Streit-Kräfte

Dieser Text hat heut früh eigentlich als Rant über einen Podcast angefangen, wurde jetzt aber ein bisserl mehr: Es ist auch ein raues Nachdenken darüber, wie ich gerade das online Streiten über den Krieg wahrnehme und ist so chaotisch wie halt derzeit meine Gedanken dazu sind.

Beide Konfliktparteien seien unversöhnlich, beide Seiten müssten zu Konzessionen bereit sein, Dämonisierung von Putin sei nicht hilfreich, man müsse ihm eine Brücke bauen – das ist also dieser ‘Streitkräfte und Strategien’-Podcast, den so viele empfehlen? Sorry aber: Was für ein verkürzter seltsamer Blick auf die Lage.

Die Ziele Putins werden reduziert auf geopolitische und militärische Machtlogik, kein Wort darüber, dass wir es hier mit einem völkisch-nationalistischem (Alp)Traum von einem wiederauferstehenden und upgedateten Zarenreich zu tun haben. “Völkisch” in dem Sinne, dass es auf einer wirren Idee einer überlegenen eurasischen Kultur basiert, und auch der von mir, seit ich ihn bei Holly Jean Buck gelesen habe so gerne gedroppte Begriff des “Petromaskulinismus” gehört (geprägt wurde er von der Politikwissenschaftlerin Cara Dagget).

Man kann natürlich glauben oder nicht glauben, dass es möglich ist, solch verbohrte Ideologen wie Putin an den Verhandlungstisch zu zwingen (ich bin skeptisch). Man kann natürlich glauben oder nicht glauben, dass mehr Waffen und mehr Streitkräfte die Lösung seien und das andere Staaten zum Eingreifen verpflichtet seien (meines Erachtens ist es keine Lösung und schon gar nicht gegen eine so starke Militärmacht, das muss selbst Kriegslogikern klar sein). Man kann natürlich glauben oder nicht glauben, dass härtere Sanktionen und Hilfe für die fliehende Zivilbevölkerung der fruchtbarste Weg sind (das ist derzeit der Standpunkt, den ich mir zusammengereimt habe, und ja, ich bin mir im Klaren darüber, dass das auf Kosten der Zivilbevölkerung gehen kann und auch hierzulande hart werden kann, aber besser als mehr Kriegstote und Zerstörung ganzer Landstriche oder gar Eskalation zum Nuklearkrieg). Es gibt bestimmt noch mehr Haltungen dazu, und Variationen davon, aber diese drei waren für mich in den letzten Tagen die, an denen entlang ich mir vorsichtig meine Haltung geformt habe.

Ich bin dankbar für die vielen wilden Diskussionen, die derzeit auf Facebook und Twitter dazu laufen. Die meisten sind wie ich ja erst mal total lost, was das Thema angeht, man hat so grobe Meinung dazu, ist schockiert, hilflos und traurig, und weiß nicht wohin damit, was tun, die Frage “wohin kann ich Kleidung spenden” ist ein typischer Ausdruck dieser Hilflosigkeit geworfen, ein anderer ist das Verfassen langer emotional-distanzierter linker Theorieposts, andere gehen gleich zur direct action über und organisieren Fahrten zur Grenze, um Flüchtlinge einzusammeln, andere machen Spendenaktionen, da entspinnen sich dann Diskussionen dazu, ob man fürs Militär spenden sollte, aber worauf ich eigentlich rauswollte: Die ganzen geteilten Artikel, Kommentartweets, Informationen, politischen Essays, Facebook-Posts die spontanes lautes Denken sind, das Anschluss sucht, und die daraus resultierenden Diskussionen, die auch schmerzhaft an Freundschafts- oder Freundlichkeitsgrenzen gehen, das alles ist herausfordend, aber eben auch großartig: Es ist demokratische Meinungsbildung in action und ich lerne so viel und fühle mich davon gleichermaßen durchgerüttelt wie aufgefangen.

Manche versuchen, das Kleinzureden, so von wegen, Leute die keine Ahnung haben, sollten lieber still bleiben. Ich sage, im Gegenteil! Genau diese Haltung ist undemokratisch und eine Expertokratie ist gewiss nicht das, was wir anstreben sollten, egal ob Militärexperten oder linke Theorie-Bros, sondern genau im Äußern auch unserer relativen Unwissenheit und Unsicherheit auf vielen Gebieten, den forschenden Gedanken, Sichtbarmachen von Fragen und von Denkprozessen, mal geduldig mal wütend, und auch Rummaulen darüber, dass etwas unverständlich sei, aber vor allem, sich immer wieder und weiter austauschen, sich fragend und kritisierend aufeinander zubewegen, darin liegt doch das, was die Gesellschaft und Demokratie ausmacht. (Und beg your pardon, hardcore-linke Freund*innen, aber ich strebe schon im Hier und Jetzt in dieser unperfekten Gesellschaft nach einem besseren solidarischen Leben und möchte daran rumbauen, und nicht alles auf eine Revolutionsutopiekarte setzen.)

Die Angst, sich nicht genug auszukennen und was Falsches zu sagen, und plötzlich als zu woke/marxistisch/bürgerlich, nicht woke/marxistisch/bürgerlich genug gecancelt zu werden, ist für viele eine stete Begleiterin in der Social Media Öffentlichkeit, weil viel zu lange unwidersprochen kleingeistige oder kleinherzige Kleinmacherei stehen gelassen wurde, online als “nicht echte” Kommunikation missverstanden wurde, man lieber schwieg als sich mit Bekannten anzulegen, es sind viele Gründe, aber es sind inzwischen viele Stimmen verstummt und in private Chatgruppen, in die Insta-Stories oder Newsletterkultur oder gar in ihre Offline-Filterbubbles vertrieben, und ich vermisse viele. Aber das ist ein anderes Thema.

Eigentlich wollte ich ja nur eine Kritik daran loswerden, was dieser Podcast da (zumindest in seiner aktuellen Folge) als angeblich neutral-objektive Analyse abliefert. Ein Nachrichtenmedium sollte doch mehr leisten als jemand, der oder die auf Social Media zu einem Thema laut denkt. Dieser Bothsideism, als wäre die Ukraine genauso Agressor in diesem Krieg wie das russische Regime, sollte in einem Podcast nichts verloren haben, dessen Moderatoren sich sachliche Information und Analyse auf die panzerbewehrten Brüste schreiben. Und nebenbei: Das Wort “Konflikt” kann im Kontext dieses Kriegs auch mal vom Tisch. Es suggeriert, dass beide Seiten schuld seien und verschleiert die Tatsache, dass es ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg eines machttrunkenen autoritären Regimes ist.

Wie könnte eine alternative und demokratischere Berichterstattung und Erörterung aussehen? Mindestens wäre sie um eine ideologische Analyse der Ziele Putins zu ergänzen, aber vor allem fehlt der Fokus auf die zivilen Betroffenen. Auf die Realität und Strategien der Vielen, die sich jetzt zum Krieg irgendwie verhalten müssen, ob kämpfen, ob fliehen, ob helfen und wie. Das sollte heutzutage gleichberechtigt in eine Kriegsanalyse mit rein.

Eigentlich haben wir doch schon viel darüber gelernt, was falsch an unserer jahrhundertelangen westlichen “aufklärerischen” Feldherrenperspektive auf die Geschichte war und was sie alles ausgeklammert und komplett verfälscht dargestellt hat. Daraus muss sich doch auch für aktuelle Ereignisse und Formen der Berichterstattung und Analyse was lernen lassen.

Statt, halb vom Krieg, halb von der Aufmerksamkeit, die die Herren Kriegsberichterstatter plötzlich haben, berauscht etwas davon zu faseln, dass Gefühle in ihrer “sachlichen” Analyse keinen Raum haben, einer Analyse – sorry, ich muss noch mal ausschwenken, weil ich mich so geärgert habe, hätte es nicht vorm Morgenkaffee anhören sollen, aber ich hab ja eingangs schon gewarnt, dass es ein Rant wird – einer Analyse, die etwas von Sportberichterstattung hat: Militärstrategen werden wie Bundesligatrainer besprochen, die Chancen der Teams kalkuliert, usw. Vielleicht ist auch das eine Wurzel für den Bothsideism: Der Krieg wird gedacht, als träten hier Teams gegeneinander an, deren Skillset und Strategien man jetzt auf dem Spielfeld rumschiebt und rumdeutet. Das Leiden wird ausgeklammert. Da sollten wir doch heute weiter sein.

Deswegen: Zurück zur der Ansicht, Emotionen hätten nichts in Kriegsberichterstattung verloren, die #unsereJungs™ da heute in diesem Podcast äußerten. Natürlich stört es dabei, den Feldherrenfetisch auszuleben, wenn man die Perspektive der betroffenen Menschen einbezieht, und nichts anderes heißt dieses “Gefühle haben in einer sachlichen Analyse nichts verloren” ja. Es bedeutet nämlich nicht wirklich alle Emotionen beiseite zu lassen: Kriegsrausch, nationales Zusammenhaltsgefühl, Truppengeist, gefühlt-und-nicht-logisch-begründete Kriegs- und Aufrüstungsstrategien: Die sollen nicht ausgeklammert werden, nur nicht als Gefühl verstanden werden. Diese Gefühle werden als “rational” verkleidetund sogar noch verstärkt in dieser Form der Kriegsberichterstattung. Die Gefühle, die in dieser stark verengten Perspektive auf Krieg ausgeblendet werden sollen, und als unsachlich stigmatisiert werden, sind vor allem Empathie, Mitleid, solidarische Verbundenheitsgefühle mit Zivilbevölkerung überall, die sich nicht um Nationsgrenzen scheren. Dieser Zusammenhalt wird als uneigentlich dargestellt. Es soll auch kein Raum sein für Emotionen wie den Schmerz über verlorene Leben, verletzte Körper, sich verloren zu fühlen im Herausgerissenwerden aus gewohntem Umfeld, Verzweiflung über das Kippen des gewohnten Umfelds in ein Schlachtfeld, oder auch die Angst vor Repression und die frustrierenden Schwierigkeiten im Organisieren von Widerstand in Russland selbst (da war ich zum Beispiel für diesen Artikel dankbar), das Mitgefühl und die Hilfsbereitschaft von unten, die sich auch superschnell in praktisches Handeln jenseits von langsamer anlaufenden staatlichen Hilfen zusammengetan hat, wild wuchernd sich über Telegram, Facebook, Instagram, Twitter, vernetzt hat, Spenden sammelt, Wissen, Erfahrungen und Erlebnisse weitergibt, Frust, Hoffnung, Freude wenn etwas gelang, so viele Fremde die anderen Fremden vertrauen usw.

Warum nicht auch eine Kriegsberichterstattung, die in ihre Analyse genauso stark miteinbezieht, wie verlaufen die Truppenbewegungen der solidarischen Kräfte? Wo verlaufen die Grenzen, wenn in Nicht-Offiziellem grenzenlosem Helfen gearbeitet wird und durch was werden sie gesetzt? usw.

Ich sage wohlgemerkt nicht, dass das gar keinen Raum in den Medien findet, aber es findet keinen gleichberechtigten Raum. Meist ist es in einem Feelgood-Artikel, der zeigen soll, wie toll die Deutschen zusammenhelfen um anderen zu helfen. Es findet sich abgewertet gegenüber dem “Expertentum” sachlicher Kriegsanalyse, obwohl solche solidarischen Bewegungen von unten und über Fronten und Grenzen hinweg schon immer ein wichtiger Teil von Krieg waren. Es wird als eine weiche und uneigentliche Seite präsentiert, obwohl hier die Verbundenheit ist und wächst, die gegen Kriege steht.

Ach, mich macht die Kriegstrunkenheit, das Einschwören auf eine Kriegslogik und die behauptete Alternativlosigkeit derzeit schon wirklich hilflos-wütend. Es geht fast so schnell und eindimensional vonstatten wie nach 9/11 und das meine ich nicht als Vergleich der Ereignisse, sondern mich erinnert die schnelle, geschmacklose und undemokratischer Weise daran, mit der die Militärmacht-Lüsternen das Schockiertsein der Gesellschaft über menschliches Leid für ihre Ziele ausnutzen. Hallo, über Nacht 100 Milliarden für die Bundeswehr. Und ja, ich sage, dass hier Emotionen und Affekte ausgenutzt werden. Ohne Ängste und Hilflosigkeit angesichts des Kriegs in der Ukraine wäre das nicht so einfach durchgewunken worden, sondern es wäre zu großen Protesten gekommen. Aber hier stoppe ich mal diese bisschen wild gewucherten Gedanken.

Zum Schluss liebernoch die Worte einer anderen: Mein Lieblingswort diese Woche kommt von Eva von Redecker und lautet “thanatos-besoffen.” Sie twitterte am 28. Februar:

“Wer jetzt Thanatos-besoffen vom „Aufwachen in der Realität“ spricht, ist vollauf dabei, sich mit dem Aggressor zu identifizieren. Unterstützt lieber die, deren Realität von Autokratie, Homophobie, Imperialismus gezeichnet ist, und die für eine andere arbeiten.“

Anmerkungen:

P.S.: Der Podcast ist natürlich nur ein Beispiel unter vielen gerade, er wurde halt einige Male in meiner Timeline und dann noch im Drosten&Ciesek-Podcast empfohlen, woraufhin ich ihn heut früh anhörte und deswegen hat er jetzt diesen Rant abbekommen, aber es gibt natürlich etliche ähnliche Medienformate derzeit.
P.S.P.S.: Hab das heut vormittag schnell runtergetippt und wollte es eigentlich noch mal ruhen lassen und drübergehen, aber hab nicht die Zeit dafür, deswegen hau ichs jetzt einfach raus. Sind ja eh keine abgeschlossenen Gedanken.
P.S.P.S.: Dass ich gar so oft “man” verwendet habe, kann oder kann nicht als genderbewusste Widerspiegelung der lautesten und präsentesten und am meisten weitergereichten Stimmen der öffentlichen Debatte gerade verstanden werden.

Kartoffelchipsjournalismus – Viralität als Bento & Co

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‘Mein Kollege beim Social Media Watchblog, Martin Giesler, ist einer der Köpfe hinter Bento, und fragte, nachdem ich auf Twitter ein paar Mal Kritik an Bento auf Twitter gefavt und formuliert habe, was mich denn eigentlich konkret daran stört. Vorneweg: Ich glaube durchaus, dass Buzzfeedklone wie Ze.tt, Byou und Bento ‘funktionieren’ können, wenn ‘funktionieren’ heißen soll: ‘konsumiert werden und profitabel sein’. So gesehen funktionieren Kartoffelchips ja auch als Lebensmittel. Virale News sind das Junkfood unter den Medien, das in deiner Timeline lärmend nach Aufmerksam heischt, was ähnlich nervt wie Menschen die nur in Großbuchstaben tippen und leisere, subtilere, nachhaltigere Angebote aus der Facebook-Timeline verdrängt, die – so sagen es zumindest immer wieder Statistiken – zu großen Teilen der Ort ist, von dem Menschen ihre News bekommen.

“Sie sind halt weder queer Tumblr-Kids, noch nutzen sie Social Media wie die, die sie als Publikum anvisieren und “auf Augenhöhe” treffen wollen.”

Wo sich das englischsprachige Buzzfeed noch aus der Meme-Kultur und VICE aus der Fanzine-Kultur gewachsen anfühlten, wirken die ‘Neuen’ hierzulande oft konstruiert und ein wenig hölzern hinterherstelzend: Es wirkt meist wie ein Versuch, bei dem jung-dynamisch-erfolgsorientierte Journalist*innen etwas nachbauen, was sich anfühlen soll, wie wenn sich z.B. queer Kids auf Tumblr austauschen. Ich möchte ihnen nicht mal Begeisterung und gutgemeintes Engagement absprechen. Aber sie sind halt weder queer Tumblr-Kids, noch nutzen sie Social Media wie die, die sie als Publikum anvisieren und “auf Augenhöhe” treffen wollen. Da können sie noch so oft “RT≠Endorsement” und “hier privat” in ihre Twitter-Bio schreiben, oder gleich was ganz bewusst “was lustig abgefahrenes”, weil man das ja in diesem Internet so macht – es bleibt spürbar: sie sind Gast dort, sie haben bei Social Media immer den Blick darauf, wie sich etwas davon berufstechnisch verwerten lässt.

Apropos verwerten. Die Artikel von Bento & Co. sind wie bei Buzzfeed oft unentgeltliche Verwertung von Inhalten, die andere erstellt haben – oft Privatpersonen. Die selbstverständliche Exploitation, die Annahme soziale Netzwerke seien zum Melken da. Das hat Twitter mit seiner gestern vorgestellten Moments Funktion nun ja auch noch perfektioniert, indem es den Journalismus als Zwischenposten ausschaltet, und selbst Tweets zu Themen kuratiert. Ich musste über eine Guardian-Schlagzeile dazu schmunzeln: “Twitter launches its assault on news with Moments”. Aber täte es Journalismus nicht vielleicht auch ganz gut, wenn er sich wieder mehr auf eine eigene Identität und eigene Inhalte konzentriert, statt jedem neuen Social Network und Werbemöglichkeiten hinterherzuhecheln und seine Inhalte nach deren Regeln zu produzieren, ohne die ganzen Kompromisse und Abstriche, die er dabei macht, überhaupt noch in ihrer ganzen Fülle wahrzuhaben?

Bento & Co produzieren auf eine jugendliche Zielgruppe hin, sagen sie, 18-30 sagt Bento, glaube ich, sprich: diese Bilderbuchnetzjugend aus dem Statistikland, die ihr bestimmt auch von vielen Tech/SocialMedia Blogs kennt, in der US-Variante – und von da wird viel abgekupfert – sind’s die ‘Millenials’. Die Sprache auf Bento selber verwechselt gerne einen leichten Lästertonfall mit jugendlicher Sprache, und Spartentitel wie “Haha – hieß früher LOL” und “Streaming – Netflix and chill” hörst du an, dass sie erst an Jugendjargon im Netz kratzen, wenn er in einer Statistik oder den Twitter-Trends vorkam.

“Den Faux-Social Justice Warrior üben wir noch mal”

In eine eigene queere Sparte gleich mit einem Clip einzusteigen, in dem sich Schwule über andere Schwule beschweren, ist jetzt nicht gerade glücklich, aber solange der große Bruder Spiegel regelmäßig einen Fleischhauer gegen Gender hetzen lässt, wirkt die Queer-Sparte auf Bento eh etwas meh. Minoritätenthemen funktionieren aber halt viral, weil sie polarisieren. Grenzen zwischen Ernstnehmen und als Freaks ausstellen sind fließend bei Schlagzeilen wie: “Tucken unerwünscht! Jetzt trampeln auch noch Schwule auf Schwulen herum” oder “Ich setze mit dem Kopftuch ein feministisches Zeichen.” Feministische Themen wie das letzgenannte oder “feministischer Porno” rangieren bei Bento nicht unter Politik oder Kultur oder Arbeitsrecht, auch nicht unter “Gerechtigkeit”, sondern interessanterweise unter “Gefühle – Psyche, Liebe, Freundschaft.” Den Faux-SJW üben wir noch mal, gelle? Dafür ist die Legalisierung von Cannabis in USA unter ‘Gerechtigkeit’ zu finden. Diese Sparte sollte vielleicht auch insgesamt noch mal überdacht werden, da sie Konstellation wie diese hervorbringt, die ähnlich unsensibel gewählt sind, wie das eingangs gepostete Bild:

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11 Sachen, die typisch für Junkfoodjournalismus oder Clickbait sind

Wenn ich schon mal beim Durchgucken bin, hier noch ein paar Sachen, die für mich typisch für Junkfoodjournalismus oder Clickbait sind:

  • Immer wieder Versuch der Herstellung eines Wir-Gefühls, einer sozialen Beziehung durch Ansprache mit “Du”, das Behaupten persönlicher Relevanz (”x – und was das für dich bedeutet”, “x – und so kommst du da wieder raus”)
  • Platzieren von Reizwörtern in den Überschriften (”Tucken”, “rechtsextreme Dumpfbacke”, “süchtig machen”, “hassen”, “Hass”)
  • Listicles (”33 Dinge, die nur Erwachsene im Haus haben” usw.)
  • Quizzes (”Wieviel Käse steckt in dir” usw.)
  • viraler Videokram (Mauerkuchen backen, Pizza auflegen usw.)
  • Antriggern durch Frageform in Überschriften (“Was passiert, wenn man zerknüllte Einkaufszettel nachkocht?”)
  • Beiträge, die letztlich nur Weiterleitungen zu Inhalten woanders sind (Chelsea Manning Blog usw)
  • Versprechen einfacher Lösungen (”Geld verdienen mit einer Schnapsidee”, “Wie sich Krach unter Flüchtlingen verhindern lässt” usw.)
  • Unkritische Banalisierung grauenerfüllter und komplexer Themen (z.B. Massaker von Ankara)
  • Pseudo-Enthüllungsfloskel “wirklich” in Überschriften (So spießig sind wir wirklich; Wie es sich anfühlt, wenn man wirklich kein Gluten verträgt usw.)
  • Unklare Überschriften (”Das Leben dieses Models ist ein großer Witz” usw.)

“”Social Media Tauglichkeit” mit “Zielgruppe Jugendliche” gleichzusetzen tut letzterer Unrecht.”

Es ist für die Viralität sozialer Netzwerke gemachter Boulevard, nicht ernsthafter für Jugendliche gemachter Journalismus, und “Social Media Tauglichkeit” mit “Zielgruppe Jugendliche” gleichzusetzen tut letzterer Unrecht. Es ist keine Annäherung an ein jugendlicheres Publikum, es ist eine Annäherung an ein Journalismusverständnis, bei dem es mehr um die Qualität des Verkaufens als um die Qualität des Produkts geht.

“Ich will nicht noch mehr entertainende Nachrichten mit Wir-Gefühl in meinen Timelines.”

Mich stört es, dass immer mehr solcher Angebote geschaffen werden, mit dieser Vereinfachung komplexer Themen, eine quasi Sloganisierung, bei der Inhalte der viralen Form geopfert werden, bei der Medien wie Marketing funktionieren sollen, bei der ins Soziale vorgedrungen und ein ominöses Wir-Gefühl heraufbeschworen werden soll. Dieser immer mitwabernde Versuch Kontakt herzustellen, die persönlich zu triggern, ein Wir-Gefühl herzustellen – das ruft bei mir Assoziationen zur der “deutschen Unverkrampfheit” hervor, der Frank Apunkt Schneider in seinem Buch “Deutschpop halt’s Maul so treffend die Forderung einer Ästhetik des Verkrampften entgegensetzt. Sorry, ich will mit meinem Newsmedium nicht ‘befreundet’ sein. Diese Art der Aufdringlichkeit von Werbung und News empfinde ich, gerade wenn sie sich auf sozialen Plattformen unter die Status-Updates von Freundinnen und Freunden mischt, als ambiente soziale Übergriffigkeit.

Genauso wie Marken sich selbst gern als menschgewordenes Produkt “sozial” mit der Kundschaft verbinden wollen, will es diese Sorte Newsmedien. Leichte Konsumierbarkeit, Snackcharakter, Emotionalisierung, Polarisierung – Moment, da war doch noch was? Ach ja, die Bild ist ja auch die meistgelesenste Zeitung hierzulande, und fast jede große Tageszeitung hält sich ihren Martenstein oder Don Alfonso. Natürlich ist es völlig legitim, auch noch das xte boulevardisierte Newsangebot rauszuhauen und sich auf das Niveau von RTL-News zu begeben, aber es ist eben auch legitim, das Scheiße zu finden. Noch mehr Listicles, noch mehr Anbiederungs-, Empörungs- und Lästertonfall – das braucht es für mich wirklich nicht, auch wenn ich mich auch gern ab und zu über ein albernes Listicle amüsiere.

Ich will keine entertainenden Nachrichten mit Wir-Gefühl in meinen Timelines. Ich will kein Action-Movie Äquivalent von Nachrichten. Wenn ich ein Newsmedium ernst nehmen soll, sollte es formal durchaus mit Neuem experimentieren, aber dabei auf die Inhalte fokussieren, nicht nur auf höchstmögliche Verbreitung und bestes Entertainment hin. Mich würde auch mal eine Untersuchung dazu interessieren, inwieweit die Zunahme von Zuspitzung, Polarisierung und Vereinfachung in den Medien sich auf gesellschaftliche Diskussionen und Meinungsbildung und Konsensfindung auswirken. Abschließend noch: Ich fand übrigens die Bento-Kritiken von taz und DWDL durchaus passend – sie sind eben einfach genauso flapsig und vereinfachend geschrieben, wie sie Bento empfinden.

“Auch für mich gibt es natürlich positive Beispiele für neue Formen im Journalismus”

Um nicht nur negatives zu erwähnen: Auch für mich gibt es natürlich positive Beispiele für neue Formen im Journalismus. Da fällt mir natürlich der experimentierfreudige Guardian ein – nur ein Beispiel: Er ist eins der wenigen Medien, die es schaffen, Videoschnipsel unaufdringlich in Texte einzubringen, ohne dass die Texte nur noch wie Beiwerk, sondern tatsächlich die Videos ergänzend zum Text wirken. Aber lasst mich ein paar andere spannende Einzelbeispiele nennen:

“Dumbing-News means dumping news.”

Es gäbe so viele Möglichkeiten, aber Kreativität und Mut, in sie zu investieren, fehlen leider oft. Neue technische Spielzeuge machen nicht von allein neuen guten Journalismus. Periscope Streaming um des Streamings willen ist das neue Snowfall-Bauen, ein halbes Jahr nachdem alle schon vom Scrollen durch lauter Artikel genervt sind, bei denen das Snowfall-Format nur dazu diente, den fehlenden Inhalt zu strecken. Wenn neue Formate nur deswegen eingesetzt werden, weil das Publikum laut irgendwelche Statistiken dort zu finden sei, ohne dass ein Mehrwert bei der Vermittlung von Inhalten entsteht, sondern oft sogar eine Verschlechterung, Verstreuung und Banalisierung – dann läuft da was falsch. Bitte investiert lieber mehr in neue Ideen, statt in halbgare Varianten dessen, was es eh schon in rauer Menge gibt. Buzzfeed und VICE machen das, was sie machen, schon am besten, da kommt ihr – tut mir leid – eh nicht ran. Und es ist auch etwas peinlich, so offensichtlich zu kopieren, um an deren Publikum zu kommen. Ich weiß schon, auch die zwanzigste Chips-Geschmacksrichtung findet noch Käuferschaft. Aber. Je mehr Junkfood du produzierst, desto weniger werden Leute dafür zahlen wollen. Dumbing-News means dumping news.

P.S. Noch mal: Bento steht hier nur stellvertretend für die ganzen viralen Newssites, weil dank Verbindungen auf Social Networks seine Inhalte ein paar Mal zu oft in meiner Timeline gelandet sind, die ich sonst recht gut frei von solchem viralem Newskram gepflegt habe.

#Merkelstreichelt – Regieren ex negativo und wer shitstormt hier wen?

“Valar Merkelis!”*
Günter Hack

Die Bundeskanzlerin und das Flüchtlingsmädchen

Der Vorfall ist inzwischen bekannt: Merkel ging unter dem Titel “Gut leben in Deutschland” auf PR-Tour. Inszenierter Bürgerkontakt als Charemoffensive oder sowas war wohl der Plan. Das ging nach hinten los: “Kanzlerin Angela Merkel wollte das ‘wirkliche Leben’ sehen. Jetzt hat sie es gesehen. Und es schlug ihr mit der Faust ins Gesicht,” schreibt Viktoria Morasch (taz). Der Konfrontation mit einer ganz offen über ihre Situation redenden jungen Asylsuchenden und ihren Tränen hatte Merkel nichts Effektives/Emotionales entgegenzusetzen. Als eine kritische Hashtag-Aktion #Merkelstreichelt aufbrandet, realisiert die Presse die Relevanz und reagiert mit zahlreichen Artikeln, und auch etliche Blogs schreiben darüber. Ich bin endlich dazu gekommen, mir einiges davon durchzulesen und um mir einen besseren Überblick zu schaffen, hab ich mal thematisch zu einer Art kommentierten Presseschau sortiert:

Was vernichtend ausfiel, ist mal wieder die Berichterstattung über die Hashtag-Aktion, durch die der Vorfall überhaupt erst zu einem Thema für die Presse wurde. Deswegen als zweiter – vielleicht für manche sogar interessanterer –  Teil dies Blogposts eine Medienkritik: Wer shitstormt hier wen?

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Die ehrliche Kanzlerin

Manche blenden den Punkt Flüchtlingsproblematik und die Inszeniertheit der kompletten öffentlichen Figur Merkel aus, und versuchen sie als die ehrliche, authentische Kanzlerin ohne Schnickschnack in Szene zu setzen. Nico Fried (SZ) verteidigt Merkel: Nur weil sie Gefühle nicht politisch instrumentalisieren will, wirke sie meist “cool”, aber manchmal eben auch “kalt”. Er verzettelt sich beim Buckeln vor ihr darin, dass genau dieser Vorfall im Rahmen einer PR-Kampagne der Kanzlerin stattfand, die Emotionalisierung einsetzt, um sie als bürgernahe Politikerin zu inszenieren. Auch Michael Hanfeld (FAZ) betreibt Hofberichtserstattung: Böser hämischer Internet-Mob auf der einen Seite. Super ehrliche Kanzlerin, die an dieser Situation nur gescheitert ist, “weil sie die Kunst der Verstellung nicht so gut beherrscht wie viele andere ihrer Zunft.” Die Ehrlichkeit bestehe darin, dass sie sagt wie’s ist: “Deutschland kann auf Dauer nicht alle Flüchtlinge aufnehmen.”

Die Krise der Flüchtlingspolitik

Diese Aussage Merkels, dass “nämlich Deutschland nicht in der Lage sei, alle Flüchtlinge aufzunehmen, die es im Nahen Osten gebe”, entlarvt Thorsten Denkler (SZ) als unangebrachte Stimmungsmache gegen selbige: “Zum einen: Das verlangt auch niemand. Zum anderen: Deutschland leistet längst nicht so viel wie andere EU-Staaten.” Wenn der Artikel auch etwas arg auf der wirtschaftlichen Nützlichkeit von Flüchtlingen herumreitet, räumt er doch auch mit einigen falschen Klischees auf. Dass zweiteres bitter nötig ist und ersteres gefährlich, sollte in Zeiten, in denen CDU/CSU Politiker darauf, dass fast kein Tag mehr ohne Anschläge auf Flüchtlingsheime vergeht, so reagieren, dass sie in Sachen Flüchtlingspolitik Einsparungen fordern.

Vor der “Nützlichkeit” als Argument warnt auch Frida Thurm (Zeit), die eine von mehreren ist, die den Vorfall als misslungenen Realitätscheck für Merkels Flüchtlingspolitik beschreiben: “Da steckt das eigentliche Problem an Merkels Bürgerdialog: Das Regierungsprogramm wird konfrontiert mit der Realität. Da wird schnell klar, dass die Unterscheidung in ‘gute’ und ‘schlechte’ Ausländer, wie die Bundesregierung sie gerade mit ihrem neuen Asylgesetz festgeschrieben hat, nichts taugt.”

Annett Meiritz (Spiegel) stellt die Brutalität der deutschen Flüchtlingspolitik noch deutlicher heraus: “Asylanträge würden künftig schneller bearbeitet, betonte sie [Merkel]. Und die einzige Antwort, die wir haben, ist: Bloß nicht, dass es so lange dauert”, sagte sie wörtlich. Wohlgemerkt: Die einzige Antwort. Das ist zu wenig, und kaum eine Szene zeigt die Schwächen und Widersprüche deutscher Flüchtlingspolitik so klar und verdichtet wie das Gespräch zwischen der Regierungschefin und der Rostocker Schülerin.”

Désirée Linde (Handelsblatt) erweitert den Symbolgehalt des Vorfalls für Flüchtlingspolitik über Deutschland hinaus: “Wie hilflos Europa – und wenn man es größer betrachtet – die ganze reiche Nordhalbkugel angesichts der Flüchtlingsströme ist, die Krisen, Kriege, Hunger und Elend produzieren. Der Kontrast zwischen Politik und Realität wurde selten deutlicher.”

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Den Vorfall als Konfrontation mit der Realität der GroKo-Flüchtlingspolitik zu verstehen, bedeutet auch zu erkennen, wie sehr sich diese mit rechten Gruppierungen wie PEGIDA und AfD deckt. Regieren ex negativo: Merkel hat die Situation NICHT zu einem Appell gegen Fremdenfeindlichkeit genutzt, obwohl in Deutschland nun inzwischen schon alle paar Tage Unterkünfte Asylsuchender attackiert werden, obwohl ganze Dörfer in rechter Hand sind, obwohl sich dieser Vorfall, die Symbolkraft noch unterstreichend in Rostock abspielte. Mit diesem verantwortungslosen Schweigen macht sie sich Kanzlerin, die offener für die sogenannten besorgten Bürger als für humanitäre Hilfe ist.

Die Junge Welt lobt dementsprechend sarkastisch die Ehrlichkeit der Kanzlerin: “Das muss man Merkel lassen. An ihrer Politik ist deutlich ablesbar, dass sie Flüchtlinge lieber im Krieg sterben, in Lagern dahinvegetieren oder im Mittelmeer ertrinken lassen würde. Was die Kanzlerin in ganze Sätze fasst, entspricht exakt den Parolen, die der rassistische Mob 1992 beim Pogrom im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen brüllte. Ihr Kanonenboot ist voll.”

Rassismus, Extremismus der Mitte, er nährt sich auch davon, dass er unter dem Deckmäntelchen der Binnenpluralität in Nachrichtenmedien Raum gewährt bekommt. Da hilft auch kein rassismuskritischer Artikel, wenn dieser nur als die andere Seite zweier gleichberechtigt anerkannter ‘Meinungen’ Raum findet. Rassismus und andere Diskrimnierungen sind keine Meinungen und die Teile der Presse, die dies nicht (an)erkennen, machen sich mitschuldig an der Stärkung dieser Positionen. Ebenso wie jede*r einzelne Journalist*in, die nicht kritisch den Mund aufmachen, wenn dies in dem Blatt geschieht, für das sie selbst arbeiten. Um noch ein wenig mehr Licht auf das Wuchern fremdenfeindlicher Haltungen in Deutschland zu werfen, hier einfach mal kurz in meine Twitter-Timeline gegriffen und drei Blogposts zum Thema herausgefischt, alle von gestern: “Sterbende Dörfer fest in rechter Hand”, “Der hässliche Deutsche”, “Die Fremdenfeindlichkeit sitzt in der Mitte der Gesellschaft”.

Was ich mir aktuell von einer der großen Zeitungen wünschen würde, schon mal allein gegen das Abstumpfen und das Verlieren des Überblicks: So etwas wie das The Counted Projekt vom Guardian nur über Angriffe auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte in Deutschland. Wer ernsthaft glaubt, es gäbe dafür nicht genug Stoff, dem oder der empfehle ich z.B. Robert Andreasch auf Twitter zu folgen.

Der PR-Fail

Ein weiterer Fokus der bei Berichten über den #merkelstreichelt Vorfall Beachtung fand, war ihn als bloße Panne in der PR-Inszenierung der Kanzlerin zu lesen: Nicht ihre Politik ist das Problem, sondern die Inszenierung dieser Politik lief nicht rund. Der Postillon bringt das satirisch auf den Punkt: “Merkels Bodyguard gefeuert, weil er weinendes Flüchtlingsmädchen nicht rechtzeitig entfernt hat.” Das ist so entsetzlich treffend, weil es so nah an der Realität ist. Eine Politik, deren Vorgehensweise von ihrer Unsichtbarkeit lebt, von ihrem Verbergen in der Inszenierung, wurde in diesem Vorfall einen Moment lang sichtbar. Zutiefst unsoziale Strategien werden unsichtbar gemacht oder mit einem Twist als “unvermeidbar” verkauft, um sie besser durchsetzen zu könnenWie es in Der Welt Robin Alexander (dessen tumbes Treten gegen Kritik an der derzeitigen Flüchtlingspolitik als bloßen “moralischen Distinktionsgewinn des politisch Korrekten” zwar nicht von sehr viel sozialer Tiefe zeugt, aber der diese Marketing-Ebene) gut beschreibt: “Sie wird als patente Problemlöserin inszeniert, ja, als wandelnder Sachzwang. Der Euro muss gerettet werden, weil es ‘alternativlos’ ist. Griechenland muss dies und jenes tun, weil anonyme Institutionen, die der Bürger nicht kennt, und Regeln, die er nicht versteht, das eben so vorschreiben. Dieser gelebte Bürokratismus beruhigt die Deutschen, die Zeiten sind stürmisch genug.

Nebenbei gesagt: Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie Leute aus der PR-Ecke feinteilig wie Literatur/Kunst-Theoretiker*innen sprachliche und bildliche Elemente und Daten interpretieren. Traurig, weil sie eben nicht Kunstwerke untersuchen, sondern menschliches Verhalten auf Manipulierbarkeit hin. In dieser Denke wird “Menschlichkeit” zur bloßen darstellerischen Leistung, wie hier in einer Analyse des Vorfalls durch einen Persönlichkeits-Coach auf Meedia.

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Regieren ex negativo – Politische Inszenierung als politische Praxis

Was lerne ich daraus? Eine Politik des Marketing heißt heute nicht: eine strahlende, charismatische Figur mit Zukunftsvisionen aufbauen, genauso wie Werbung heute nicht mehr in Form eines HB-Männchens funktioniert. Politik des Marketing heißt heute, um eine schöne Zeile Nils Markwardts (Zeit) aufzugreifen: “eine Form der Gouvernementalität, die den demokratischen Streit durch die geräuschlose Deaktivierung von Alternativen ersetzt.” Könnte auch von Mark Fisher sein.

Wenn Politik immer mehr die Methoden von Marketing einsetzt, zum bloßen Machterhalt – ab wann entfernt sie sich zu weit von ihrer repräsentativen Aufgabe und von der Demokratie? Und welche Instanz zieht die Grenze, oder ist überhaupt noch fähig, eine Grenze zu ziehen, wenn es Teil der Praxis ist, die Mechanik, die Unmenschlichkeit der Zustände für manche, unsichtbar zu halten? Merkels fehlende Bodenhaftung kritisierend, schreibt Michael @mspr0 Seemann: “Sie ist außer Stande noch außerhalb der Kategorien des politischen Theaters zu funktionieren oder zu denken. Wie soll so eine Frau, die sich so sehr von den Lebensrealitäten der Menschen entfernt hat, diese Menschen noch regieren?” Gleichzeitig hält er aber auch fest, warum es so weitergehen dürfte: “Machen wir uns nichts vor, die meisten von uns leben nicht schlecht damit.” Wenn das Gros der Bevölkerung nur am Erhalten des Status Quo interessiert ist, und auf alle, denen es schlechter geht – pardon my language – scheißt, dann hat dieses Land genau die Regierung, die es verdient. Joa, dann haben wir eine repräsentative Demokratie par excellence. Dass dem so sein könnte, dafür ist auch der Rechtsruck der Mitte ein warnendes Signal und mein “It’s time to be afraid of Germany again” nehme ich auch nach ein paar Tagen Gemütsabkühlen nicht zurück.

Christopher Lesko (Meedia) schreibt: “Niemand ist in der heutigen Zeit auf seinem langen, zähen und schmutzigen Weg an die politische Macht zentraler Steuerungsfunktionen gelangt, weil er herzlich, beziehungsvoll und empathisch war. Wäre es so, er oder sie hätte nicht lange in der Rolle überlebt. […] Berührbarkeit jedenfalls gehört nicht zu akzeptierten Werten des politischen Systems, im Gegenteil: Sie hält auf, reduziert subjektiv erforderliche Distanz und schränkt kühle, rationale Steuerungs- und Handlungsfähigkeit ein. Berührbarkeit, so also das System, macht potentiell erfolglos.” Zur Kritik am System denkt Lesko (Chef der Leadership Academy Berlin) das nicht weiter: “Berührbarkeit ist Luxus”, so ist das halt. Hier ist es wieder, das Unvermeidbare. “Es ist, wie es ist”, wie schon die Böhsen Onkelz sangen.

Leonard Novy (Carta) wehrt sich dagegen. Er weist auf Merkels Schwäche in Sachen normativer Argumentation hin, Carolin Emcke zur rhetorischen Weichgespültheit von Merkels Sprache zitierend, in der “Positionen … gar nicht als Positionen, sondern gleichsam als dezisionistische Notwendigkeiten beschrieben“ werden. Sein Resumée: “Merkel fährt gut damit, doch unserer politischen Kultur schadet es. Chantal Mouffe beschrieb diese technokratisch-konsensorientierten Politikansatz als ‘Negation des ‘Politischen’’. Sie beraubt eine Gesellschaft der Offenheit der Wege, die sie einschlagen kann, und der Berechtigung des Konflikts darüber. Demokratie ist mehr als die Exekution von Sachzwängen.” Und er hat einen Hoffnungsschimmer parat: “Die Leute allein bei kurzfristigem Interessenkalkül, Pragmatismus oder ihrem Bedürfnis nach Sicherheit abzuholen, wird 2017 kaum funktionieren. Das ist Merkels Terrain. Es gilt, demokratiepolitisch und politisch-moralisch Alternativen aufzuzeigen, wieder „ins Offene“ (Carolin Emcke) zu denken und bei den Menschen so ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass eine andere Politik, eine andere Sprache und auch ein anderer Umgang mit palästinensischen Flüchtlingsmädchen möglich ist.” Danke dafür, Leonard Novy.

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#Merkelstreichelt – wer shitstormed hier wen?

In einem ist die Presse sich mal wieder ziemlich einig: in ihrer Meinung zu #merkelstreichelt, der Hashtag Aktion. Nur ein paar Beispiele (als Listicle, aus Gründen):

  • Thorsten Denker (SZ): “Es ist leicht, jetzt auf Bundeskanzlerin Angela Merkel einzudreschen. In den sozialen Medien ist die Häme groß,”
  •  Michael Hanfeld (FAZ): die “Pöbler, die “Shitstormer”, die “empörten” “Online-Twitterer” (sic),
  • Christopher Lesko (Meedia): “reagierten dabei die Kommentatoren auch nicht anders als Merkel selbst Reem gegenüber: Sie ignorierten komplexere Wirklichkeiten und ihre Gegenabhängigkeiten und sprangen emotional auf einen kleinen Ausschnitt. Nichts anderes hat Merkel in der Situation getan. Vereinfacht ausgedrückt, behandelten die Kommentare Angela Merkel letztlich so, wie sie es Merkel im Umgang mit der jungen Libanesin vorwarfen,”
  • und auch Viktoria Morasch interpretiert die Hashtag-Aktion als “Deutschland streichelt mit”, letztlich den guten alten Slacktivismus implizierend.

Schon interessant, angesichts dessen, dass ohne #merkelstreichelt wahrscheinlich der Vorfall gar kein großes Medienecho erhalten hätte. Insofern war die Hashtag-Aktion nämlich erfolgreich: Es wurde die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit darauf gelenkt, und das ist Funktion einer solchen Aktion im Gefüge von Möglichkeiten bürgerlichen Protestes. Leider ist die Presseaktion, die folgt, immer die gleiche: Es wird darüber berichtet, weil es einen Hashtag gab. Bei der Berichterstattung taucht dieser aber nur noch als Randnotiz von der dummen trollenden Masse auf, die nicht ernstzunehmen sei. Immer wieder.

Die Stimmen der Menschen auf Social Media einerseits in ihrer Signalwirkung für Relevanz zu nutzen, sie für Inhalte zu melken, aber andererseits diese Menge von Menschen, die auf Twitter ihre Kritik äußern, die weder Ausbildung noch Podium und Reichweite von Medienleuten haben, mit solch einer, ja, Schadenfreude, Häme, mit soviel Hass, mit so einem andauernden Shitstorm von Negativpresse runterzurreden, kleinzuhalten – darin steht eine unglaubliche Arroganz diesen Stimmen gegenüber, die ja auch die Leserschaft, das eigene Publikum darstellen, dass es ein Armutszeugnis für den Journalismus ist. Von sozialer Medienkompetenz (in beiderlei Wortsinn) keine Spur.

In Kurzfassung: Natürlich werden bei einer Hashtag-Aktion keine komplexen Reaktionen gezeigt. Das liegt schon allein im Kontext begründet. Ich erinnere mich an ein Foto von einer Londoner Studentendemo von vor ein paar, auf dem eine Studentin neben einem Schild mit einem knappen politischen Slogan eines hochhielt, auf dem sinngemäß sowas stand wie: “Natürlich hab ich eine wesentlich komplexere Meinung dazu, aber die hat nicht auf’s Schild gepasst.” Hashtag-Aktionen sind sehr nahe an so einer Demo-Situation, spontane Proteste oder Reaktionen, sprachlich in ihrer Spontaneität nahe an mündlicher Kultur, und in Bewusstsein der Gruppenwirksamkeit. Es ist nicht das Medium für tiefe kritische Analyse, natürlich (auch das in beiderlei Wortsinn) wird hier vereinfacht.

Und, um auf Christopher Leskos “Berührbarkeit als Luxus” zurückzukommen: Emotionalität gehört durchaus auch dazu, schließlich wird aus dem Überschwang der spontanen Reaktion und des Gefühls der Vernetzung mit anderen heraus gepostet. Berührbarkeit, also: emotional zu reagieren, das ist für Mächtige, die zum Erhalt und Erreichen ihrer Position auf sie verzichten müssen, vielleicht Luxus. Die Machtlosen jedoch, die keine große Plattform für ihre Stimme haben – sie haben genug davon. Wenigstens davon. Nicht umsonst werden Mitgefühl und Solidarität, soziale Werte, immer wieder aggressiv als naiv und romantisch abgekanzelt. Letztlich ist das eine gute Portion “Sozialneid” mal andersrum verstanden: Der Neid auf die Common People, die einfach drauflos socializen können, auch mal platt und ausfallend, die sich auch mal danebenbenehmen können, weil sie nicht so viel zu verlieren haben.

Merkel wurde unter #merkelstreichelt stellvertretend als Repräsentantin einer politisch rücksichtslosen und nach unten tretenden politischen Haltung kritisiert, die in der Situation mit dem Flüchtlingsmädchen einfach nur einen bildlichen Ausdruck fand, Stichwort Meme-Kultur: die kreative grassroots Social Web-Bildsprache für soziale und politische Kritik. Tiefschwarzer Humor in the face of alles Übel der Welt. Das gestreichelte Flüchtlingsmädchen wird in der Bilder- und Geschichtenlogik der Memes zur Figur, die für alles steht, wo deutsche Politik zu kalt und egoistisch handelt, ob Flüchtlingspolitik oder Griechenland. Natürlich gab es schnell eine Tsipras streichelnde Merkel, die von Rechten angelegte (und inzwischen gelöschte) Google-Map von Flüchtlingsheimen machte ex-de:Bug-er @Bleed zum Streichelzoo Deutschland, Alexander @Nabertronic Naber (Publikative/Jungle World/Vice) zückte ein passendes Adorno und Horkheimer Zitat, und selbst ein Evgeny Morozov konnte sich den Sarkasmus nicht verkneifen: “This week has been fantastic for German public diplomacy. All that was missing was Merkel making refugee children cry.”

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Auch der Zeitpunkt spielte hier eine Rolle: Der Hashtag-Protest wäre vielleicht nicht so groß geworden, wenn nicht gerade die Kanzlerinnen-PR-Maschine durch dichte zeitliche Aufeinanderfolge von Griechenland-Schock und dem (natürlich!) unkritischen LeFloid-Interview eine gewisse Dissonanz erzeugt hätte. Angesichts politischen Verhaltens, mit dem viele nicht einverstanden waren, hat sich im Netz spürbar ein Gefühl der Ohnmacht, der Machtlosigkeit verbreitet, das in #merkelstreichelt ein symbolisches Ventil fand. Die Ablehnung der Ehe für alle waberte noch als Restwutwölkchen in den Hinterköpfen herum, und die Quasi-Domestizierung vom ‘jungen wilden’ YouTuber LeFloid zur Regierungs-PR folgte so schnell auf das paternalistische, ‘unmoralische Angebot’ Schäubles an Griechenland, das Merkel auch noch als “nie gekannte europäische Solidarität” zu verkaufen versuchte, dass die mit der Situation mit dem Flüchtlingsmädchen entstandene Lücke in Merkels sonst so effizienter PR-Gummimauer selbstverständlich als memeförmiges Ventil genutzt wurde. Dass dahinter eher Platinen und Kontakte zum Vorschein kamen als Fleisch und Blut (mehr Data oder mehr Lore, was meint ihr?), bestätigt nur, worauf unser politisches System Wert legt und was ich weiter vorne im Text schon beschrieb.

Zum Schluss noch mal in aller Deutlichkeit: Ein #Hashtag-Storm ist nicht anhand wörtlich genommener Tweet-Inhalte zu analysieren, genauso wenig wie sich anhand wörtlich-genommener einzelner Slogans auf Demo-Schildern der ganze Hintergrund einer Demo auf der Straße verstehen lässt. Oder for the media people: Eine Zeitung ist mehr als ihre Schlagzeilen und ihr solltet eure Leserschaft respektieren statt sie runterzumobben – lasst das Wort Shitstorm das nächste Mal doch einfach stecken und fangt lieber das analysieren und recherchieren an und vergesst den Respekt vor der Quelle nicht.

Ein Social Media Storm ist Ausdruck eines Smart Mob, eines Schwarms von Meinungen, die dem Medium, der Plattform und ihrer Struktur und ihren Regeln gemäß zugespitzt und vereinfacht und auf eine Pointe hin konstruiert sind: Social Media sind so angelegt, dass nur Virales zu einer breiteren Masse durchkommt. Darauf gehen manche User (genauso wie manche Newsmedien) bewusster, manche intuitiver ein, manche gewitzt und stilvoll, manche plump und daneben, aber alle haben sie verstanden: wer sich nicht den viralen Regeln der Plattform anpasst, bleibt unsichtbar und ungehört. Eigentlich sollten Journalist*nnen das am besten verstehen. Ich sag nur: bescheuerte Clickbait-Schlagzeilen, allwöchentlich durch’s Dorf gejagte “Zukunft der Medien ist WhatsApp/Snapchat/Periscope/AppleWatch” Panik oder mit fast religiöser Andacht verfolgte Social Media-Tipps und -Seminare, die längst zu einer eigenen Branche gewuchert sind.

 

*)  Das eingangs gefallene Günter Hack-Zitat für Nichtguckende von Game Of Thrones, der Serie (die vor blutiger Gewalt- und Willkürherrschaft nur so strotzt): Valar morghulis (“All men must die!”) ist dort ein Gruß, dem traditionell “Valar dohaeris” (“All men must serve!”) erwidert wird.

Entdemokratisierendes Empörungsfeuilleton empört über empörte Proteste

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“We firmly oppose any form of gathering or protest, and we encourage a more rational form of communication for solving problems.”
Sprecherin von Uber

Was für eine saturierte und privilegierte Position in der Gesellschaft musst du eigentlich innehaben, um in Zeiten, in denen Leute so verzweifelt sind, dass sie selbst im sonst doch recht protestfaulen Deutschland wieder streiken und demonstrieren gehen, das mit einer sarkastisch-abgeklärten Geste als kindische Empörung vom Tisch zu wischen? Nein, nicht nur zu wischen, sondern süffisant und pseudowissenschaftlich wegzutheorisieren. Ein Rant hätte mich nicht so geärgert wie Ursula März’ herablassender Tonfall in “Ein Land spielt Kleinkind. So viel Streik und Demo waren nie – was steckt hinter der Empörungsbereitschaft?” Laut ihr: die Infantilisierung unserer Gesellschaft. Das steht in unheiligem Einklang damit, wie von Teilen der Presse immer wieder der “Internetmob” beschrieen wird, eine unkritische Herbeischreibung, die sich um eine detailliertere Betrachtung einzelner Hintergründe drückt.

Wenn nun auch Streiks und Proteste ähnlich harsch abgetan werden, hat das langsam wirklich gar nichts mehr mit der Rolle des Journalismus zu tun, der sich Spezialrechte wie Pressefreiheit als vierte Gewalt erkämpft hat, sondern trägt selbst die Saat der Entdemokratisierung in sich, die sie beklagt, ja: trägt sogar zu dieser bei, indem sie ihr Subjekt, die Öffentlichkeit, nicht ernstnimmt. Sie ist in den letzten paar Jahren in den Medien gefährlich gewachsen, diese Tendenz, eine Vielzahl von Individuen, die sich aus ganz verschiedenen Gründen auf ganz verschiedene Protestformen einlassen, auf Begriffe wie “Internetmob” oder “Wutbürger” zu reduzieren, und ihnen mit meinungsmachenden Schlagworten wie “Empörung”, “Hysterie” oder “Infantilismus” die politische Mündigkeit abzusprechen. Das Verhältnis von Regierung und ihr konformer Medien zur Gesellschaft erinnert gar manchmal an Strategien, mit denen Frauen jahrhundertelang mundtot gemacht wurden, nur das “Hysterie” jetzt “Empörung” heißt.

März’ Artikel sollte ruhig mal im Kontext anderer Entdemokratisierungspropaganda* (oder sagt man “PR”?) gelesen werden: Eine Dauerschleife von Polizeisoaps und -serien im Fernsehen, in denen die Staatsgewalt stets als die mit gesundem Menschenverstand Durchgreifenden, die Bürger*innen dagegen als sich danebenbenehmende Kinder dargestellt werden, deren Fehlverhalten korrigiert werden muss. So anders als die Super-Nanny ist das nicht. Social Media Accounts der Polizei fügen sich da nahtlos an: Es werden meist Bagatellfälle aufgezählt, die sich putzig-lustig retweeten lassen. Selbstverständlich fällt dort kein selbstkritischer Ton – von der Polizei, die Flüchtlinge oder Demonstranten misshandelt und die Racial Profiling durchsetzt, ist weder in Polizei-Reality-TV noch bei Polizei-Twitter-Accouts etwas zu hören.

Ähnlich ist es in März’ Artikel, denn sie sucht sich bewusst Beispiele wie eine Demo wegen Hundekot aus, die sich ins Lächerliche ziehen lässt, während sie das Ausbleiben dessen, was ihr persönlich wichtig wäre (eine Demo gegen die NSA-Überwachung) als fehlend beklagt. Warum manche Protest ausbleiben, die politisch brisanter wären, dafür hat ein Kommentar zum März-Artikel ein paar analysierende Worte, die ich ganz treffend finde: “Auch werden die Themen der Demonstrationen nicht wirklich infantilisiert, sondern man weicht auf die Themen aus, die noch im Einflussbereich des Bürgers liegen. Das ist eine Folge der Entdemokratisierung und der Kunst des Aussitzens, die Politik und Lobbyismus mittlerweile fast bis zur Perfektion erlernt haben.”

Neben den erwähnten Polizei-Social Media-Accounts gibt es noch spezielle Twitter-Accounts für Proteste wie Blockupy oder G7 Einsätze, durch die eine Pressearbeit, die sich bei solchen Demos oft sowieso schon aufs Dämonisieren der Demonstrierenden als Randalierer beschränkt – muss ja bloß noch von Polizeipresseberichten abgetippt werden. Oft werden Demo- und Streikberichterstattungen auch gleich politisch entleert und zu bloßen Verkehrs(behinderungs)meldungen reduziert. Wo Social Media eine zeitlang noch ein öffentlicher Raum des Gegenpols waren, in denen die Stimmen, die sonst kein Sprachrohr habe, sich mit teils großer Reichweite äußern konnten, bedient sich nun der Staat solcher Polizeit-Accounts als, wie John F. Nebel treffend beschrieben hat, “Instrument einer gut gemachten, offensiven und gleichwohl repressiven Öffentlichkeitsarbeit”.

Wie so durch verschiedene mediale Formate die Bevölkerung einander immer misstrauischer gegenüber gemacht wird, wie dadurch zu Entsolidarisierung beigetragen wird, wie auch vor allem eine Arbeiter*innen/Arbeitslosen/Prekäre-Klasse medial bis zum Selbsthass dämonisiert wird, dazu empfehle ich immer noch Owen Jones’ “Chavs” als Lektüre, mir fehlt leider die Zeit hier weiter darauf einzugehen.

Wie immer bei solchen Artikeln des Emotionalisierungsfeuilletons stellt sich mir auch hier wieder die Frage: Warum distanzieren sich eigentlich keine von den Journalist*innen, die sonst noch für das jeweilige Blatt schreiben? Es fällt mir schwer, euch als kritische Berichterstatter*innen mit Rückgrat ernstzunehmen, wenn ihr solche Ergüsse neben euren Texten im selben Blatt einfach ohne ein Widerwort toleriert. Ich weiß, ihr müsst von etwas leben, aber gerade ein*e Journalist*n sollte doch dafür nicht eine kritische Haltung über Bord werfen. Oder äußert ihr euch euren Redakteur*innen gegenüber und es ist nur nach außen hin davon nichts mitzubekommen? Ich frage mich das tatsächlich immer wieder, da ich durchaus noch gewillt bin, an eine kritische und engagierte Presse zu glauben. Den Groll diesbezüglich hätte auch ein Don Alfonso oder Martenstein, und so gut wie jede große deutschsprachige Zeitung abbekommen können, aber jetzt ist es halt heute Ursula März geworden.

Mich – pardon the Ausdrucksweise, aber es muss mal so deutlich raus – kotzt es an, wie regelmäßig und selbstverständlich Zeitungen dem Herumtrampeln auf sozial Schwächeren Raum geben, um unter dem Scheindeckmantel des Meinungspluralismus durch Empörung mehr Klicks und Leserschaft, die Werbeanzeigen ansieht, zu mobilisieren. Peinlich ist, wenn Leute von denselben Medien dann ein Newsunternehmen wie Buzzfeed belächeln oder gar verachten. Wenngleich ich durchaus auch einiges an Buzzfeed auszusetzen habe: Ihr Emotionalisierungsjournalismus tritt wenigstens nicht nach unten.

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*) trust me, ich verwende den Begriff “Propaganda” nicht leichtfertig, sondern habe ihn 10x auf der Zunge rumgedreht, bevor ich ihn letztlich doch hier reingetippt habe, denn es scheint mir schon die Größenordnung und Häufigkeit erreicht, in der er angemessen ist

P.S.: Viva Kidulthood!

Bildcredit: Damit es nicht nur eine Textwüste ist, habe ich ein Bild der Wiese geknipst, die ich beim Schreiben vor mir hatte. Um 90° gekippt, weil kindisch. Und mit Filter “Salomon”, denn Bildungsbürgeranspielungen kann ich schon auch ein bisschen. Ein bisschen.

 

Aber interessant. #1

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“The tradeoff fallacy”, eine US Untersuchung zur Einstellung von Konsument*innen zur Sammlung persönlicher Daten kommt zum vernichtenden Ergebnis, dass die meisten das als unethisch empfinden (und niemand ist erstaunt): 91% disagree (77% of them strongly) that “If companies give me a discount, it is a fair exchange for them to collect information about me without my knowing”. Natasha Lomas nimmt dies in “The online privacy lie is unraveling” zum Anlass, mal verschiedene Gedanken zum Thema zusammenzutragen: “cloud-based technology companies large and small have exploited and encouraged consumer ignorance”. Sie weist darauf hin, dass die ganzen “Gratis”-Plattformen und -Apps aktiv daran arbeiten, bei ihren Usern ein Gefühl der Machtlosigkeit zu erzeugen – “in various subtle ways”. Die endlosen Terms of Service oder überkomplexe gut versteckte Privacy-Einstellungen sind nur die offensichtlichsten Beispiel dafür. Diesen Punkt erwähne ich auch gerne, wenn jemand mir erzählt, dass es doch für diese Firmen echt kompliziert sei, sichere Strukturen und Block- & Meldemöglichkeiten für ihre User gegen Bedrohungen und Trolle einzurichten. Wenn sie ein ähnliches Interesse daran hätten, ihre User zu schützen, wie sie es daran haben, sie auszunutzen, wäre das kein Problem.

Solche erklärenden kritischen Tech-Artikel würde ich mir in der deutschen Presse auch mehr wünschen. Aber vielleicht bekommen wir nur das, was wir verdienen. Eine Tech Presse, die für Social Media Manager, Journalist*innen und Marketingleute gemacht scheint auf der einen Seite, übersetzte Zusammenfassungen von US-Tech-Artikeln einen Tag verspätet, und was kritische Auseinandersetzung anbelangt sind wir – jenseits von Blogs – meist auf jammernde weiße männliche tech-kritische Angstprediger angewiesen. Aktuelles Beispiel ist ein entsetzliches arrogantes Lamentierstück des Kolumnisten Sascha Lobo. “Als Bürger habt ihr versagt”, schreibt er, sich selbst da schon gar nicht mehr dazu zählend, nee, er steht ganz in Checkerpose über den Dingen. Glaubt Der Spiegel wirklich, seine Leserschaft für ihre Passivität angesichts der fraglos ebenso entsetzlichen Digitalpolitik Deutschlands, zu beschimpfen sei effektiver (von “angebrachter” will ich gar nicht erst sprechen) als kritische Recherche zu den Gründen für diese Passivität? Denkt Lobo, Beschimpfung funktioniert als Call To Action? Ich weiß ja, Kolumnen sind billiger zu produzieren als Recherche, aber tbh: Es war selten so befriedigend, das Müllereimersymbol von Pocket zu klicken wie bei diesem Text.

Nur gut, dass es auch Blogs gibt, denn Die Angstgesellschaft” von Thomas Stadler und Wolfgang Michals “Zwei Jahre nach Snowden – warum sich die Überwachungsgesellschaft im Kreis dreht sind Texte, die wirklich daran interessiert sind, die Diskussion zum Thema voranzubringen, statt immer wieder nur vage verbal – aber halt catchy und im Massenmedium – in der Luft rumzufuchteln wie Lobo.

Dass Google nun ein zentrales Dashboard für Privatheitseinstellungen installiert hat, ist für Natasha Lomas ein Zeichen, dass die Begehren der User langsam ernster genommen werden. Auch ich habe derzeit das Gefühl, dass es an allen Ecken und Enden zu brodeln anfängt, wenn es um das Thema Marketing und Datensammeln und Finanzierung durch Werbung geht. Das Thema Adblocking zeigt das auch recht schön. Es gab es in den letzten Monaten aggressive Artikel dagegen von werbefinanzierten Magazinen, die teils soweit gingen, Adblocking als Diebstahl zu diskutieren: Als wenn du in einem Restaurant essen, aber nicht zahlen würdest. Das ist natürlich Quatsch, denn es ist, wie Lomas im eingangs erwähnten Artikel ausführte, kein Deal in gegenseitigem Einverständnis.

Ich finde ja dieses ganze Konzept des werbefinanzierten Journalismus höchst absurd: Firmen stecken unglaublich hohe Summen in einen Werbe-Etat, damit mehr Leute ihr Produkt kaufen. Aus diesem Werbeetat finanziert sich ein großer Teil der Medien, die ihr Produkt umsonst ins Netz stellen, weil sie sonst niemand liest. Das liegt u.a. daran, dass es kein vernünftiges Bezahlmodell gibt, das die Art und Weise wie wir im Netz kreuz und quer durch Nachrichtenseiten und Blogs lesen, bezahlbar macht. Ein klassisches Abo können sich aber die meisten bestenfalls für ein, zwei Medien leisten bzw warum überhaupt, wenn doch alles umsonst da ist und das bisschen Geld, das zur Verfügung steht, schon weg ist, weil die Produkte, die sonst so im Alltag gebraucht werden, so teuer sind. Weil in ihrem Preis der Werbe-Etat mitfinanziert wird. Katze beißt sich in den Schwanz und nach Native Advertising, – also Werbung, die wie ein inhaltlicher Artikel aussieht – ist die nächste Stufe dann, dass Konzerne selber in Medien machen. Der Schritt von einer Verbindung von News und Marketing, wie es omfg-future-of-journalisism-player wie VICE und Buzzfeed News praktizieren, zu Red Bulls Servus TV und RBMA-Website ist ein kleiner. Wenn wir kritischen Journalismus wollen, ist ein so hyper-werbefinanziertes Modell wie es derzeit hochgehalten wird ein höchst fragwürdiges und wackliges Modell, aber wenn du etwas dagegen sagst, stößt du schnell auf eine Filterbubble der Überzeugung: Es gäbe keine andere Möglichkeit der Finanzierung im Netz.

Ich persönlich hoffe ja immer noch auf einen neuen Anlauf in Sachen Micropayment, denn ich denke, dass so etwas wie Flattr vor allem aus uncanny-Valley-Gründen nicht funktioniert hat: einer breiten Masse war das digitale Bezahlen zu dem Zeitpunkt, als Micropayment versucht wurde, noch zu fremd. Die Leichtigkeit dieser Art des Bezahlens von Kleinbeträgen durch einen Klick ging einher mit dem Gefühl, dass dann bestimmt genaus leicht dein Bankkonto gehackt werden könnte. So zuhause fühlten sich die meisten noch nicht im Netz. Warum ich Flattr mag:
Dezentral: Ich zahle direkt auf der Seite, auf der ich den Text lese, so einfach und allgegenwärtig wie ein Facebook-Like-Button.
Individuell anpassbar: Ich muss mir keine Gedanken über den Preis machen, da ich pro Monat einen festen Betrag festlege, den ich mir für Medien leisten will und kann.
Demokratisch: Die Größe der Plattform bedeutet keinen Vorteil – ein Blog-Artikel bekommt von mir genauso viel wie einer in einer großen Zeitung.
Ich fände einen breit aufgestellten Neuversuch mit Flattr heute spannend. Derzeit gibt es kaum Zeitungen, die Flattr verwenden, deswegen kennen es auch wenige. Ein Neustart mit Bezahlmodellen ist allerdings auch ähnlich schwierig wie mit mp3s, da es inzwischen wiederum so eine Flut von Gratis-Online-Lesestoff gibt, dass mein Grundgefühl eher ist, dass ich mit dem Lesen nicht nachkomme. Flut von Texten im Netz vs Geldknappheit bei Medien – das ist auch so eine Dissonanz zwischen der Finanzierungskrise und der Präsenz von Medien im Netz.

Ich bin neugierig, wie sich die frisch gestarteten “iTunes für Zeitungs/Magazin-Artikel” hierzulande durchsetzen werden: Pocketstory und Blendle. Optimal für mich persönlich ist das noch nicht, da mir die internationale Presse fehlt und ich viel auf Englisch lese. Aber interessant. Da der auf mobile Werbung aufbauenden Presse gestern das Herz in die Hose gesunken ist, als Niemanlab darauf hinwies, dass Apple in seiner nächsten Safari-Browser-Version Adblocking erlaubt, und sich der allgemeine User-Missmut gegenüber Werbetracking noch steigern dürfte, hoffe ich aber mal, dass sich step by step solche Finanzierungsalternativen durchsetzen werden oder zumindest eine größere Rolle spielen werden. Dass Apple eine Adblockingmöglichkeit einbaut, darf durchaus als ein ebenso großes Zeichen gesehen werden wie Googles Privacy Dashboard: Entweder dafür, dass zukünftig User-Interessen ernster genommen werden, oder dafür, dass der Kampf um die Aufmerksamkeit der User und um Finanzierungsmodelle die auf dem Tracking von User-Daten basieren, nun mit härteren Bandagen geführt wird.

P.S. “Aber interessant” (bitte in Wolf Haas / Brenner Stimme vorzustellen; ich höre derzeit das durchaus empfehlenswerte “Brennerova” Audiobuch) habe ich mir als Titel dafür ausgesucht, wann immer ich ein paar Medienecho-Gedanken loswerden will und mir kein gescheiter Titel einfallen will (weil alles zu diffus), aber es sich halt mit Titel doch besser bloggt.