Es gab nie einen Cyberspace – mein SPIEGEL Interview zu digitaler Kommunikation, Information und Vernetzung

Ich wurde vor kurzem von Susanne Weingarten für DER SPIEGEL Wissen zu allem möglichem rund um digitalisierte Kommunikation, Information und Vernetzung interviewt. Danke auch an Florian Generotzky, der mir für eine Fotosession im K4 vorbeigeschickt wurde. Macht meinereiner ja auch nicht alle Tage. 🙂

Hier blogge ich euch die ungekürzten Antworten.

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Eve Massacre, wie lange bloggen sie schon? Mit welchen Erwartungen haben Sie damals angefangen? Und haben sich diese erfüllt?

Ich habe Mitte der Nuller zu bloggen begonnen. Mein Blog war für mich sowas wie meine Schnittstelle im Netz: Onlinetagebuch, lautes Denken, meine Musik, Links zu anderen Blogs, die mir wichtig schienen – Passion, Information, Diskussion, Community Media. Mit losen Gedankenenden, die jemand anders aufnehmen kann. Letztlich eine logische Fortführung von dem, was ich offline stets an Fanzinekultur geschätzt hatte. Mir ging es dabei nie um möglichst große Reichweite und finanzielles Interesse, sondern darum, den öffentlichen Diskurs um eine Stimme vielfältiger zu machen. Meine Erwartungen in Sachen Vernetzung hat meine Art zu bloggen eigentlich immer gut erfüllt. Die Welle der Kommerzialisierung von Bloggen, habe ich stets als befremdlich empfunden, da es da meist mehr um Optimierung als um Inhalte ging.

Welche Bedeutung hat das Bloggen heute für Sie?

Leider ist viel von dem, was ich an Blogs schätzte, vor allem die dezentrale gegenseitige Vernetzung und Diskussion inzwischen an Facebook gewichen, aber das Bloggen ist nach wie vor für mich eine wichtige Art, meine Gedanken zu einem Thema oder einem Zeitpunkt oder zu einer Geschichte zu sammeln, zu fokussieren und sie so mit anderen zu teilen.

Wie hat sich Ihr Leben durch Ihre Präsenz im Netz verändert?

Meine Präsenz im Netz hat für mich schon immer eine grundlegende Erweiterung meiner Möglichkeiten, meines Horizonts und meiner ganzen Identität bedeutet. Die Möglichkeit, sich über geographische Grenzen hinweg mit Menschen, die ähnliche Interessen haben, lose zu vernetzen, seinen Blick auf die Welt in Form von Fotos oder getippten Gedanken mit anderen schnell teilen zu können, und auch der granulare Blick auf die Gesellschaft, also dass eine unglaubliche Vielfalt an Stimmen hörbar geworden ist – das hat eine ganz neue Art zu Denken und der Identitätsstiftung mit sich gebracht. Das geographische Umfeld verliert an prägender Bedeutung, du bist weniger in deine Umgebung geworfen.

Viele Menschen unterscheiden zwischen ihrem „echten“, sprich analogen Leben einerseits und ihren Aktivitäten online, etwa Facebook, auf der anderen Seite. Halten Sie das für sinnvoll und richtig?

Im Gegenteil, ich halte das für ein grundlegend falsches Verständnis, aus dem viele Probleme entstanden sind. Dadurch dass jahrzehntelang vom Cyberspace geredet wurde, hat sich in vielen Köpfen ein Bild gefestigt, dass es ein virtueller Ort sei, an dem du dich der eigentlichen Realität entziehst. Von dieser Wildwestfantasie profitieren heute noch die meisten großen Digitalplattformen, seien es Facebook und Twitter, oder AirBnB und Uber: als ob dort ein neues “Gebiet” in Beschlag genommen würde, in dem sich erst mal der Gesetzgebung und Arbeitsrecht der Offlinewelt entzogen werden kann. Dass das so gut funktioniert schiebe ich zu einem großen Teil auf dieses falsche Denken in analoge vs virtuelle Welt. Online und offline sind zutiefst ineinander verwoben, und das zieht sich bis in unser Denken. Die Möglichkeiten der digitalen Revolution sind auch in unserem Kopf, wenn wir offline sind. Das ist nicht mehr zu trennen.

Social-Media-Plattformen wie Facebook und Twitter wurden anfangs bejubelt als Foren, in denen alle gleichermaßen Gehör finden können. Wo sehen Sie die größten gesellschaftlichen Chancen und Möglichkeiten von sozialen Medien? Wo die größten Risiken?

Die positiven und negativen Möglichkeiten liegen oft in denselben verstärkenden Mechanismen: Facebook bietet inzwischen großartige Möglichkeiten, sich in privaten Groups zu organisieren. Das kann für schnelle unbürokratische Flüchtlingshilfe genauso nützlich sein wie für den Hassmob der vorm Flüchtlingsheim steht. Facebook bietet Medien die Möglichkeit, ihren Journalismus gezielter an die Menschen zu bringen, gräbt ihm aber gleichzeitig die Existenzgrundlage (z.B. direkte Kundenbindung und Werbefinanzierung) ab, ohne jegliche redaktionelle Verantwortung zu übernehmen. Twitter-Hashtags ermöglichen die Sichtbarmachung eines Randgruppenproblems, aber sie vereinfachen es auch Rassist*innen und Sexist*innen ihre Opfer zu finden.

Ich sehe nach wie vor eine wichtige Rolle von sozialen Plattformen in ihrer verstärkenden Funktion, allerdings nicht unkritisch, da es keine neutralen Plattformen sind. Die gefilterte Timeline, die eigenen Hausregeln (z.B. Realnamenpflicht auf Facebook), schlechte Umsetzung von Communitystandards, die Gamifizierung von Sozialem – das alles halte ich für durchaus problematisch, wenn eine Plattform wie Facebook eine so zentrale monopolistische Rolle spielt. Wenn früher ein Messageboard seine eigenen Regeln gemacht hat, hatte ich kein Problem mit der Haltung “wenn’s dir nicht passt, dann geh halt”. Facebook ist inzwischen gesellschaftlich an einem Punkt, dass es viele sich beruflich und sozial und vom Informationszugang her nicht mehr so einfach erlauben können, dort nicht präsent zu sein. Dazu kommt wie bereits erwähnt, dass uns digitale Plattformen auch prägen, wenn wir sie nicht benutzen. Zum Beispiel, dass manche ihre Erfahrungen schon ganz automatisch danach scannen, ob etwas dabei ist, was sich zu posten lohnt. Nathan Jurgenson hat das mit dem Bild vom “camera eye” erklärt: Eine Fotografin sieht auch, wenn sie gerade keine Kamera dabei hat, ihre Umgebung in möglichen Bildausschnitten und hat ein geschärftes Auge für Lichteinfall. Ähnlich prägt uns die Nutzung von anderen Technologien, und nichts anderes ist so eine Social Media Plattform ja.

Wenn Facebook nur in Form eines sozialen Netzwerks so eine zentrale Rolle spielen würde, hätte ich weniger Bauchgrummeln dabei, aber wenn eine so intransparent fungierende Plattform auch noch der zentrale Punkt ist, über den viele Menschen Zugang zu Journalismus und zu Informationen von staatlichen Organisationen usw. bekommen, dann finde ich es gefährlich. Facebook strukturiert was Menschen zu sehen bekommen, indem es die Timeline filtert – darin liegt eine Macht, die ich in so intransparenter Form kritisch sehe. Facebook hält dabei ein Image als neutrale humanistische Plattform hoch, die sich durch ein Totalversagen in der Praxis der Durchsetzung von Community Standards ad absurdum führt. Wer Geld hat, kann dafür zahlen, dass seine Nachrichten in der Timeline anderer zu sehen sind. ich hatte da schon alles mögliche von Werbung für ein Neonazi-T-Shirt bis zur Todesdrohung an Frauen, die keine Schleier tragen. Kritische Seiten werden regelmäßig offline genommen, weil die Verantwortlichen bei Facebook nicht unterscheiden, ob eine Seite kritisch über Rassismus und Antisemitismus berichtet oder Propaganda dafür macht. Die ganze Struktur ist auf Belohnung aufgebaut, schürt damit eine bestimmte Art von Postings und beeinflusst so das Kommunikationsverhalten.

Hier sind einfach so viele Beeinflussungen und Filterungen der Weltwahrnehmung gegeben, die nicht einfach so in der Hand eines Unternehmens liegen sollten. Wenn es jetzt 20, 30 verschiedene Netzwerke wären, die Menschen nutzen würden, fände ich das weniger besorgniserregend.

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Durch das Internet fallen zunehmend die klassischen „Gatekeepers“ weg, also Institutionen wie die Presse, die traditionell den Zugang zu Informationen und Meinungen reguliert haben. Halten Sie dies für einen Zugewinn an Basisdemokratie? Oder für eine Gefahr, wenn man sich etwa davon abhängig macht, welche Informationen Facebook mit seinen Algorithmen bevorzugt oder unterdrückt?

Das ist für mich kein Entweder/Oder. Ich halte das Wegfallen klassischer Gatekeepers für eine gute Sache, gerade weil wir keine sehr diverse Zusammensetzung unter den dort Journalismus Betreibenden haben, noch nicht mal geographisch gesehen. Ich bin davon überzeugt, dass ohne Blogs und Social Media in den klassischen großen Medien heute noch nicht mal das – immer noch magere – Level an Diversity zu finden wäre, wenn nicht eine Vielfalt von Randgruppen-Stimmen im Netz es geschafft hätte, sich Gehör zu verschaffen. Diese Pluralität der Stimmen, die mit Blogs in der öffentlichen Wahrnehmung gewachsen ist, halte ich für sehr wichtig. Dass sie über soziale Plattformen noch verstärkt wurde, sehe ich auch erst mal positiv, auch wenn sie viele verunsichert, die ihre engere sichere konservative Weltsicht erschüttert sehen. Dass Facebook – als *die* soziale Plattform hierzulande strukturell gleichzeitig keine konsensformende Diskussionskultur begünstigt, sehe ich wiederum kritisch. Es wird gern verkannt, dass wir in Form von Facebook einen größeren Gatekeeper denn je haben – es ist keine neutrale Plattform, sondern hat ganz eigene Regeln unter denen manches verstärkt, anderes unsichtbar gemacht wird.

Und das halte ich für ein Problem: Wie bei jedem Gatekeeper wird einfach vieles unsichtbar gemacht. Dass Inhalte von neuen Gatekeepers, nämlich Google als Suchmaschine und Facebook als Social Media Plattform gefiltert werden aber sie sich gleichzeitig als neutral darstellen, ist ein Problem. Der höhere Platz auf der Wahrscheinlichkeitsliste, dass du Usern gezeigt wirst, kann sich erkauft und ergamet werden. Mit ergamet meine ich: Viral Content, SEO-Optimierung, mehr Fokus auf Form als auf Inhalt und Gehalt. Die Art von emotionalisierter Zuspitzung, die inzwischen viel im Journalismus verwendet wird, um ihre Artikel viral erfolgreich zu machen, landet zwischen den sozialen privaten Nachrichten und prägt damit auch die Emotionalisierung der privateren Postings, prägt ein Kommunikationsverhalten. Dass dementsprechend Kommentare oft genauso polemisch ausfallen wie die Anreiz-Überschriften hat miteinander zu tun. Mein Problem ist also nicht, dass alte Gatekeeper wegfallen, sondern dass sich die neuen Gatekeeper keiner editiorialen Verwantwortlichkeit stellen geschweige denn transparent vorgehen. Behauptete Neutralität ist immer gefährlich.

In den Anfängen des Internets gab es die Hoffnung auf einen „freien“ virtuellen Raum ohne Hierarchien, Diskriminierung und Hass. Stattdessen berichten heute viele Frauen, die twittern, bloggen oder in den digitalen Medien arbeiten, von drastischer Frauenfeindlichkeit, Belästigungen, Drohungen und Hacker-Attacken. Wie erleben Sie die Situation?

Das Internet war nie ein virtueller Raum. Es ist eine Technologie, in die alle Vorurteile und Weltbilder derjenigen, die sie bauen, miteinfließen. Da so gut wie alle Plattformen im Internet von der dominanten Gruppe unserer Gesellschaft geschaffen wurden, haben diejenigen, die nicht dazu gehören, unter dem zu leiden, was in der Struktur dieser Plattformen nicht berücksichtigt wurde. Dazu gehören zum Beispiel gute Möglichkeiten, sich gegen Hasskommentare zu wehren. Facebook könnte es ja einfach ermöglichen, dass die Kommentarfunktion abgeschaltet werden kann.

Dass die Kommunikation früher weniger hasserfüllt war, halte ich für ein Gerücht, nur sind heute wesentlich mehr Menschen online und die Plattformen sind wesentlich zentralisierter. Wenn ich früher ein Messageboard besuchte und sah, das dort ein frauenfeindlicher Spruch nach dem anderen gepostet wird, dann habe ich es einfach nicht genutzt. Facebook oder Twitter dagegen haben für viele Betroffene eine zu zentrale soziale, informationelle und berufliche Rolle, als dass sie es sich einfach so erlauben könnten, es nicht mehr zu benutzen.

Darüberhinaus sind es wie bereits erwähnt oft diesselben strukturellen Möglichkeiten, die eine große Reichweite ermöglichen, die Menschen auch leichter zum Opfer werden lassen können. Und es sind ja auch oft die prominenteren User*innen am meisten betroffen, und Reichweite heißt, so wie die Plattformen gebaut sind: Sie können genauso eine Flut von Hasskommentaren abbekommen wie sie eine Flut von Rückhalt und positiven Kommentaren bekommen. Wenn möglichst große Reichweite zum Businessmodell gehört, werde ich keine gute Regulierung von Hasskommentaren bekommen. Weder Facebook oder Twitter noch die Kommentarsektionen von Newsmedien wollen in die Moderation oder anderweitige Regulierung von Trollkommentaren viel investieren und konsequent agieren, da sie ja von der Masse der Klicks profitieren. Sie könnten ja auch Kommentare nur freischalten, wenn sie inhaltlich etwas beitragen. Meines Erachtens sollten Kommentarbereiche nur geschalten werden, wenn sie auch mit editorialem Verantwortungsbewusstsein moderiert werden und tatsächlich Interesse an einer Diskussion mit dem Publikum da ist.

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Verlockt die Anonymität des Internets zu einer Enthemmung in Sachen Frauenhass oder auch Rassismus, wie sie in der analogen Welt nicht gewagt und auch sozial nicht geduldet würde?

Auf keinen Fall. Es gibt sogar Studien, die belegen, dass Anonymität nichts damit zu tun hat, sondern dass gerade die, die besonders hinter ihrer Haltung stehen, extra unter Realnamen posten, um ihrer Meinung Gewicht zu verleihen. Umgekehrt ermöglicht die Verwendung von Fake-Namen es auch Menschen, die sonst Angst haben müssten, sich öffentlich zu äußern, weil sie sexistische, homo/transphobe oder rassistische Übergriffe fürchten müssen. Deswegen gibt es ja auch soviel Kritik an der Realnamen-Politik von Facebook. Letztlich stärkt Realnamenpolitik nur die, die in einer Gesellschaft eh schon die stärksten Positionen einnehmen – mich erinnert das immer etwas an die “wer nichts zu verbergen hat, braucht auch Überwachung nicht zu fürchten”-Haltung. Jeder Mensch hat etwas zu befürchten, und je weiter ich dem Mainstream entfernt bin, “anders” bin, desto angreifbarer bin ich. Nicht umsonst sind es Netzwerke wie Twitter und Tumblr, die keine Realnamenpflicht haben, auf denen Randgruppen sich lange Zeit am stärksten vernetzt haben, und auf denen sich zum Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit vernetzt wird.

Ich sehe verschiedene Wurzeln für das Problem des enthemmten Hasses im Netz.

Eine tiefsitzende Wurzel ist die Erziehung zum digitalen Dualismus, wie es Nathan Jurgenson genannt hat, also: zu einem Denken, das zwischen vermeintlich realem Leben und virtuellem Onlineleben trennt. Dadurch ist über Jahrzehnte hinweg die Idee genährt worden, dass alles was online gepostet wird nicht “real” sei. Das rächt sich nun bitterlich. Es gibt schlicht und einfach auch hierzulande weitverbreiteten Alltagsrassismus, -homo&transphobie und -misogynie. Die Hasskommentare im Netz kommen uns geballter vor, weil sie dort nachlesbar, sammelbar und damit sichtbarer sind, während verbale Hasskommentare im Alltag in tausende kleiner Einzelerfahrungen fragmentiert sind, die meist keine gemeinsame Stimme und damit keine breite Öffentlichkeit finden.

Dazu kommt, dass sich im öffentlichen Raum ein gesellschaftlicher Konsens bildet, was laut aussprechbar ist, und wofür ich von meinem Umfeld Sanktionen zu erwarten habe. Und hier besteht einfach eine Kluft, was wir willens sind unwidersprochen zu lassen, wenn es jemand z.B. in der U-Bahn sagt, und dem, wo wir auf Facebook weggucken. Wie gesagt: die Wurzel sehe ich darin, dass so lange das Internet als nicht-real behandelt wurde. Online wird so bis heute von vielen ein falsches Credo von Meinungsfreiheit hochgehalten: falsch, weil dabei die Idee der Meinungsfreiheit instrumentalisiert wird, um gegen Schwächere hetzen zu können, die ja eigentlich durch die Idee der Meinungsfreiheit gestärkt werden sollten.

Was die starke Emotionalisierung in den Kommentaren anbetrifft, tragen Medien durchaus eine Mitschuld. Die hasserfüllten Polemiken diverser weißer älterer rechtskonservativer Herren des Zeitungsfeuilletons bringen viel Leserschaft und Echo, weil darüber diskutiert wird. Emotionalisierende Schlagzeilen und Bildauswahl werden genutzt, um Artikel auf Social Media möglichst weitverbreitet zu bekommen. Damit lassen sich Medien auf die Schwachstellen, mit denen eine Plattform wie Facebook gebaut ist, ein, schüren damit aber auch einen Umgangston, über den sie sich dann selbst ärgern, wenn sie ihn aus den Kommentaren zurück um die Ohren bekommen. Ebenso ist eine Plattform wie Facebook mitschuld, wenn sie denen Gehör verschafft, die am lautesten und emotionalisierendsten schreien.

Haben Sie schon einmal die Behörden eingeschaltet, weil Sie attackiert wurden? Wenn ja, was war Ihre Erfahrung?

Nein, ich selbst nicht.

Frauen im Netz wird oft geraten, die sie beleidigenden oder bedrohenden Trolle nicht zu „füttern“, sondern zu ignorieren – halten Sie das für die richtige Strategie?

Ja, schon allein, weil du niemandem die Zeit und Mühe schuldest. Ignorieren, blocken, keine Zeit schenken. Das ist die Taktik, mit der ich am besten fahre – die mir auch zu einem dickeren Fell verholfen hat. Musste ich aber auch erst lernen. Mit klassischen Trollen/Hatern lohnt keine Diskussion. Das heißt wohlgemerkt nicht, sich gar nicht auf Diskussionen mit Andersdenkenden einzulassen. Aber mit der Zeit entwickelst du ein Feingefühl dafür, wo die Diskussion lohnt, und wo nur die immergleichen Strategien angewandt werden, um dich fertigzumachen.

Letztes Jahr gab es in den USA den „Gamergate“-Skandal, nachdem dem eine feministische Kritikerin der Videospiel-Industrie mit Morddrohungen überzogen wurde. Hat diese Diskussion über die Frauenfeindlichkeit der Videospiel-Szene etwas bewirkt?

Sie hat bewirkt, dass vor allem die strategische Frauenfeindlichkeit, die zum Teil praktiziert wird, von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wird, und sich dadurch manche weniger allein mit ihrem Erleben fühlen müssen, und natürlich auch Strategien dagegen weiter verbreitet wurden.

 

Sie haben anlässlich des Erfolgs von „Pokémon Go“, einem virtuellen Spiel, das draußen auf Straßen und Plätzen gespielt wird, darauf hingewiesen, dass der öffentliche Raum nicht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung steht – können Sie das erklären?

Pokémon Go ist nicht mehr oder weniger virtuell als andere Spiele. Es macht nur spürbarer, wie Digitales und Nicht-Digitales ineinandergreifen, dass das Digitale nur eine Erweiterung ist, keine andere Sphäre. Dadurch dass es durch sein Geocaching-Element Menschen aus dem Wohnzimmer hinaus in den öffentlichen Raum führt, zeigt es, wie wenig dieser ein neutrales “Spielfeld” ist. Viele Frauen werden sich nachts alleine nicht in jede dunkle Gasse einem Pokémon nachspüren trauen. Ein junger Mann mit dunkler Hautfarbe wird oft schneller als ein möglicher Einbrecher verdächtigt, wenn er vor einem Haus herumlungert, weil er da um ein Pokémon Gym kämpft. So führt uns Pokémon ganz nebenbei vor Augen, wer sich am freiesten wo in unseren öffentlichen Räumen bewegen kann.

Das Silicon Valley wird zunehmend dafür kritisiert, dass die Unternehmen vorzugsweise junge weiße Männer beschäftigen – und viel zu wenige Frauen. Damit setzt die Tech-Industrie aber nur eine lange Tradition fort: In lukrativen, technisch-mathematischen Geschäftsfeldern waren schon immer die Männer vorneweg. Warum drängen Frauen nicht viel stärker in diese Zukunftsbereiche?

Weil diese Bereiche genau aus diesen Gründen oft nicht sehr einladend sind, und Frauen dank strukturellen Sexismen oft doppelt so hart kämpfen müssen, um sich dort durchzusetzen. Dazu kommt wie in jedem männlich-dominierten Bereich: Je weniger Vorbilder es gibt, desto weniger Frauen kommen überhaupt drauf diesen Weg einzuschlagen. Es sind immer wieder diesselben Gründe.

In den USA gibt es Bestrebungen von Vereinen und Stiftungen, Mädchen ans Programmieren heranzuführen. Sehen Sie ähnliche Entwicklungen auch für Deutschland? Würden Sie sich solche Programme wünschen?

Auf jeden Fall würde ich mir solche Programme auch hier wünschen, inwieweit es sie bereits gibt, dazu kenne ich mich zu wenig in der Programmierszene aus.

Was ist für Sie persönlich der größte Fortschritt, den die Digitalisierung unserer Welt bewirkt hat?

Die Erweiterung unserer Kommunikationsmöglichkeiten auf so viele Ebenen und die Dezentralisierung unseres Wissens. Aber tatsächlich vor allem, wieviel mehr Menschen dank digitaler Möglichkeiten voneinander wissen und sich austauschen, dieses großartige Hin und Her zwischen eigener Identitätssuche und einer unendlichen Neugier von Menschen aufeinander, verstreut über dutzende komplexe Varianten von Social Media Plattform bis zu Messenger App, von Periscope bis Snapchat.

 

Pokémon Quo?

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Vergiss Virtual Reality, Augmented Reality (AR) wird überall für ein ganz neues WTF Level sorgen, und mit WTF meine ich zum Beispiel, dass es viele Leute überhaupt erst gewahr werden lässt, in was für verschiedenen Realitäten sie leben, und es sie sich fragen lassen wird, was überhaupt “real” bedeuten soll.

Pokémon Go (P-Go), ein AR Geocaching Spiel macht die ganze Welt zum Spielfeld (statt wie in VR dich der Alltagswelt zu entziehen und dir via spezieller Brille vorzugaukeln, dass du dich woanders befindest). Während du durch den Park läufst, siehst du auf deinem Smartphone-Display dein Avatar eine aufgehübschte Variante von Google Maps entlanglaufen. Wann immer ein Pokémon in der Nähe auftaucht, schaltet sich AR ein und lässt dich mit Hilfe von GPS und Kamera deines Smartphones, dich das Kreatürchen auf deinem Display so rumhüpfen sehen, als befände es sich in deiner tatsächlichen Umgebung. Du kannst Pokémon fangen wo immer auch du gerade bist, und kleine und große (meist) öffentliche Orte werden zu Pokéstops oder Gyms – das reicht vom bemalten Stromkasten über meine Lieblingsbäckerei bis zu einer Kirche. Durch diese Mischung von AR und Geocaching befreit P-Go das Spielen von geographischen Begrenzungen, nicht nur davon wo du spielen kannst (das haben mobile Geräte schon getan), nein: AR scheint eine Game-Ebene über deine physische Umgebung zu legen, und macht damit die Lücke zwischen Spieler*in und Avatar kleiner.

Genauso wie bei Snapchatfiltern ensteht auch bei Pokémon Go eine Faszination aus der Mischung von Bekanntem und Unbekanntem, Vertrautem und Neuem, und macht das Spiel leicht zugänglich für viele Menschen. Es ist kein reines Nerd-Ding. Das Geocaching-Element lässt dich deine vertraute Umgebung auf neue Weise wahrnehmen: überall könnte sich etwas verbergen, das es zu entdecken gilt. Du nimmst plötzlich Dinge in deiner gewohnten Umgebung wahr, denen du vorher nie Beachtung geschenkt hast, und Dinge, die du kennst, werden plötzlich mit einer neuen Bedeutung aufgeladen, wenn du entdeckst, dass sie Pokéstops oder Gyms sind. Selbstverständlich hilft es auch, dass Pokémon Teil des Popkultur-Mainstreams sind, denn damit wohnt der AR Ebene etwas Vertrautes inne. So kannst du gleichzeitig deine nachbarschaftlichen Straßen als etwas Neues erleben und weil die AR Ebene diese putzigen Kreaturen beherbergt, die du bereits kennst, hat sie ein beruhigendes Element – ist nicht nur ein seltsam fremdes neues Technikding. Diese Vertrautheit, ein Hauch von Nostalgie sogar für die Älteren, könnte der Grund dafür sein, dass – obwohl erst seit ein paar Tagen veröffentlicht – P-Go jetzt schon der Eisbrecher für AR Technologie sein könnte. Die Schwelle, bei der sich ein Mainstream noch unangenehm damit fühlt, weil es ihm zu futuristisch und von seinen Konsequenzen nicht abschätzbar erscheint, dürfte für viele mit P-Go spielerisch überwunden sein. Wenn Google Glass erst nach P-Go veröffentlich worden wäre, hätte es besser dafür laufen können, denn wer sehnt sich beim Spielen von P-Go nicht danach, statt eines Smartphones eine digitale Brille zur Verfügung zu haben und der kleinen bunten Kreatur einen *echten* Ball *echt* zuwerfen zu können.

Viele sind vor allem deswegen am Fieber für das Spiel interessiert, weil es ihnen neue Möglichkeiten eröffnet, dir Dinge zu verkaufen, Stichwort ‘Marketing’ und ja, Pokémon Go ist natürlich selbst auch geschaffen worden, um Geld einzubringen. Und die Wege, in denen es verwendet werden kann, um Geld durch Marketing zu machen, dürften bald genau das sein, was wir daran hassen werden. So wie das bei fast jedem neuen spielerischen Technikding ist, das wir in unsere alltäglichen Leben lassen. Capitalism is why we can’t have nice things for long.

Ich persönlich finde die Nebeneffekte faszinierender als die Möglichkeiten, es für andere Zwecke auszubeuten. Wie durch Zufall könnte P-Go etwas sein, das vielen Menschen gewahr werden lässt, wie tief digitale Technologien in ihrem täglichem Leben eingewoben sind. Damit könnte es ein weiterer Schritt sein, der dazu beiträgt, das Denkschema des Digitalen Dualismus zu beenden: das Denken von Online und Offline als entweder/oder. Als ich vor kurzem auf einem Spaziergang Pokémon Go startete, stellte ich fest, dass es den seltsamen Effekt hat, dass ich nicht nur Aufmerksamkeit für die AR Kreaturen hatte, sondern dass es auch meinen Blick für Vögel und Eichhörnchen oder andere Kleinigkeiten zu schärfen schien, die mir über den Weg kamen.

Dann wäre da noch der soziale Effekt. Für manche Leute hat es einen ähnlichen Nebeneffekt wie das Rauchverbot in meiner Erfahrung brachte: Ich habe so viele neue Menschen dank des Rauchverbots kennengelernt, weil es uns dazu brachte, den Kreis der Freund*innen, mit dem du unterwegs bist, auch mal zu verlassen, und eben auch den lauten Club mal für eine Zigarette oder zwei. So hat es kleine neue soziale Räume entstehen lassen. Ein Freund von mir schrieb, dass er P-Go nicht kapiert, weil der doch spiele weil/wenn er nicht rausgehen will (was ich völlig verstehe ^^). Dank P-Go gehen Spieler*innen aber nun plötzlich aus dem Haus und treffen einander auch noch, denn ab Level 5 kannst du einem Team beitreten und gemeinsam spielen. Wie ein Inverse Artikel es zuspitzte: “Erinnert ihr euch noch daran, als es hieß, du sollst nicht mit Fremden spielen? 2016 hat sich alles geändert.” Oder, wie Danah Boyd es beschreibt: “In New York City rannten sie in ihre Nachbarn, die, auf ähnlichen Jagden, lachten und herumscherzten, als sie sich gegenseitig ihre Smartphones zeigten und einen gemeinsamen Moment teilten. Dieses Spiel lädt Menschen dazu ein, in ihrer physischen Umgebung umherzuwandern und ihr Umfeld in einer neuen Weise zu sehen – und sogar eine ‘wenn du etwas siehst, sag was’-Resonanz zu erzeugen in unserer sicherheitsbesessenen Welt.”

Das Gamen auf die Straßen zu bringen hat aber auch noch einen anderen Nebeneffekt. Ich weiß nicht, ob die Spielentwickler sich darüber im Klaren sind, dass unsere Städte keine neutralen Orte sind. Ich nehme an, es ist ihnen egal. Dieses Geocaching AR Spiel könnte uns an die unsichtbaren Grenzen in öffentlichen Räumen erinnern, die uns durch unseren Platz in der Gesellschaft gesetzt sind. Das fängt schon da an, wer das Geld hat, sich eine mobile Datenrate zu leisten um Pokémon Go zu spielen während er oder sie durch die Stadt läuft. Wenn du #blacklivesmatter oder #reclaimthenight verfolgt hast, bist du dir darüber im Klaren, dass öffentlicher Raum als gleichberechtigtes Spielfeld, das uns demokratische Staaten zu garantieren scheinen, eine sehr theoretische und zerbrechliche Sache ist. Letztes Wochenende auf dem nächtlichen Heimweg von einem Konzert wurde ich mir recht schnell dessen bewusst, dass eine Frau nachts auf der Straße ihren Pokémon lange nicht so sorgenlos und frei wie ein Mann hinterherjagen wird. Omari Akil hat darüber geschrieben, wie das Spielen als schwarzer Mann sogar sein Leben in Gefahr bringen könnte. Das sind nur zwei von hunderten von Beispielen.

Wir Menschen einigen uns auf einen gesellschaftlichen Konsens darüber, wie wir über unsere Realitäten reden, und über was überhaupt zu reden akzeptiert ist; ich glaube, im Journalismus nennt sich das Overton Fenster. Dieser Konsens ist nur für wenige die tatsächlich gelebte Realität: für eine imaginäre Mitte. Wir sprechen nicht oft über unsere verschiedenes Erleben desselben öffentlichen Raums, weil es so etwas Alltägliches ist, dass wir es als gegeben annehmen oder zumindest als gegeben annehmen, dass alle wissen, wie es uns ergeht. Erst Blogs, dann Social Media sind ein großer Schritt zum Sichtbarmachen dieser verschiedenen Realitäten geworden: zum dieses Overton Fensters. Je mehr verschiedene Menschen ihre Meinungen und Erfahrungen öffentlich artikulierten und sich vernetzten, desto verwirrender wurde die Welt für jene, die am nähesten an der imaginären Mitte der Gesellschaft leben. Je weiter weg deine gelebte Realität von dieser Mitte ist, desto weniger Probleme dürftest du mit einer Gesellschaft haben, die derzeit plötzlich zu realisieren beginnt, dass es nicht eine einzige objektive fixe Realität gibt, sondern dass an ihrer statt viele fließende Realitäten existieren. Je näher du der Mitte, dem gewordenen gesellschaftlichen Konsens von Realität, entsprichst, desto beängstigender ist die Welt geworden. Was einer der Gründe für das Wachsen der rechten Bewegungen sein dürfte: Den Realitäten von Minderheiten mehr Raum und mehr Gerechtigkeit zu geben, fühlt sich für sie an, als werde ihnen ihre sichere enge Welt weggenommen. Je granularer unser Blick auf unsere Welt wird, je mehr wir die einzelnen Fragmente wahrnehmen, desto brüchiger scheint derzeit unser gesellschaftlicher Konsens zu werden. Das nur als ein Beispiel, wie Social Media die Welt verändert haben, und wie sie uns eine Menge über soziale Spannungen lehren: darüber wie sich Communities formen, über Machtverhältnisse und noch vieles andere mehr.

Vielen Menschen fällt es schwer, sich zu vergegenwärtigen, dass Social Media – genauso wie AR (oder Sprache, oder das Datennetz der Smart City, oder soziale Konventionen, usw.usf. – aber das führt hier zu weit) – auch schon eine neue Ebene sind, die unsere Leben erweitert und durchdringt. Geographisch gesehen, ist Social Media eine unsichtbare Ebene – AR macht sie etwas sichtbarer. Und Menschen sind Augentiere. Pokémon Go ist nur ein albernes kleines Spiel, aber mit seinem Schritt, AR als visuelle Ebene über deine physische Umgebung zu legen, hilft es, auf eine lockere spaßige Weise zu begreifen, wie tief digitale Technologie mit unseren Leben verwoben ist. P-Go nimmt uns mit nach draußen, verbindet uns via tatsächlicher öffentlicher Räume, bringt die digital netzwerkende Erfahrung zur Ebene der kollektiven Erfahrung auf der Straße und trifft damit einen Nerv. Wenn wir die Plattformpolitik von Facebook diskutieren, erscheint es vielen Leuten als ein “nimm es wie’s ist oder lass es sein” Ding, ein vernachlässigbarer theoretischer Disput. Dass Facebook zu verlassen aber bedeuten kann, von einem wichtigen Teil der Vernetzung des sozialen Umfelds und des Arbeitsbereich abgeschnitten zu sein, ist für viel immer noch unbegreiflich. “Es ist doch virtuell!”, ist das Missverständnis. AR in den Fußstapfen von P-Go könnte Diskussionen über soziale Gerechtigkeit auf Online-Plattformen in den urbanen Raum tragen und so die online- und offline Diskussionen verschmelzen. Wenn eine Frau sich beschwert, dass sie etwas nicht öffentlich im Netz schreiben kann ohne dass eine Welle von Beleidigungen und Drohungen folgt, und dass sie sich dadurch in ihrer kommunikativen Bewegungsfreiheit eingeschränkt fühlt, erscheint das vielen banal, theoretisch, virtuell. Wenn sie sagt, oder gar mit einem Video zeigt, dass sie nicht die Straße entlang laufen kann, ohne belästigt zu werden, wird das ernster genommen. Wenn es ein albernes Spiel braucht, um Menschen so zusammenzubringen, dass sie ihre verschiedenen Erfahrungen desselben Raums ein bisschen mehr verstehen, ist das eine gute Sache. Und wenn es Gamern bewusst macht, dass Spiele reale soziale Orte sind, egal ob on- oder offline, dann werde ich mich nicht darüber beschweren. Dieser Gamer sorgt sich in seinem Text über Pokémon Go, weil “wir absolut alles, was in MMOs passiert ist, auch hier zu erwarten haben, weil AR ein MMO” ist. (MMO = Massively Multiplayer Online Game, ein Onlinespiel das von unzähligen Leuten gespielt werden kann) Ich wünschte, er würde stattdessen oder darüberhinaus sehen, dass a) das Leben ein MMO ist, und b) dass MMOs das Leben sind, denn: soziale Dinge, die in sozialen Räumen von Games passieren, haben Auswirkungen auf *echte* Menschen, nicht nur auf virtuelle Avatare. Aber sein Text zeigt wenigstens wie sehr dieses kleine Spiel einige Menschen inspiriert, darüber nachzugrübeln, wie digitales und nicht-digitales Leben und ineinander verschlungen sind und sich gegenseitig beeinflussen, und was für eine Verantwortung die Unternehmen, die so etwas anbieten, eigentlich haben. Haben sollten. Okay: ignorieren. 😉

 

turn off gps and exif - pokemon - twitter quote

Es gibt auch berechtigte Kritik an Pokémon Go, selbstverständlich gibt es die. P-Go ist ein Paradebeispiel für die Macht und die disruptive Leichtfertigkeit von großen Tech Firmen. Wenn dein Haus ein Pokémon Gym ist, dann hat das Konsequenzen. Sollte es wirklich Pokémon in Auschwitz geben? Sind Stolpersteine okay? Sollten Pokémon bei Begräbinissen erlaubt sein? Sollten Katzen oder Papageien oder andere niedliche Tiere? Und so weiter. Andererseits gibt es auch schon einiges von der üblichen konservativen Kritik, die den unbekümmerten Spaß daran, neue Technologie zu erforschen, gleich kontrollieren und in seine Schranken weisen möchte. Da sieht man diese Pokémon-Spielenden doch glatt auf der Straße voll im Weg rumlaufen, mit ihren Smartphones! Rücksichtslos! Unvernünftig! Und zu was soll das überhaupt gut sein? Zu meiner Zeit, blabla, usw. Wie halt vor Generationen auch über Skateboards und Walkmen gewettert wurde. Anti-sozial, nicht authentisches Erleben, irgendwie auch wieder Narzissmus, und auch sowas wie “Leute haben nicht die Zeit auf Protestmärsche zu gehen, aber sie laufen durch die Straßen um Pokémon Go zu spielen.” Warum um alles in der Welt wird so etwas verglichen? Das ist doch kein entweder/oder.

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Spielen heißt nicht, sich nie um etwas zu sorgen. Protest bedeutet, sich um etwas zu sorgen, und sich um etwas zu sorgen ist einfach die ergänzende andere Seite von sorglosem Vergnügen. Wie Ted Leo es in einem Song über St. Feliu (“Costa Brava”) ausdrückte: Nehm dir eine Auszeit, trink ein bisschen Wein, (spiel Pokémon Go!), und “we’ll forget the fright and remember why we want to be brave and that there’s something to save.” Der ganze Schrecken muss auch mal kurzzeitig vergessen werden, damit wir wieder wissen, warum wir mutig sein wollen und dass es etwas gibt, was zu retten lohnt. Deswegen lasst euch spielerische kindische alberne Momente nicht verderben. Warum nicht auch die Begeisterung für Pokémon Go. Lasst uns das Vergnügen dran umarmene UND die kritischen Spannungen, was öffentlichem Raum on&offline und Privacy und kommerziellen Druck anbelangt, auf die dieses kleine Spiel uns aufmerksam macht, bis irgendein Profit-Rattata oder -Zubat es uns auf die eine oder andere Weise verderben wird. Und, um nochmal Danah Boyd zu zitieren: “Statt aus Angst zu reagieren, lasst uns einen Schritt zurücktreten und das Nachdenken darüber beginnen, wie wir mehr Gelegenheiten für junge Menschen schaffen können, sich in digital erweiterter (augmented) Weise sinnvoll miteinander zu vernetzen.” So wie zum Beispiel dieser Artikel Pokémon Go vergnüglich als Zukunft des Lernens weiterspinnt.

staywokemon - twitter quote

SOFT RESISTANCE #1

SOFT RESISTANCE #1
Die Darstellung der Digitalisierung, Stigmatisierung von Smartphones und ein politischer Einwand gegen digitale Enthaltsamkeit

Vortrag vom ersten SOFT RESISTANCE Abend, am 30.10.15 im Zentralcafé beim MV (ca. 45min.)

softresistance1510-web

Vortrag mit Slideshow auf Youtube:

Nur Audiostream:

 

Download als Podcast:
MP3 high quality (320kbps – 108mb)
MP3 low quality (192kbps – 43.3mb)

Nun ja. Es war ein verhalten besuchter, aber vom Feedback her ganz wunderbarer erster SOFT RESISTANCE Abend und nach anfänglicher Enttäuschung, hab ich nun doch ganz große Lust, das im neuen Jahr weiterzuführen.

Wenn jemand mich mit dem Vortrag woanders hin einladen möchte: You are welcome. Weiter werfe ich noch Dankeschön-für-Impulse-Leinen in Form einer Linksammlung aus, und ihr könnt natürlich auch gerne Kommentare oder Fragen hinterlassen oder das ganze weiterverbreiten – würde mich freuen.

Worum geht’s mir mit SOFT RESISTANCE? “Salon zu smarten Geräten, kritischer Kultur und melancholischen Geistern” hab ich es untertitelt, und so offen würde ich es auch gerne lassen. Trotzdem etwas mehr erklärt: Ich will das Thema der zunehmenden gesellschaftlichen Durchdringung von Digitalisierung über meinen Blog raus tragen, in einen Offline-Diskurs. Das öffnet mir noch mal einen anderen Blick und es findet – meines Wissens – in Nürnberg noch nichts ähnliches statt und das fehlt mir. Digitalisierung meine ich hier im Sinne der Verwendung von meist datenbasierten Services auf Smartphones und Computern zur Kommunikation, Information, Bildung, Unterhaltung, Überwachung, Kontrolle usw. Mich interessiert daran, was dadurch sozial, politisch, gesellschaftlich passiert. Soft Resistance stelle ich mir als einen Abend vor, der zwar aus einer theorieverliebten und politisch engagierten Ecke kommt (links und queer-feministisch muss ich, denke ich, nicht dazu schreiben, wenn ihr schon auf diesem Blog gelandet seid, ebenso wenig wie die Verbindung zur Musik), aber: ein Abend, der eine niedrige Einstiegsschwelle hat. Mehr Kneipe in die Theorie bringen, mehr Theorie in die Kneipe bringen. Ich will dass der Zugang gratis ist, freue mich aber über Spenden, denn es ist schon ganz schön arbeitsintensiv – das mag ich nicht leugnen. Ich will mit Soft Resistance Kunst, Musik, Theorie, Biertrinken und Politik verbinden, und Diskussionsräume öffnen. Künstlerische Performances von Gästen (dieses Mal war es WndHnd) und theoretisches lautes Nachdenken. Gefährliches Halbwissen. Offline und online.

Es gibt zahllose Themen, die mir für Soft Resistance einfallen:
– Social Media und gesellschaftliche Meinungsbildung
– gesellschaftliche Kontrolle durch datenbasierte Services, z.B. Smart Cities und Demokratie
– die Veränderung des öffentlichen Raums on- und offline
– Werbung als der Pick Up Artist des Internets (das ist ein Thema, an das ich mich schon lange mal setzen wollte)
– Sharing Economy und die Veränderung von Arbeit
und so weiter.

Das waren die Flyer:

Und ich habe natürlich an die Cookie-Warnungen gedacht:

 

Linksammlung:

Luke Solomon auf Facebook zu DJ Culture / PR

If You Keep Texting, Your Head Will Fall Off – Countering the claim that texting is ruining spines
von James Hamblin

Ein Blick auf Platons „Schriftkritik“ – eine Anleitung zum angemessenen Umgangmit schriftlichen Texten
von Rüdiger Wagner [PDF]

Die stille Revolution – Wie Algorithmen Wissen, Arbeit, Öffentlichkeit und Politik verändern, ohne dabei viel Lärm zu machen
von Mercedes Bunz, Suhrkamp Verlag

The Disconnectionists
von Nathan Jurgenson
Eine Zusammenfassung zu seiner Arbeit habe ich hier auf deutsch geschrieben (Text ist zuerst in der Testcard 24: Bug Report, Ventil Verlag, erschienen.)

It’s complicated – the social lives of networked teens
von Danah Boyd [PDF], in print: Yale University Press

What’s our conclusion? Introducing ‘scalable sociality’
von Daniel Miller

Techniktagebuch [tumblr]

Links zu den Beispielen zur Digitalen Enthaltsamkeit:
Look up” von Gary Turk
Put down your phone” von Jefferson Bethke
Unicef Tap Project
Camp Grounded Bericht von Forbes

Photography, Self Documentation, & Social Media: An Interview with Nathan Jurgenson
von Jason Farham [Youtube]

Mark Zuckerberg and the End of Language
von William Davies

Twitter-Account zu Internet-Of-Thing FAILS: @internetofshit

Is The Internet Good or Bad? Yes.
von Zeynep Tufekci
Hier auch ins Deutsche übersetzt.

Yanis Varoufakis on Europe, UKIP and Post-Capitalism
Interview von Aaron Bastani, Novara Media [Youtube, von mir zitierter Teil kommt ganz am Schluss]

We can’t allow the tech giants to rule smart cities
von Paul Mason

Wie wir die Maschinen-Utopie erreichen können
von Jürgen Geuter

Holly Herndon – Chorus [Youtube]

“Network of blood” – Nathan Jurgensons Webtheorien

Illustration von Martin Müller www.183off.com
Illustration von Martin Müller www.183off.com

 

Once upon a pre-digital era, there existed a golden age of personal authenticity, a time before social-media profiles when we were more true to ourselves, when the sense of who we are was held firmly together by geographic space, physical reality, the visceral actuality of flesh.

Märchenstunden dieser Art kennen alle aus dem Feuilleton oder von YouTube-Clips wie “I forgot my phone” oder “Look up”. Parallel zur Verbreitung der Smartphones hat sich eine Bewegung entwickelt, die sie als sozial isolierend verdammt und jeden im Netz verbrachten Moment als einen betrachtet, den du im „echten“ Leben verpasst. “Digital Detox”, “Unplugging”, “Disconnecting” – die Abstinenz vom Netz, und sei es nur eine gemeinsame Mahlzeit im Freundeskreis lang, wird mit großen Gesten zelebriert und findet sich oft in das Umfeld von Wellness und ethischem Konsum eingebettet. Das gipfelt in Auswüchsen wie der Tap Project App von Armani und Unicef: Diese App misst, wie lange du es aushältst, dein Smartphone nicht zu checken, und pro zehn Minuten, die du offline verbringst, bekommt ein Kind in einer notleidenden Region für einen Tag den Wasservorrat, den es zum Überleben benötigt. Wenigstens wird dir dabei nicht ein sterbendes Kind – Tamagotchi-Style – angezeigt, falls du doch vorzeitig wieder online gehst. Bei so viel Besorgnis gegenüber digitaler Vernetzung ließe sich meinen, “unsere Integrität als Menschen stünde auf dem Spiel.” So Nathan Jurgenson, ein junger US-amerikanischer Soziologe, der sich intensiv damit auseinandersetzt, wie neue Webtechnologien uns und die Gesellschaft verändern.

Er schreibt seit Jahren gegen dieses Denken an, das er als “Digitalen Dualismus” bezeichnet. Dieser stellt eine falsche Nullsummenrechnung an: Die Zeit, die wir online verbringen, fehlt uns angeblich offline. Als würden wir aus der Offline-Welt verschwinden, sobald wir online gehen. Da wir aber nicht in der Filmwelt von Tron leben, tun wir das ebenso wenig, wie wenn wir telefonieren oder ein Buch zur Hand nehmen. Jurgenson sieht dies als konzeptionellen Fehlschluss: “Technologie, vor allem Social Media, wird als zu abgetrennt von denen betrachtet, die sie nutzen.”

Augmented Reality

Vor allem dank mobilem Web stehen unser Online- und unser Offline-Leben in einer immer stärkeren gegenseitigen Wechselbeziehung, die Jurgenson als “Augmented Reality”, als erweiterte Realität, bezeichnet: eine weiter gefasste “konzeptionelle Perspektive, die unsere Realität als Nebenprodukt der gegenseitigen Durchdringung von On- und Offline erschafft.” Der Begriff stammt ursprünglich von Technologien, bei denen das Digitale und das Physische sich überlagern, zum Beispiel in Form einer Reiseführer-App, bei der du zu einem Gebäude, das du durch die Fotolinse deines Smartphones betrachtest, Informationen eingeblendet bekommst. Augmented Reality ist von Jurgenson nicht als Gegenpol oder kulturhistorischer Nachfolgebegriff zum Digitalen Dualismus gemeint, sondern ersetzt eine von Beginn an falsch konzipierte Beziehung zur Technologie:

Diese Digital Dualists entwerfen das Web ähnlich wie in dem Film Matrix (1999), in dem On- und Offline getrennte Räume sind. Dagegen hält die Perspektive der Augmented Reality, dass unsere Realität da entsteht, wo On- und Offline verschwimmen, wie es im Film vielleicht am besten in Cronenbergs Body-Horror Film Videodrom (1983) veranschaulicht wird, der die Implosion von Technologie, Medien und materiellem Körper aufzeigt.

Wem an dieser Stelle Cyborgs in den Sinn kommen: Nicht von ungefähr heißt der Blog, den Jurgenson zusammen mit PJ Rey ins Leben gerufen hat, Cyborgology.

Das Facebook-Auge

Die Struktur und Logik von Social Networks und Smartphones verändert die Art, wie wir die Realität wahrnehmen und strukturieren – auch offline. Jurgenson erklärt das in “The Facebook Eye” am Beispiel des “Kamera-Auges”, das Fotograf*innen entwickeln: Das Auge wird zum Sucher, und auch wenn sie ohne Kamera unterwegs sind, sehen Fotograf*innen überall mögliche Motive und nehmen den Lichteinfall wahr. Social Networks wie Facebook beeinflussen uns in ähnlicher Weise, da sie uns “die Welt immer als potentielles Foto, als Tweet, als Check-In oder als Statusupdate erleben lassen.” Das bezeichnet Jurgenson als “Facebook-Auge”. Nebenbei sei hier auch mit dem Vorurteil vom unsozialen Netzmenschen aufgeräumt: “Und eben weil Social Media unsere Offline-Leben erweitern (nicht ersetzen), zeigen Untersuchungen, dass Facebook User mehr Offline-Kontakte haben als Nicht-User, sich mehr engagieren, und so weiter.”

Augmented Dissent

Nathan Jurgenson ist davon überzeugt, dass es nicht als historischer Zufall betrachtet werden wird, sondern dass “das Aufkommen von Mobiltelefonen und Social Media für immer mit globalen Massenmobilisierungen von Menschen im physischen Raum verbunden sein wird.” Vom Arabischen Frühling über Occupy bis zu den Gezi-Park-Protesten spielten Social Media eine große Rolle und manifestieren par excellence “Augmented Dissent.” Wo andernorts politisches Engagement im Netz oft als “Slacktivism” zerredet wird, also als faules und letzlich wirkungsloses Engagement, betont Jurgenson auch hier die dialektische Verschränkung von On- und Offline. Ob zur Organisation lokaler Besetzungen, großer Proteste oder um Neuigkeiten zu verbreiten, ob als Hashtag-Aktion auf Twitter, ob als Fotos oder Smartphone-Filme auf YouTube: Ohne auf traditionelle Medien angewiesen zu sein, haben Social Media Proteste und Protestformen in vielschichtiger Weise durchdrungen und geprägt. Diese sind durch das Netz partizipatorischer denn je geworden, und auch die Solidarität und Teilnahme Außenstehender wird besser wahrnehmbar. “Eine tiefliegende Bedrohung für jede Protestbewegung besteht darin, dass der Ehrgeiz und die Motivation sowie das Gefühl der Hoffnung, jedes Individuum könne etwas bewegen, schwindet. Mit Social Media können Leute den Unterschied, den sie machen, auch sehen. Sie konsumieren Dissenz nicht nur passiv, sondern beteiligen sich aktiv daran, ihn zu schaffen.” Social Networks bieten ein Publikum für Inhalte:

Protestierende rufen nicht mehr nur in den (aus Atomen bestehenden) Wind, sie rufen auch in ein (aus Bits bestehendes) Netzwerk.” Ebd. Facebook-Kommentare, Twitter-Retweets und -Replies stärken uns: “Erweitert um das Internet scheint das, was wir tun, mehr zu zählen. Das ist die nicht-mehr-ganz-so-geheime Waffe der ‘Augmented Revolution’.”

Utopia for whom?

Das Netz wurde lange Zeit eher als Ort, denn als Werkzeug für Alternativen gesehen. Die trügerische Wild-West-Verheißung des frühen Internets: ein neuer freier Raum zu sein, in dem sich etwas Großartiges , jenseits der unterdrückenden Realitäten von Geschlecht, Hautfarbe, körperlicher Fähigkeit, Ressourcenknappheit aufbauen lasse, in dem alte einengende Strukturen von heldenhaften Cyberpunks und Hacker-Cowboys weggefegt werden würden … ja, genau, unterbricht Jurgenson seine eigene Beschreibung schneidend: “Those were boy’s clubs”. Diese alte Utopie wischt er beiseite, denn: Nichts davon hat es jemals außerhalb der alteingesessenen sozialen Konstruktionen, Institutionen und Ungleichheiten gegeben, nein, diese sind der Technologie sogar ins Innerste eingeschrieben.

Als Beispiele nennt er die versteckten Profitmotive der Open-Source-Bewegung, wie sie Fred Turner aufgezeigt hat oder die Tatsache, dass Wikipedia die Kreation von Wissen ein paar weißen Männern aus den Händen genommen hat, nur, “um sie in die Hände von ein wenig mehr weißen Männern zu legen.” Er führt Lawrence Lessig und Saskia Sassen an, die die soziale und historische Bedingtheit von Computer Code erläutern, oder Danah Boyd, die gezeigt hat, wie stark Coding-Entscheidungen auf sozialen Netzwerkseiten aus den Voreingenommenheiten der (zum Großteil männlichen) Webingenieure resultieren – und das nicht selten zum Nachteil weniger mächtiger und verletzlicherer Menschen. Dass, wie Jurgenson meint, dominante Gruppen sich selbst als “neutrale” bzw. “natürliche” Menschen betrachten, hat eine lange Tradition. Und wer behauptet, Technologie sei objektiv und entsprechend in ihrem Rahmen handelt, ist ein Teil davon: Die Annahme einer Objektivität des Netzes und generell von Technologie ist ebenso wie der gesamte Digitale Dualismus nicht einfach nur falsch; sie ist auch gefährlich, da auf diese Weise Formen sozialer Ungleichheit unsichtbar gemacht werden.

Nathan 1

“Im Falle von Onlinedrohungen gibt es eine Person, die die Realität des Internets ganz intuitiv zu spüren bekommt: Die, die bedroht wird”, sagt Jurgenson. “Dass das, was im Netz passiert, nicht real sei, ist eine Konstruktion, die denen, die eine Drohung äußern, und denen, die sie rechtlich untersuchen, viel leichter fällt, als denen, die von ihr unmittelbar betroffen sind. Einer Frau zu sagen, sie solle doch ihr Laptop einfach eine zeitlang nicht mehr benutzen, ist, als würdest du ihr empfehlen, ihre Familie eine zeitlang nicht mehr zu sehen.” Trotzdem wird genau dieser Ratschlag von nicht besonders netz-affinen Polizist*innen nicht selten Frauen erteilt, die eine Internet-Vergewaltigungsdrohung zur Anzeige bringen wollen. Die Journalistin Amanda Hess erklärt: “Das ist für viele Frauen aber keine Option: Digitale Netze werden verwendet, um Communities zu finden, die sie unterstützen, um Geld zu verdienen oder um Auffangnetze zu spannen. Für eine Frau wie mich, die alleine lebt, ist das Internet kein Zeitvertreib zum Spaß oder zur Zerstreuung. Es ist eine notwendige Ressource für die Arbeit und gibt mir die Möglichkeit mit Freund_innen oder meiner Familie Kontakt zu halten.” Nathan Jurgenson kritisiert: “Silicon Valley hat die Macht, die Gesellschaft nach seinen Werten zu formen, die Offenheit und Konnektivität priorisieren. Aber warum wird es Ingenieuren [zum Großteil sind es Männer, Anm. E.M.] in Kalifornien überlassen, für Menschen überall auf der Welt zu entscheiden, was eine Belästigung ausmacht?”

Auch hier zeigt sich von welch großer Bedeutung die Perspektive der Augmented Reality ist: “Wenn wir begreifen, dass Politik, Strukturen und Ungleichheiten der physischen Welt ebenso Teil der digitalen Sphäre sind – einer Sphäre, die von Menschen mit Geschichten, Standpunkten, Interessen, Moralvorstellungen und Voreingenommenheiten errichtet wurde – dann ist das der erste Schritt um sie sichtbar zu machen und reflektieren zu können.” Und erst von diesem Punkt aus kann sinnvoll kritisiert und wirkungsvoll interveniert werden. Netzabstinenz aber ist weder eine Lösung für Belästigung im Netz noch um wieder in “Einklang” mit unserem vermeintlich “authentischen” Selbst zu gelangen.

The Liquid Self

“And our selves are not separated across these two spheres as some dualistic “first” and “second” self, but is instead an augmented self. A Haraway-like cyborg self comprised of a physical body as well as our digital Profile acting in constant dialogue.”*

Zwischen Konzepten des Selbst als vermeintlich authentischem Ausdruck einer seelenhaften Essenz und dem Selbst als Produkt sozialer Konstruktion und Performanz besteht ein Konflikt, den Jurgenson weit vor die Zeit der Social Networks zurückverfolgt: Von Max Weber über Zygmunt Bauman, von Jean Baudrillard bis zur Frankfurter Schule gibt es eine lange Tradition, die davon ausgeht, dass, wann immer die „natürliche“ Welt im Namen von Bequemlichkeit, Effizienz oder Sicherheit eine Veränderung erfährt, dies stets mit einem Verlust eines Teils ihrer Essenz oder Wahrheit einhergeht. Ganz besonders gilt das für Identitätstheorien. Von Cooleys „Looking Glass Self“ über Foucaults „Arts d’existence“ bis zu Butlers „Identitätsperformativität“: Theorien des Selbst setzen sich schon lange mit der Spannung zwischen Realem und Pose auseinander. Die genannten Theorien sind sich, so Jurgenson, auch einig darin, dass Menschen in der westlichen Gesellschaft generell ungern zugeben, dass das, was sie sind, strukturiert oder performt wird: „Poser“ oder „Selbstdarsteller*in“ genannt zu werden, stellt eine Beschimpfung dar; sich selbst treu sein dagegen drückt eine fixe Wahrheit des Selbst aus.

Der Diskurs der Digitalenthaltsamkeit nimmt genau diese Spannung auf: „Wenn das Digitale als ausschließlich virtuell missverstanden wird, dann fühlt sich das Ausklinken wie ein mutiges Wiedereintauchen in die Wildnis und Natur der Realität an. Wenn Identitätsperformance als Nebenprodukt von Social Media abgetan werden kann, dann haben wir eine neue Lösung für das alte Problem der Authentizität: „Klink dich aus! – Deine Menschlichkeit steht auf dem Spiel!“ Als ob durch die Abkehr von Technologie ein fixes authentisches Selbst wiederhergestellt werden könne. Jurgenson hält fest: „Wir können nicht weiterhin die Person als das zeitlich und kausal Vorgängige ansehen, und das Profile als etwas, das nur eine Darstellung derselben ist. Wir haben klare stichhaltige Belege dafür, dass die Person vom Profile* mitkonstruiert wird. Das Erleben erschafft die Dokumentation, und die Dokumentation erschafft das Erleben.“

Umso wichtiger ist es, ein dynamischeres Verständnis des Selbst durchzusetzen: „Anstelle eines einzigen, sich nicht verändernden Selbst, sollten wir uns ein fließendes Selbst, ein ‚Liquid Self’ vorstellen, eines das mehr Verb als Substantiv ist.“ Je mehr wir allerdings darauf beharren, dass digitale Vernetzung unser authentisches Selbst bedroht, desto mehr stärken wir die Fiktion eines fixen Selbst.

Pathologisierung des Digitalen

The smartphone is a machine, but it is still deeply part of a network of blood; an embodied, intimate, fleshy portal that penetrates into one’s mind, into endless information, into other people. These stimulation machines produce a dense nexus of desires that is inherently threatening. Desire and pleasure always contain some possibility (a possibility — it’s by no means automatic or even likely) of disrupting the status quo.

Der Aufruf zur digitalen Abstinenz geht oft mit einer Pathologisierung einher, wie Jurgenson feststellt. Kaum verwunderlich, wenn du bedenkst, dass es ja letztlich bei der Authentizitätsbesessenheit um eine Festschreibung dessen geht, was als normal gelten soll. Und was ist das Normale anderes, als eine Form des Gesunden? An Foucault erinnernd, der gesagt hat, beim Diagnostizieren einer Krankheit ginge es immer gleichermaßen darum, festzulegen, was gesund sei, fragt Jurgenson, was hier als neue Formen von Gesundem, von Normalität erschaffen werden soll. Es soll uns eine Technologieverantwortlichkeit auferlegt werden, die einen neuen Typus der Regulierung von Lust darstellt: Das digitale Verlangen gehört, gesehen und informiert zu werden, soll kontrolliert werden.

Digitale Enthaltsamkeit ist ein Polizist, den wir uns in unsere Köpfe heruntergeladen haben und der uns immer unser persönliches Verhältnis zu digitalem Verlangen bewusst macht.“ Der Angst vor dem Kontrollverlust wird durch Regulierung ein Riegel vorgeschoben: Neue Tabus werden errichtet, damit auch das digitale Verlangen nicht die Grenzen dessen überschreitet, was als „natürlich“, „menschlich“, „real“, „gesund“ und „normal“ gelten soll – „authentischer Widerstand gegen anderer Leute ungesundes und unauthentisches Sein“. Er führt aus: „Um ein Verlangen zu neutralisieren, muss ein moralisches Problem daraus gemacht werden, dessen wir uns ständig bewusst sind: Ist es okay, hier auf einen Bildschirm zu starren? Wie lange? Wie hell darf er sein?“

Das kennen wir zum Beispiel von den Beschwerden über hochgereckte Smartphones bei Konzerten. Das Unsound Festival hatte 2013 sogar ein Smartphoneverbot ausgesprochen – ein Statement für das authentische Erleben? Jurgenson stellt das in einem Interview mit Jason Farman in Frage: Wenn wir jede Technologie als etwas sehen, das uns am „echten“ Erleben hindert, sollten wir einmal unsere Handies wegstecken und eine Liste der Dinge erstellen, durch die das Konzert immer noch durch Technologie vermittelt erfahren wird. Die Architektur des Raums, dass wir Richtung Bühne blicken, ist eine Technologie, die unser Erlebnis formt. Auch was wir zum Konzert anziehen, markiert eine Technologie der Selbstpräsentation. Jurgenson wehrt sich dagegen, dass wir gegenseitig unsere Authentizität kontrollieren oder einander bewerten, wer nun authentischer und damit menschlicher ist. Wir sind alle Poser, selbst jene Leute, die bewusst keine Fotos auf Konzerten machen, um uns zu damit zeigen, dass sie für den Moment leben. Ein Konzertfoto oder Selfie heischt nicht unbedingt eitel um Aufmerksamkeit, sondern kann auch einfach der Kommunikation dienen; kann sagen, wo wir gerade sind oder dass wir es schön fänden, wenn noch andere da wären. Wir sollten Leuten gegenüber Verständnis haben, die ein soziales Erlebnis kommunizieren, ganz gleich auf welche Weise sie das tun. Besteht nicht, fragt Jurgenson, der eigentliche Narzissmus der Social Media in der kollektiven Vertiefung darin, sie regulieren zu wollen und zu entscheiden, was für andere erlaubt und gesund sei?

Die digitale Regulierungswut äußert sich oft unreflektiert. Ein Beispiel dafür lässt sich dort finden, wo sich sexuelles und digitales Verlangen vermengen: Sexting, das, vor allem wenn es um Jugendliche oder Frauen, geht, geradezu dämonisiert wird. Jurgenson enlarvt das als Teil einer gesellschaftlichen Tendenz, die sexuelle Handlungsmacht von Jugendlichen und Frauen auszublenden: als ob Sexting automatisch etwas wäre, das ihnen angetan oder von der Technologie auferlegt wird. Als ob es auf keinen Fall als Handlungsmöglichkeit betrachtet werden könne, bei der sie sich aus eigener Entscheidung spielerisch ausprobieren. Dass Sexting gerade für sozial verletzlichere Menschen eine sicherere Option sein kann, als sich auf körperliche sexuelle Interaktion einzulassen, wird dabei meist ignoriert.

Was hier eigentlich reguliert werden soll, ist das sexuelle Verlangen von Jugendlichen und Frauen: „Die Probleme, die mit Sexting assoziiert werden, haben mehr mit Sexismus als mit Sex oder Technologie zu tun.“ Jurgenson fordert stattdessen mehr Respekt im Umgang mit Privatsphäre und dem sexuellen Einverständnis, das an die Stelle von Victim-Blaming treten soll, wenn beim Sexting die Privatsphäre verletzt wird. Das wiederum verlangt nach einer Kritik der Geräte und sozialen Plattformen, die dafür zur Verantwortung gezogen werden sollten, wie viel Kontrolle sie den Nutzer*innen darüber einräumen, wie, mit wem und für wie lange sie etwas teilen.

Mehr Privatheit denn je

Es besteht kein Zweifel, dass wir durch Social Media öffentlicher geworden sind: Wir posten mehr Informationen über uns. Durch Smartphones sind wir häufiger mit dem Netz verbunden als früher, und ständig werden neue Informationsschichten erfunden: vom geographischen Check-In bis zum Herzschlagmesser der Health-App. Stärker noch als zu der Zeit, als Anonymität und Fakenamen noch üblich waren, sind unsere Onlineaktivitäten bei Facebook, wo die meisten Nutzer*innen mit ihrem Realnamen angemeldet sind, oder beim Online-Shopping mit unserer physikalischen Welt verknüpft. Jurgenson behauptet allerdings, dass mit unserer wachsenden Öffentlichkeit auch unsere Privatsphäre gewachsen sei: „Wir stellen uns Privatheit und Öffentlichkeit als Konflikt vor. Tatsächlich aber sind sie wie der Fächertanz ein sich gegenseitig verstärkendes System.“ Jurgenson und PJ Rey zitieren dazu den frühen Hacktivisten Eric Hughes: „Privatheit bedeutet, die Macht zu haben, selbst zu wählen, was der Welt von uns gezeigt wird.“

Um ihre Position zu illustrieren, greifen sie zu einem Bild aus der Burleske: dem erotischen Fächertanz. Nicht der komplett entblößte oder gänzlich verhüllte Körper des/der Tanzenden kennzeichnet ihn. Sein Reiz entsteht aus dem kreativen Wechselspiel, bei dem manches gezeigt und anderes verdeckt wird. Privatsphäre liegt in der dialektischen Performance und ist kein fixer, vor den Augen der anderen verborgener Ort. Wie aber kommt Jurgenson darauf, dass dies bedeute, dass mit unserer Öffentlichkeit auch unsere Privatsphäre wächst? Jedes Stück Information, das wir preisgeben, verbirgt genauso viel von uns, wie es enthüllt. Auf Bataille zurückgreifend erklärt Jurgenson, dass immer, wenn wir etwas Neues lernen, zugleich unser „Vorrat an Nicht-Wissen“ anwächst. Mit jeder neuen Information können wir Fragen stellen, die wir zuvor nicht hätten stellen können. Genauso verhält es sich mit unseren Informationen im Rahmen der Social Media: Wenn jemand ein Foto postet, können wir uns fragen, wer es gemacht hat, wer dabei noch anwesend war, wie es in Verbindung zu anderen in einem Album steht. Auch wenn wir uns diese Folgefragen nicht bewusst stellen, wissen wir doch stets, dass jede einzelne Information nicht die ganze Geschichte eines Ereignisses enthalten kann.

Ethik der Straßenfotografie

Neben der Kontrolle darüber, was wir zeigen, gehört zu einer funktionierenden Privatsphäre auch die darüber, wann und wo wir das tun. Nathan Jurgenson erläutert, wie die Überwachung durch Konzerne und Regierungen genau so wie allgegenwärtige Handyschnappschüsse zu einer kulturellen Perspektive geworden sind, bei der die Welt mit der Ethik von Straßenfotograf*innen behandelt wird: „Menschen in der Öffentlichkeit sind Objekte, die für sich beansprucht und ausgestellt werden können.“ Der Blick des oder der Straßenfotograf*in fängt ein, was provokativ oder catchy an jemandem ist – ihre Viralität, in Webspeak ausgedrückt. Im richtigen Moment wird abgedrückt und das Flüchtige eingefangen, um es in etwas Produktives zu verwandeln: Es wird gesammelt, zur Schau gestellt und sogar zu Geld gemacht.

Dieses „public’s public“-Denken, das alles Öffentliche als dokumentarisches Freiwild betrachtet, bleibt nicht auf den Bereich der Fotographie beschränkt: Tweets werden aus ihrem Zusammenhang, ihrem Stream, gerissen und auf News-Sites gepostet. Jurgenson erzählt auch von einer App, die öffentlich gepostete Facebook- und Foursquare-Daten dafür nutzte, um Frauen in der Nähe anzeigen zu lassen. Kritik erfolgt meist ähnlich wie beim Sexting als Victim-Blaming. Jurgenson zitiert dazu aus einem Artikel von Kashmir Hill aus der Forbes: „’You’re too public with your digital data, ladies,’ may be the new […] ‘your skirt was too short and you had it coming.’“ Einen Höhepunkt dieser Logik sieht er mit Google Glass erreicht, denn hier ist nicht einmal mehr erkennbar, ob du gerade gefilmt wirst oder nicht. Inzwischen gibt es vermehrt auch kritische Stimmen, z.B. die Datentheoretikerin Helen Nissenbaum, die Einwilligung und kontextuelle Integrität fordern, also dass Erwartungen, die dadurch entstehen, wo etwas gepostet wird, auch eingehalten werden. Denn: Öffentlich ist eben nicht gleich öffentlich.

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Endloses Archiv

Ein anderer Zenit ist im Überhandnehmen des Dokumentierten erreicht. „Ein Foto“, so Jurgenson, „ist genauso aus Zeit gemacht wie aus Licht.“  Theoretiker wie Andreas Kitzmann („museale Geste“) oder Jean Baudrillard („Museumifizierung“) haben die Logik der Kamera als Inbesitznahme eines Erlebnisses interpretiert. Wo früher nur wichtige Ereignisse fotografisch festgehalten wurden, ist heute infolge der Allgegenwart von Fotografie der Punkt erreicht, an dem es einem besonderen Augenblick letztlich mehr Gewicht verleiht, ihn nicht zu dokumentieren, als ein Foto davon zu machen. Je mehr Fotografien es gibt, desto weniger bedeuten sie. Instagram mit seinen nostalgischen Faux-Vintage-Filtern sieht Jurgenson als einen exemplarisch gescheiterten Versuch, Bildern durch optische Angleichung an historische Fotos wieder mehr Gewicht zu verleihen: zu „versichern, dass gegenwärtiges Leben genauso authentisch und nostalgiewürdig ist wie die scheinbar seltenen Bilder unserer analogen Vergangenheit.“

Das Festhalten an einem kategorisierbaren archivierten Selbst, wie es unsere Selbstdarstellung auf Social Networks wie Facebook verlangt, engt uns ein. „Dahinter steht eine Philosophie, die das Unordentliche und die Fluidität des Selbst nicht einfängt und daran scheitert, Wachstum zu feiern, und die vor allem schlecht für die am sozial Verletzlichsten ist.“ Nostalgie ist für Jurgenson eine Form der Besitzstandswahrung: Ihr gehe es darum, das Leben anzuhalten, zu behalten, in soziales Kapital umzumünzen – im Gegensatz zu einer Perspektive, für die es in Ordnung ist, dass Dinge vergehen, weil es Raum für Veränderung schafft. Bei den meisten Social Networks gehe es jedoch nur darum, die Gegenwart als zukünftige Vergangenheit zu fixieren. Facebook prägt unser Erleben dahingehend, dass wir unser Leben als etwas betrachten, bei dem wir jederzeit kurz die Pausetaste drücken können, um es zu dokumentieren, als wären wir sammelwütige Museumskurator*innen. Unser Leben wird in die statischen Kategorien des Profils gepackt. Schon immer gab es eine Spannung zwischen dem Erlebnis um seiner selbst willen und dem Erlebnis zum Zwecke seiner Dokumentation, aber Social Media haben sie bis zum Zerreißen ausgereizt.

Temporäre Social Media

Als einen radikalen Einschnitt empfand Jurgenson Snapchat, eine App, mit der sich Leute gezielt Bilder zusenden können, die nur für wenige Sekunden sichtbar sind, bevor sie automatisch wieder gelöscht werden: temporäre Fotographie. Auch Snapchat ist ein „Versuch der Re-Inflation“. Nathan Jurgenson sieht Parallelen zu temporärer Kunst wie sie Eisskulpturen oder Objekte der Decay Art darstellen. Solche Fotos würden nicht gemacht, um gesammelt oder archiviert zu werden. Sie sind schwer fassbar und entziehen sich der Systematisierung und Taxonomie im Rahmen eines Bewertungsschemas. Sie lassen die Gegenwart dort, wo du sie vorgefunden hast, statt sie als zukünftige Vergangenheit einzufangen. „Temporäre Fotografie fühlt sich mehr wie das Leben selbst, und weniger wie eine Dokumentation desselben an. … Als solche, ist die temporäre Fotografie zwangsläufig weniger sentimental und nostalgisch. Indem sie schnell ist, ist temporäre Fotografie ein kleiner Protest gegen die Zeit.” Archivierte Social Media fokussieren auf die Details eines Fotos, während temporäre Social Media darauf fokussieren, was es bedeutet und in dir bewegt hat. Sie inspirieren die Erinnerung, weil sie die Möglichkeit des Vergessens feiern.

Derzeit ist Archivierung die Standardeinstellung der Social Networks und Angst vor Inkonsistenzen prägt die damit einhergehende Identitätspolitik. Temporäre Social Networks könnten dazu beitragen, dass wir unsere Identität weniger als archivierte (bzw. als die Möglichkeit zur Archivierung implizierende) begreifen, und stattdessen eine mehr in der Gegenwart verortete Identität annehmen.

„Die Standardeinstellung von Social Media-Nutzer*innen die danach verlangt, sich ständig aufzunehmen und zur Schau zu stellen, beeinträchtigt die unschätzbare Bedeutung des Spiels mit Identitäten. Anders gesagt: Viele von uns sehnen sich nach Social Media, die weniger wie ein Kaufhaus und mehr wie ein Park sind. Viel weniger standardisiert, eingeschränkt und kontrolliert, ja, der Park ist ein Ort, an dem Du etwas Dummes anstellen kannst. … Fehler jedoch sollten gar nicht erst vermieden werden, weil das genau das ist, was die dominanten sozialen Netzwerke von uns verlangen, und was sich in unserer ständigen Über-Vorsicht dabei niederschlägt, was wir da posten.“

Stattdessen wären Plattformen sinnvoll, die Raum dafür bieten, sich auszuprobieren, ohne dass dieses Verhalten immer gleich festlegt, wer du bist und was du tun kannst. Das könnte unsere Beziehung zu Onlinesichtbarkeit, Datenprivatsphäre, zu Rechten an Inhalten und dem Recht auf Vergessen sowie sozialem Stigma und Shaming verändern. Langfristig hält Nathan Jurgenson es für wichtig, dass wir insgesamt unsere kulturelle Normen ändern, die derzeit Perfektion, Normalisierung und sich nicht veränderndes Verhalten als höchstes Gut ausgeben. Stattdessen sollten wir unser sich stets veränderndes Selbst annehmen: „Wir könnten die Norm der Identitätskonsistenz aushöhlen, weil diese Norm sowieso niemand erfüllen kann, und Veränderung um ihrer selbst willen feiern. Veränderung wäre dann kein Makel mehr, sondern etwas Positives ein Beleg für unser Wachsen; ein Identitätsmerkmal und kein Identitätsmakel.


* = Nathan Jurgenson benutzt „Profile“ als Term für das Daten-Set unserer kompletten Onlinepräsenz, während „profile’“die Präsenz auf einem spezifischen Webservice ist.

Dieser Text erschien zuerst in Print, in der Testcard #24: Bug Report. Digital war besser.

Wer das alles spannend findet, sollte sich auf keinen Fall die von ihm mitorganisierte Konferenz THEORIZING THE WEB entgehen lassen, die am 17./18. April in New York stattfindet. Sie ist auch per Livestream und prima moderierten Twitter-Hashtags mitzuverfolgen. Das Programm liest sich auch dieses Jahr wieder superinteressant.

Leseempfehlungen:

Nathan Jurgenson:

The Disconnectionists“, in: The New Inquiry 22

The IRL Fetish“, in: The New Inquiry

When Atoms Meet Bits: Social Media, the Mobile Web and Augmented Revolution“, in: Future Internet

The Facebook Eye“, in: The Atlantic

Digital Dualism versus Augmented Reality“, in: Cyborgology

Digital Dualism and the Fallacy of Web Objectivity“, in: Cyborgology

The Data Self (A Dialectic)“, in: Cyborgology

The Liquid Self“, in: Snapchat Blog

Nathan Jurgenson on Photography, Self-Documentation & Social Media – interview by Jason Farman (Youtube)

On Sexting“, in: Nathan Jurgenson Blog

Rethinking Privacy and Publicty on Social Media: Part I“, in: Cyborgology

Why Privacy Is Actually Thriving Online“, in: Wired

“The Fan Dance: How Privacy Thrives in an Age of Hyper-Publicity”, in: Geert Lovinkg und Miriam Rasch (Hg.): Unlike Us Reader. Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2013. S. 61

Permission Slips“, in: The New Inquiry

Pics and It Didn’t Happen“, in: The New Inquiry

Temporary Social Media“, in: Snapchat Blog