierungspolitik im Alltag fokussierte Identitätspolitics und neoliberale Diversity-Ansätze und viele mehr einfach in einen Topf wirft und einen “Tumblr Liberalism” daraus konstruiert: Sie beschreibt ihn nur aus – meist verkürzt dargestellten – Extrembeispielen heraus: hyperempfindliche Call-Out Culture ist ihr Lieblingspunkt, ohne dass sie belegen kann, dass das tatsächlich den Großteil der Online-Linken prägt, und dass es sich nicht nur um einen kleinen, nicht repräsentativen, aber halt sehr lauten Teil handelt. Alltägliche Diskriminierungserfahrungen, die oft selbst in progressiven linken Kreisen ignoriert wurden, und aus denen heraus ”Identitätspolitics” entstanden, werden nicht erwähnt. Der nebulöse Tumblr-Liberalism erscheint aus einer emotionalisierten irrationalen Empfindsamkeit heraus geboren, die sie bestenfalls schlampig irgendwie auf Ideale der Hippiebewegung, die Mainstream geworden seien, zurückführt, dabei Rassismus, Antisemitismus, Ableismus u.ä. außen vor lassend.

Ich finde es faszinierend, wie Nagle sich selbst, wie gesagt, in Kill All Normies als empathiefreie Vernunft, eine Art Common Sense des Bothsideism, erschreibt, dabei implizit eine Leserschaft anvisierend, die sich selbst so sieht, als neutrale Position, eine Leserschaft, die sich höchstens wenig mit Diskriminierungserfahrungen auseinandersetzen muss und will. Sich als neutrale Position zu setzen, eine solche Anmaßung der Objektivät, ist leider ein häufiger Move, mit dem sich die bürgerliche Mitte als neutrale Stelle zu setzen, und weiße westliche Philosophie ihrer eigenen Verflechtung in Machtverhältnisse und Diskriminierungsgeschichte zu entziehen versucht. Anyway.

Noch ein Beispiel dafür, wie Nagle ihr linkes Feindbild konstruiert, ist ihr Lächerlichmachen von Ideen der Gender Theories, dem sie viel Raum gibt. Dass sie gleich zwei Seiten ihres auf mehreren Ebenen dünnen Büchleins einer Liste von Genderbegriffen von “gender-bending Tumblr users” widmet, spricht allein schon Bände: Es signalisiert ein “schaut euch diese Spinner an!” an die Leserschaft. Diese Liste als angeblich repräsentatives Beispiel zu setzen, ist hanebüchen. Da es keine Quellenangaben gibt und Nagle auf eine Anfrage nicht reagierte, haben Libcom auch hier selbst recherchiert und Nagle dürfte die Liste entweder von einer im Kontext von Gender-Tumblr klar als “list of poorly-attested nonbinary identities” bezeichneten Liste haben, oder von einem Alt-Right Forumthread, in dem sich User über die Liste lustig machten. Andere Quellen sind im Netz dazu nicht zu finden.

Ein weiteres Beispiel wäre ihr empathieloser Spott über Spoonies, eine Bezeichnung für Menschen, die mit einer chronischen Krankheit leben, meist mit Fokus auf jene, deren Krankheiten ihnen nicht anzusehen sind, und Menschen mit chronischen Schmerzen. Wer mehr dazu wissen möchte, z.B. Amanda Hess hat darüber geschrieben, wie sich unter dem Spoonie-Begriff auf Social Media Menschen gegenseitig austauschen und unterstützen, die oft niemanden sonst kennen, der ihre Erfahrungen als Crohn- oder Lupus-Kranke nachvollziehen kann. Wo früher nur offline Selbsthilfegruppen solche Austauschmöglichkeiten boten, ist das heute online leichter geworden und es wird offensiver damit umgegangen statt die Krankheit voll Scham zu verstecken. Aus der Not wird eine eigene Subkultur gemacht und der Löffel wurde zum Symbol auf Tassen, Schmuck oder Shirts, an dem man sich leicht gegenseitig wiedererkennt – wie oft in der Geschichte von gesellschaftlich Marginalisierten.

Nagle schreibt nichts über die positiven Aspekte, sondern stellt es lediglich als einen “cult of suffering, weakness and vulnerability” dar, deutet sogar an, dass die Krankheiten erfunden seien, wieder alles in negativer Extremform: “Young women, very often also identifying as intersectional feminists and radicals, displayed their spoonie identity and lashed out at anyone for not reacting appropriately to their under-recognized, undiagnosed or undiagnosable invisible illnesses or for lacking sensitivity to their other identities.” Irgendwie klingt sie echt oft wie so ein alter verbitterter Mann, der die Jugend von heute nicht packt. Oder wie Josh Davies etwas sachlicher feststellt: ”Nagles Fokus darauf wie Sachen gesagt werden, und ihr Widerwille, über die Politik und die Prozesse hinter dem, was gesagt wird, nachzudenken, führen dazu, dass sie anscheinend eine ähnliche Haltung zu Gender annimmt wie jene vieler Konservativer, die sie eigentlich kritisch sieht: Gender-Nichtkonformität ist etwas Fremdes, Esoterisches und Frivoles. So wie ihr Argument hier präsentiert wird, unterscheidet es sich kaum vom transphoben “I sexually identify as an attack helicopter” Meme, das quer durch’s Internet von edgy Verteidigern der Heteronormativität immer wieder hochgewürgt wird.”

Donald Parkinson weist darauf hin, dass Fans des Buches auf negative Reaktionen auf Kill All Normies aus der Ecke, die sie als “Social Justice Tumblr und Twitter” bezeichnen, reagieren, als wäre deren Kritik ein Beweis dafür, wie “empfindlich” und “hysterisch” diese Leute seien. “Was es aber tatsächlich beweist, ist, dass Linke keine Fans von konservativer Genderpolitik und dem Verspotten von Menschen mit Behinderung sind, was stimmt und womit sie auch recht haben. Der Grund dafür, warum Tumblr ID Politics existieren, ist, dass Leute tatsächliche Unterdrückung in ihren alltäglichen Leben erfahren, und ein Mangel an kollektiven Lösungen führt Menschen zu individualistischen Methoden, das zu bewältigen.”

Dass Teile dieser Kultur auch toxische Züge aufweisen, mit Gängelungen bestimmter Ansichten und Shaming und Call Out Culture, mag nicht von der Hand zu weisen sein, aber erstens gibt es negative Extreme auch bei jeder anderen politischen Kultur, wo sie nicht mit einer solchen Gehässigkeit kritisiert werden, die mich automatisch fragen lässt, worum es dieser Kritik eigentlich geht. Und zweitens: Den rechten Mythos zu übernehmen, dass es sich dabei um ‘die herrschende Elite’ handle und die Rechten quasi nur aus Notwehr so radikal würden, verkennt komplett, dass – so auch Donald Parkinson – es schon immer eine Taktik der Rechten war, sich auf Extremfälle zu berufen um progressive linke Anliegen zu dämonisieren.

Der Rechten in die Hände spielend, die damit einen Haken in die Mitte der Gesellschaft auswirft, übernimmt Nagle deren Jargon und Argumentation viel zu oft blindlings, noch mal ein Auszug aus Kill All Normies:

“This anti-free speech, anti-free thought, anti-intellectual online movement, which has substituted politics with neuroses, can’t be separated from the real-life scenes millions saw online of college campuses, in which to be on the right was made something exciting, fun and courageous for the first time since… well, possibly ever. When Milo challenged his protesters to argue with him countless times on his tour, he knew that they not only wouldn’t, but also that they couldn’t. They come from an utterly intellectually shut-down world of Tumblr and trigger warnings, and the purging of dissent in which they have only learned to recite jargon.”

Ist das noch ‘rationale’ Kritik an links, oder schon Werbung für die Alt-Right?

Was bei Nagle keine Erwähnung findet, ist die Diversität der linken und linksliberalen Gruppierungen, sind die zahlreichen, ausführlichen und kontroversen Diskussionen, die typisch für die meisten linken Online-Subkulturpraxis sind, und aus denen sich Ansätze immer wieder weiterentwickeln. Außerdem “on the Internet, nobody knows you’re a dog”: Es wird auch nicht erwähnt, dass hier, wenn auch wahrscheinlich keine Hunde, so doch teilweise Kids unterwegs sind, die Fanfic und Memes mit politischem Herumtheoretisieren vermengen, teilweise Selbsthilfegruppen sich gegenseitig mit ihren Problemen helfen wollen, teilweise Lai*innen ohne akademische Bildung versuchen, sich mit komplexen Theorien auseinanderzusetzen und aus ihnen Hilfe für eine politische Praxis im konkreten Alltag zu ziehen, und so weiter und das alles steht neben akademischen politischen Diskussionen und all das wird bei ihr gleichgemacht und erscheint bei ihr als eine Art völlig homogener dogmatisch-festgefahrener irrationaler Tribalismus, ein linkes Feindbild. Bei Nagle fällt sogar auch Hilary Clinton drunter, weil sie im Wahlkampf Begriffe wie “check your privilege” verwendet hat.

Dass Neoliberale viele progressive, konstruktive und nuancierte Ansätze kommodifiziert haben, und sie dabei auf Schlagworte verkürzt haben, wie im Marketing von Parteienpolitik bis zu Produkten, heißt nicht, dass diese Ansätze in ihrer radikaleren Form nicht berechtigt und sinnvoll sein könnten – es lohnt sich, zu differenzieren. Linke zeichnet es ja aus, dass ein Hive Mind immer wieder reflektiert, diskutiert, kritisiert, verwirft und weiterentwickelt, wie eine bessere Zukunft für alle erreicht werden könnte. Und ein klassenbasierter intersektionaler Feminismus zum Beispiel, der wie Andrew Stewart auch ganz richtig bemerkt, eine effektive Opposition zur Alt-Right sein kann, wird bei Nagle auch mit keinem Wort erwähnt.

Noch mal Josh Davies dazu: “Nagles pauschale Verallgemeinerungen verschleiern nicht nur ihre Unterschiede, sondern machen jegliche Auseinandersetzung mit der Geschichte und den politischen Ansätzen all der Bestandteile des amorphen ‘Tumblr Liberalism” unmöglich. Für ein Buch, dass sich so sehr auf die angebliche Unfähigkeit der Linken fokussiert, Ideen zu generieren und zu hinterfragen, liest es sich oft wie eine Einladung, nicht zu denken.

Ich musste bei diesem Buch oft an die (fast hätte ich “umstrittene” geschrieben! ^^) Essay-Sammlung Beißreflexe denken, und mir kam jetzt beim Schreiben in den Kopf: Eigentlich ließe sich Kill All Normies ganz wunderbar entlang der sieben Punkte durchanalysieren, die Floris Biskamp in der ultimativen Beißreflexe-Besprechung ausführt: Die Verallgemeinerung von Besonderem, alarmistische Übertreibung, die Effekte der Vereinheitlichung, unsichtbare Macht und ignorierte Handlungsfähigkeit, unverstandene Privilegienkritik, verdrängte Rassismuskritik, die Pathologisierung der Anderen. Zeit dafür, das im Detail auszuführen, habe ich leider nicht, aber es ist erstaunlich, wie diese Kritikpunkte auch auf Kill All Normies passen.

Begrenzter und Selbstinszenierung übernehmender statt kritisch und historisch einordnender Blick auf die Alt-Right

Nagle hat nach Kill All Normies inzwischen auch einen Text namens ‘The Left case against Open Borders’ veröffentlicht, in dem sie die Working Class gegen Immigrant*innen ausspielt und die linke Idee von Globalisierung mit deren neoliberalem Zerrspiegel gleichsetzt. (Den Gegensatz haben immer noch die Goldenen Zitronen am besten poetisiert auf den Punkt gebracht: “Über euer scheiß Mittelmeer käm’ ich, wenn ich ein Turnschuh wär’.”) Mit diesem Text hat sich Nagle dann auch von dem Weißnationalisten Tucker Carlson in einem Interview in dessen Show instrumentalisieren und feiern lassen. Ich weiß nicht, ob sie so naiv oder so ignorant ist, die rassistische, antisemitische, sexistische und nativistische Ideologie der Rechten nicht ernst zu nehmen, oder ob sie schlicht nichts dagegen hat, ihnen in die Hände zu spielen, Querfront quasi.

Auch Kill All Normies bekleckert sich hier nicht mit Ruhm. Es fehlt das Thema Rassismus, es fehlt auch die Verbindung zu älteren Trends der englischsprachigen Rechten, wie z.B. English Defence League oder National Action, kritisiert Jules Joanne Gleeson. Ebenso fehlt ein Aufzeigen der Vernetzung der Alt-Right über geographische Grenzen hinweg, zu Gruppen wie Griechenlands Golden Dawn oder Frankreichs Génération Identitaire, was ist mit internationalen Verknüpfungen zu Putins sogenannter Trollarmee oder dem Erfolg von Hindutva? Was ist mit Überschneidungen zum Counter-Jihad Movement, das sich auch stark online aktiv war? Und Gleeson bemängelt explizit: “Unglücklicherweise ist eines der anderen größten Versäumnisse des Buches das Fehlen einer dezidierten Behandlung von Antisemitismus.” Sie kommt darüberhinaus zum Schluss: “Nagle verlässt sich auf ein Schema, das von der Alt-Right selbst produziert wurde: der Trennung der richtigen Alt-Right (Hardcore Nationalsozialisten und White Supremacists) und Alt-Light (die größtenteils offensichtlichen Rassismus vermeiden, und stattdessen einen ‘zivilisierteren’ westlichen Chauvinismus einsetzen). Nagle entgeht es, zu bemerken wie diese Unterscheidung von der Alt-Right selbst instrumentalisiert eingesetzt geworden ist.

Sie analysiert die Taktiken der Alt-Right nicht als solche, und zeigt nicht auf, dass neben einem Dämonisieren von Gender Theories und Feminismus, von linker Kritik als Zensur, auch ein großes Propagandathema z.B. der Versuch der Alt-Right ist, ein Revival der amerikanischen Kommunismuspanik zu schüren, sowohl über das Aufkochen der antisemitistisch konnotierten Hetze gegen einen “Kulturmarxismus” oder direkt als Angst vor einer kommunistischen Revolution, als Red Scare Revival, worüber z.B. Jack Smith IV schrieb. Das ist auch weder neu noch internetspezifisch, sondern sollte historisch eingeordnet werden. Wie Smith IV feststellt: “Die Rhetorik ist antiquiert, aber der Zweck bleibt derselbe: Protest als Subversion darzustellen, den Kampf für Bürgerrechte zu unterhöhlen und die Linke davon abzuhalten, die Grenzen dessen zu erweitern, was in Amerika möglich ist, indem sie die Grenzen dessen überwacht, was es bedeutet ein Ameriker zu sein.”

Es ist bemerkenswert, dass, so Donald Parkinson, Nagle letztlich in ihrer Version davon, wie es zur Alt-Right kam, eine Herangehensweise nutzt, die viel mehr mit “liberal” Kulturtheorien gemein hat, als mit dem materialistischen Ansatz, den sie sich gerne selbst unterstellt. Es bleibt in Kill All Normies bei einer Analyse entlang ihrer Transgressionstheorie, es geht nicht um Klasse und Ökonomie. (Das verleiht auch der Vorliebe der linken Materialismus-Ecke für Nagles Buch eine gewisse Ironie.) Nagles Auseinandersetzung bleibt auf Online-Diskurse beschränkt und – so auch Donald Parkinson – Nagles Hauptproblem mit den Identitätspolitics des Tumblr-Liberalismus ist durch’s ganze Buch hindurch deren “Überempfindlichkeit” und “Extremismus” und nicht, dass sich damit Ausbeutung und Unterdrückung nicht adäquat ansprechen lassen würden.

Digital Dualism und fehlende Analyse der digitalen Mechanismen

Die Beschränkung ihrer Betrachtungen auf Onlinepräsenz (und Marketingstunts) führt Nagle zu Kapitelüberschriften wie “The joke isn’t funny any more – the culture war goes offline”. Sie scheint ganz im Denken des Digitalen Dualismus zu stecken, zwischen “realer” Offlinewelt und “virtueller” Onlinewelt zu trennen, wenn sie Formulierungen verwendet wie “spills into real life”. Erst war die “leaderless internet revolution”, dann die “identity politics” und als Antwort darauf der “irreverent trolling style associated with 4chan” und dann war das Netz so voll, dass es überlief und aus Tumblr auf den Campus floss usw. Vielleicht sollte einfach wer einen Stöpsel in die rechten Teile des Internets machen, und der ganze rechte Hass bliebe drin.

Da Nagle das Offlinewirken der Rechten ignoriert, übersieht sie wichtige Zusammenhänge und unterschätzt deren Gefährlichkeit und Wirkzusammenhänge. Donald Parkinson weist auf diese Schwäche von Kill All Normies hin: “Ideologen wie Richard Spencer und Kevin MacDonadl haben ihre Think Tanks und Affinity Groups schon seit einiger Zeit, und wie die Ereignisse von Charlottesville zeigen, sind sie gewillt, ihre Ideen ‘auf die Straße’ zu tragen. Es gibt einen Mangel an Informationen über die Alt-Right wie sie [offline] existiert. … Es wird nichts über die Anstrengungen von White Supremacist-Organisatoren wie Identity Europa oder Traditionalist Workers Party geschrieben, Studentenverbindungen und Arbeiter im ländlichen Raum zu organisieren, oder darüber, was für Visionen diese Gruppen haben (eine Balkanisierung der Vereinigten Staaten und die Erschaffung eines komplett weißen ‘Ethno-Staats’ ist eine gängige davon). Stattdessen präsentiert Nagle die Alt-Right nur als ein Onlinephänomen, obwohl diese Leute diese Politik schon seit Jahren promotet haben.”

Vielleicht ist es das Fehlen dieses breiteren Kontexts, der Nagle auch vernachlässigen lässt, wie taktisch die Anwerbung und Radikalisierung der Rechten online angelegt ist. Sie ist eben nicht einfach nur ein reflexhaftes Reagieren auf “politically correctness gone mad”. Selbst wenn ich darüber hinwegsehen würde, dass sie keinen Bezug zu Offline-Organisation und Offline-Wirken rechter Gruppierungen herstellt, würde ich von einem Buch, das sich in seiner Analyse auf Onlinediskurse beschränkt, doch auch wenigstens ein Kapitelchen zu dem Thema erwarten, was Aufmerksamkeitsökonomie, Social Metrics, Viralität usw., also was die spezifischen Strukturen und Mechanismen der gängigen Plattformen für Onlinekommunikation und -vernetzung zu Extremisierung beitragen. Dieses Thema findet auch keinen Raum in Kill All Normies.

Wen das interessiert, hier zwei Lesetipps (das copy+paste ich hier mal aus meinem Matrix und die Manosphere-Vortragsskript rein), aber Content Warning: Ist beides nicht so reißerisch geschrieben wie Kill All Normies:

1.) Julia Ebner zählt in ihrem Essay “Counter-Creativity” in Sociotechnical Change from Alt-Right to Alt-Tech drei taktische Ziele auf:

  • Radikalisierungskampagnen die an mögliche Sympathisanten gerichtet sind,
  • Manipulationskampagnen, die auf den gesellschaftlichen Mainstream gerichtet sind, und
  • Einschüchterungskampagnen, die politische Opponent*innen absehen.

In den rechten sozialen Netzwerken werden Anleitungen geteilt, strategische Dokumente, in denen erklärt wird, wie man Gespräche anfangen kann, Vertrauen aufbaut, weitverbreitete Missstände ausnutzen kann und wie man die Sprache auf die Person zuschneidert, der man seine Ideologie nahezubringen versucht.

2.) Alice Marwick und Rebecca Lewis erklären in ihrem hervorragenden Reader Media Manipulation and Disinformation Online, wie ein Amalgam aus Verschwörungstheoretikern, Tech-Libertären, weißen Nationalisten, Männerrechtlern, Trollen, Anti-Feministen, Anti-Immigrations-Aktivisten, und gelangweilten jungen Leuten die Techniken der partizapatorischen Kultur und den Angriffspunkten von Social Media einsetzen um ihre Überzeugungen zu verbreiten. Sie nutzen die Möglichkeiten, die ein wegen Werbungsfinanziertheit auf Aufmerksamkeitsökonomie hin strukturiertes Internet bietet, um gezielt Schwächen im Newsmedienökosystem auszunutzen. Da wird sich dann auch alles mögliche von Marketing- und Medientheorie Texten bis zu CIA-Trainingsmaterial geteilt.

(Wer mehr dazu hören statt lesen will, kann gerne zu meinem nächsten Vortragstermin von “Matrix und die Manosphere – verletzte und vernetzte Männlichkeit als Einstieg zur Radikalisierung nach Rechts” kommen: 28.3. in der Kantine Nürnberg, Eintritt ist frei.)

Aber zurück zum Thema: Kurz, wie Richard Seymour schreibt: “Was bestimmt nicht gebraucht wird, sind die zunehmend abgedroschenen Angriffe auf den Strohmann ‘Identitätspolitik’, sondern … was gebraucht wird, ist ein Bericht darüber, wie Aufmerksamkeit gewonnen, erhalten, gekauft und verkauft wird; wie Onlinepolattformen strukturiert sind und in ihren Effekten auf Nutzer*innen strukturierend wirken; wie existierende soziale und kulturelle Tendenzen von diesen Technologien ausgewählt und akzentuiert werden… Was dieses Buch liefert, ist, traurigerweise, ein Kreis um die gewohnte, schon gut ausgetretene Terrain, nicht nur was seine Theorie anbelangt, sondern auch was sein unreflektiertes ‘Backlash’ anti-moralisierendes Moralisieren betrifft. Es erhält die Dynamiken aufrecht, die es zu sezieren behauptet, Gezeter und Beschämen.”

Transgression in der bürgerlichen Mitte und deren Faszinationsproblem mit der neuen Rechten

Der zentrale Punkt, den Nagle machen will, ist, dass die Kultur der Grenzüberschreitung, der Transgression, die lange Zeit ein typisch linkes Mittel war, heute von rechts gekapert worden ist. Sie begründet das wie gesagt damit, dass die Mainstreamkultur so eine Art Political-Correctness-Gone-Mad eines von ihr konstruierten Tumblr-Liberalismus sei und dass darauf eben viele, die sich das nicht gefallen lassen wollen, mit einem Anti-Politische-Korrektheit-Move reagierten und sich zu Rechten radikalisierten.

Gegenkultur, Nonkonformistisches, die ganze Idee kleiner Subkulturen mit ihren Codes ist Nagle spürbar zuwider. Das trieft aus jeder Pore dieses Buchs. Bei Neocons gerät sie dagegen fast ins Schwärmen “intellectually equipped and rhetorically gifted”, “smart”, das sind Vokabeln für diese, und Milo Yiannopolous ist eine Figur, die sie sichtlich sehr fasziniert (satte 71 mal wird er auf den 247 Seiten erwähnt, und letztlich ist ihr Bild der Alt-Right auch schlicht von seinem vor ein paar Jahren erschienenen Definitionstext dazu auf Breitbart übernommen).

Nagles Ablehnung fußt unter anderem darauf, dass transgressive Kultur nicht populär, nicht für die Massen, sondern inhärent elitär sei und gegen die Working Class arbeite. Jordy Cummings empfiehlt als Entkräftung die Lektüre von Brian Palmers Cultures of Darkness: “Palmer erklärt, mit enormem und namhaftem Backing, dass es genau in den transgressiven Räumen war, – von prä-20.-Jahrhundert Freimaurerei bis zu langen Nächten am DJ Pult, von Kink Culture bis zu Tarotkarten, von spätnächtlichen Gewerkschaftsbeisammensein und betrunkener, zugekiffter Ausgelassenheit – wo die revolutionären und emanzipatorischen Ideale geformt wurden, durch aufrichtige Freundschaftlichkeit, die über den Versammlungsraum und den Streikposten hinausging. … durch die Geschichte des Kapitalismus und seine begleitende Geschichte des Arbeitskampfes würde man sich hart tun, auch nur eine soziale Bewegung gegen kapitalistische Sozialverhältnisse zu finden, ohne dass diese in irgendeiner Form in transgressiver Gegenkultur wurzelte.“ Die Verbundenheit stärkende und ermutigende Kraft, die darin steckt, wird oft in der Kritik als bloße “Identitätspolitik” gebrandmarkt und verkannt.

Und, das hier mal am Rande festgehalten: Bei aller zum Teil verständlicher Kritik an überzogenen Aspekten der sog. Identity Politics: Nötig sind sie geworden, weil die Probleme von Marginalisierten immer nur der “Nebenwiderspruch” blieben und diskriminierende Strukturen auch innerhalb der Linken aufrechterhalten wurden und werden. Linker Tumblr-Queerfeminism-&-Crip-&-Spoonie-Politics usw hat vielen heutzutage überhaupt erst Politik wieder als etwas eröffnet, das ihren Alltag betrifft und das sie aktiv mitformen können. Er hat vielen, die auch in linken Szenen marginalisiert waren, Räume zum Mitreden und zur Beteiligung eröffnet. Das ist etwas, was die ganzen weiß/cis-männlich/heterosexuell/able-bodied-dominierten Politzirkel nicht geschafft haben, in ihren um sich selbst kreisenden endlosen komplexen und abgeschotteten Theoriediskussionen oder in ihren Folk Politics rund um die Arbeiterrevolution. Diese Lust auf politische Beteiligung gilt es doch bitteschön dankbar aufzunehmen, freundschaftlich zu diskutieren, weiterzuentwickeln, sich einander anzunähern und zu ermutigen, und nicht sarkastisch zu bashen!

Aber zurück zur Transgression: Ich würde hier mal gerne wild herummeinen, dass das Problem nicht die Transgression als Kulturtechnik einer wie auch immer gearteten Linken war, genau so wenig, wie die Rechten der neue Punk sind, sondern dass die neoliberale bürgerliche Mitte Transgressionskultur aufgegriffen und zum Mainstream gemacht hat, einhergehend mit einer Radikalisierung des Kapitalismus.

Grenzen überschreiten, Ironie, Tabubruch – dass das zum Mainstream geworden ist, von Politik, Brands, Medien und Marketing verwendet wird, bis die zynischen Grenzen des Sagbaren und Zeigbaren so weit offen waren, dass rechte Ideologie dran anknüpfen konnte, weil niemand mehr nichts als “krass” oder “überraschend” empfindet, scheint mir viel eher das Problem zu sein. “Disrupt Everything” als gesellschaftlicher, als sozialer Konsens. Enttabuisierung und Entsolidarisierung sind Mainstream. Diese Radikalisierung machte alles sagbar, jede Kritik wird mit Free-Speech-Absolutismus gekontert. Über “Deutschland den Deutschen” diskutieren (z.B. “hart aber fair” TV am 25.2.), das wird man ja wohl senden dürfen! Die passende Kultur zur Mainstreamtransgression ist nicht, dass in einem kleinen Jugendzentrum eine Gruppe Queers keine Weißen mit Dreadlocks in ihrer Bastelrunde aufnehmen will, es sind auch nicht “I’m drinking male tears”-Memes von weißen Feminist*innen der Medien- oder Kreativen Klasse, nein, die Kultur dazu ist das hemmungslose Shaming und Stigmatisieren von Menschengruppen in Talkshows und Boulevardmagazinen, die endlosen Shows und Artikel, die Frauen oder Arme “verbessern” oder lächerlich machen, Stigmatisierung von Hartzer*innen als “faul”, Darstellung junger Mütter als Freaks, Erniedrigung von Migrantinnen als “Asylbetrüger”, das Umstylen zu “richtigen Männern” in Makeover Shows, usw. Die Liste der Verlierer*innen des merokratischen Hyperkapitalismus ist endlos und hemmungslos darf über sie hergezogen werden, alles andere wäre Zensur. Die Erniedrigung von Menschen dort normalisiert die damit einhergehende Austeritätspolitik, die via Überbürokratisierung eine Erniedrigungsmaschine der ärmsten Gesellschaftsmitglieder aufgebaut hat, anstelle eines Sozialstaats. Wenn das alles nichts mit der Transgression zu tun hat, die Nagle für so zentral hält, weiß ich auch nicht.

Ich stimme soweit mit Nagle überein, dass das Problem im sog. Mainstream, der Mitte, zu finden ist, aber ich übernehme nicht das rechte Narrativ, dass “Tumblr Liberalism” das ist, was diese bürgerliche Mitte ausmacht – die Rechte ist dort ebenso präsent, und noch andere mehr. Es gibt nicht eine Elite, deren Ansichten alles beherrscht – weder eine linksgrünversiffte alles genderisierende, noch eine nativistisch-rassistisch-sexistische, sondern verschiedenste. Donald Parkinson formuliert es etwas schärfer: “Die ganze Idee einer herrschenden Elite gehört weggeworfen, denn wir leben unter der Macht einer herrschenden Klasse. Darüberhinaus, ist die herrschende Klasse nicht homogen und konkurriert mit sich selbst. Niemand kann behaupten, dass eine monolithische Ideologie der herrschenden Klasse gibt, sondern es gibt vielmehr verschiedene miteinander konkurrierende Ideologien, die oft gegensätzlich sind. So ist liberaler Multikulturalismus genau so ein Teil der herrschenden Ideologie wie White Supremacy. Die bürgerliche Gesellschaft ist kein einheitlicher Block.”

Die BILD oder Fox News existieren eben parallel zum Bento-Quiz “Heidi Klum oder Donald Trump – kannst du ihre Zitate über Frauen unterscheiden?!” (danke, Lily! >< )

Kritik an Klum verkauft sich so gut wie Klum. Sexismus verkauft sich so gut wie Anti-Sexismus. Bento und Dove sind Extremismus der Mitte. Die Vermarktung von sozialen Kämpfen, von Sozialkritik braucht immer mehr davon: Wenn ich vom Thematisieren des Elends lebe, kann ich nicht ernsthaft an kollektiven Lösungen interessiert sein, denn die Zuspitzung, das Empören, die Emotionen funktionieren viel besser. Umgekehrt aber auch: Wenn ich keine andere Hilfe erfahre, mir diese immer weiter gekürzt wird und ich mich politisch machtlos fühle, dann mache ich eben wenigstens Geld aus dem Elend und vermarkte die Diskriminierung, die ich erfahre. Patreon statt Politik, individualistischer Lebenserhalt statt soziale Revolution.

Auf die Erfahrung, dass Gegenkultur meist keine großen Veränderungen anstößt, folgte die Erfahrung der Unmöglichkeit der Gegenkultur per se durch ein alles durchdringendes Produktscouting, das jede erblühende Subszene gleich im Entstehen kappt. Wir haben eher eine Kommodifizierungs-Police als eine PC-Police amirite… Wo war ich? Ach ja, bei Nagles Kill All Normies, dem Buch, dessen Thesen von so vielen kritiklos übernommen werden, obwohl das Buch letztlich einfach das Narrativ der Rechten verstärkt, die “Culture Wars” noch mal richtig anschürt. Kein Wunder, dass es auch bei den Rechten gut ankommt: “Prominent US fascist Richard Spencer has endorsed Nagle’s book on his Instagram, noting that it “gets” his movement and that its criticisms of “the Tumblr left” are “useful”. It should go without saying that such an endorsement — for an ostensibly left wing book on left and right-wing online cultures — ought to give pause. Apparently not.” So Josh Davies.

Dass Transgression sich über eine individualisierende Disrupt-Everything und Commodify-Everything Startup Culture, die in letzter Konsequenz eine demokratische staatliche Kontrolle am liebsten komplett abschaffen würde, viel gefährlicher in den Alltag eingegraben hat, bleibt als Thema in Kill All Normies unerwähnt – passt halt nicht in’s Narrativ der Culture Wars. Ist aber halt für eine materialistische Marxistin ganz schön dünn. Donald Parkinson erwähnt zu diesem Aspekt auch die Ron Paul Anhänger: “Nagle ignoriert auch komplett die Rolle des Ron Paul Libertarismus. Jeder, der die Alt-Right versteht, weiß, dass es eine Verbindung zwischen libertärer Politik und der Alt-Right gibt, und dass viele Leute, die vom Scheitern Ron Pauls enttäuscht waren, sich der Alt-Right zuwanden. … Libertarismus, eine Ideologie, in der alle Moral auf Besitzrechten basiert, in einem Land, das auf einem Fundament aus Sklaverei und Segregation gebaut ist, zieht Rassisten an. Der Schwerpunkt, den Libertäre auf Wettbewerb legen, kann seine Anhänger dazu bringen eine Position des Sozialdarwinismus einzunehmen und Ideen zu erforschen, die mit Race Realism verbunden sind. Das schafft eine Verbindung zwischen weißen Identitären und Libertären. … Es gibt eine Sorte vulgären Positivismus’ in libertärer Ideologie, die gut zu Race Realism passt. … Märkte als demokratischer anzusehen als irgendeine staatliche Institution, der Freie-Marktliberalismus steht selbst allem kritisch gegenüber, was sich für Gleichheit und Demokratie einsetzt, und passt daher in seiner extremsten Variante gut zur Ideologie der Alt-Right.”

Für Nagle sind beides, der Tumblr Liberalismus und die 4Chan-Alt-Right letztlich der überzogene Versuch, eine Gegenkultur zu schaffen, Stichwort “transgression”, ein Aufbäumen gegen einen Common Sense Status Quo. Deswegen trennt sie auch nicht zwischen einem linken Anliegen der Solidarität und Offenheit, und einem rechten des Rassismus, Sexismus, der nativistisch-nationalistischen Abgrenzung. Nagle formuliert letztlich die klassische bürgerliche Ablehnung von Extremismen. Es ist ein zutiefst antisolidarisches Buch. Ihr Bashing ist Empathielosigkeit als Vernunft getarnt, erschreckend konservativ. Deswegen auch ihre Fokussierung auf die Effektlosigkeit von Transgression: Nichts soll von der Norm ausscheren, dann wird alles gut. Alternativen hat sie nicht parat, wie auch Josh Davies kritisiert: “Die Verweigerung zu Reflektieren wird noch dadurch verschlimmert, dass das Buch keinerlei Idee dafür aufweist, dass es überhaupt irgendetwas gibt, was getan werden könnte. Es gibt viel Kritik an den politischen Praktiken derer, die sich gegen Rechtsextreme stellen, aber keine Ansätze dafür, was Nagle stattdessen vorschlagen würde.”

Dass trotz all dieser Mängel trotzdem so viele unreflektiert Nagles Thesen übernehmen zeigt in erster Linie das, was Niklas Weber feststellte: “Wir haben ein Faszinationsproblem mit den Neurechten.”

Zwei Absagen

Ich habe gerade schweren Herzens meinen Vortrag nächste Woche im Kunsthaus und den DJ-Gig in der Roten Sonne beim vorletzten Candy Club abgesagt. Es tut mir leid für alle, die sich auf meinen Beitrag zu diesen beiden Veranstaltungen gefreut haben, aber Mademoiselle Massacre needs a break before she breaks.

Ich kämpfe seit einer Weile mit Burn Out Symptomen und wenn sowas die Form von körperlichen Symptomen annimmt, dann ist es wohl höchste Zeit, mal die Reißleine zu ziehen. Bzw. bleibt mir nicht viel anderes übrig. Ich bin ja auch alles andere als die einzige, die so etwas durchmacht, und es ist immer gleichzeitig ein zutiefst privates UND ein gesellschaftliches Problem. Self Care will not save us alone. Und ich poste das hier nicht zuletzt auch deswegen so öffentlich, um meinen klitzekleinen Beitrag zur allgemeinen Sichtbarkeit des Problems zu zollen. Wer ist schon gern schwach und unzuverlässig.

Ich hatte gehofft, wenn ich mich zu der Entscheidung, ein paar Veranstaltungen abzusagen, durchringe, würde sich das befreiend und nach Erholung anfühlen, aber gerade fühlt es sich eher nach Scheitern und Versagen an. Bescheuert, aber wahrscheinlich *normal* für jemanden, die gewohnt ist, seit Jahren eigentlich permanent mit Begeisterung mehrere Projekte parallel zu stemmen. Meine innere Fünfjährige stampft da gerade ganz schön wütend auf. Ich kann es nicht ausstehen, klein beigeben zu müssen! >< Deswegen will ich auch nicht alles absagen, sondern erst mal nur etwas Druck rausnehmen. Ich freue mich aller Kaputtheit und Traurigkeit zum Trotz auf Dancing With Tears In My Eyes heute und auf Orchid in zwei Wochen. “It’s complicated.”