Zynismus, Politics und Trump

K4 / Künstlerhaus Nürnberg. Photo: eve massacre

Seit Tagen oder Wochen will ich als reflektierendes Nachbeben zur Trump-Wahl bloggen. Doch wo anfangen? Was gibt es noch Sinnvolles zu ergänzen? Ich versuche es jetzt einfach mal, weil Bloggen für mich immer eine gute Methode war, um Gedanken zu sortieren und einzuordnen. Und ich wollte mir sowieso wieder den Anspruch abgewöhnen, dass Blogposts immer ausgereifte fertige Artikel sein müssen.

Ich nehme mal ein Stöckchen auf, dass mir in den sozialen Medien hingeworfen wurde. Als ich am Morgen nach der Wahl aufwachte und mein Handy unter die Bettdecke zog, um einen Blick auf Twitter zu werfen, verriet mir schon die bloße Zahl der Tweets, die über Nacht angefallen waren, dass er gewonnen hatte. Diese Zahl ist tatsächlich zu sowas wie einem Indikator für mich geworden, dass schon wieder etwas Schreckliches passiert ist. In solchen Moment haben viele Menschen mehr Kommunikationsbedürfnis, wollen ihr Entsetzen äußern, werfen mehr Leinen aus, die andere kommentieren, oder auch einfach nur tröstend mit Favs und Retweets auffangen, kleine Signale der Verbundenheit, Twitter kann da sehr gut tun. Ich verfalle da immer eher in Schweigen, wenn mich etwas so hart trifft wie die Nachricht von Trumps Sieg. Es war wirklich ein taubes Gefühl der Unwirklichkeit, gefolgt vom langsamen Heranrollen der Ahnung, was das für viele Menschen in den USA – und anderswo – an Tragödien mit sich bringen wird. Nicht nur in Form von Trumpscher Politik, sondern auch im Alltag, wo sich die Diskriminierungen und gewalttätigen Übergriffe gegen Marginalisierte auch tatsächlich alsbald häuften, fühlten sich doch die Rechten in ihrem Hass und in ihrer verqueren Opferlogik bestätigt. Und es traf mich auch in dem Bewusstsein, was das für Rechte weltweit für ein verstärkendes Signal sein würde – auch für AfD, CSU, Identitäre und Konsorten. Neben den ganzen zutiefst betroffenen Meldungen, tat sich alsbald eine abgeklärte Variante auf, die schrieb, dass, wer darüber schockiert sei, dass Trump zum Präsidenten gewählt wurde, zu einer ignoranten oder weltfremden Elite gehöre. Ich halte das für zynisch. Ich bin schockiert, weil ich mich weigere, meine Hoffnung aufzugeben, noch weiter abzustumpfen oder zu verbittern.

Mir ist Zynismus durchaus nahe. Er liegt mir. Er passt zur Hoffnungslosigkeit. Er schafft Distanz, nicht nur zu seinem Thema, auch zu Menschen. Und ja, ich empfinde die Welt als zutiefst kaputt und destruktiv. Aber ich glaube an nichts außerhalb oder danach, deswegen scheint es mir, das einzig Sinvolle zu sein, das beste aus dem Hier und Jetzt herauszuholen, aber dabei nicht nur in blanken Hedonismus zu verfallen, sondern parallel auch noch dazu beizutragen, die Welt ein Stück lebenswerter zu machen. Das ist vielleicht auch der Grund ist, warum ich mich als Autorin und DJ und Veranstalterin so wohl fühle: Es sind Positionen, in denen ich dazu etwas beitragen kann, dass sich Menschen inspiriert fühlen, oder zum Widerspruch angeregt, oder ein Konzert, eine Clubnacht lang aufgehoben und glücklich. Gleichzeitig ist mir zufriedene Geselligkeit aber auch immer ein Stück weit suspekt, kann, nein, darf nur ein zeitlich befristeter Zustand sein. Eine Basis, die Kräfte für kritisches Weiterdenken und -arbeiten sammeln lässt.

Und wenn ich schon gerade ein bisserl persönlicher werde: Ich bin in einer Zeit, in einer Welt aufgewachsen, in der versucht wurde, möglichst alles nach außen hin in Zuckerwatte zu hüllen, in der es galt, Brüche in Gesellschaft und Familie schön zu übertünchen. Es galt, aufzupassen, dass nichts von der Gewalt und Hässlichkeit durchscheint, die sich hinter verschlossenen Vorhängen abspielte – egal ob auf großer politischer Bühne oder hinter frischgestärkten Reihenhausgardinen. Dank einiger großartiger Menschen, wurde ich aber zum kritischen Denken erzogen, und traute mich alsbald, gegen Missstände den Mund aufzumachen, auch wenn das hieß, sich unbeliebt zu machen, Menschen zu verlieren. Zynismus bis hin zum beißenden Sarkasmus erwies sich da als wohltuende Waffe, um scheinbare Harmonien zu zerreißen, unter denen Misstände verborgen wurden. Ich habe ihn als provokative Waffe von Marginalisierten oder von politischer Kritik kennen- und schätzengelernt, aber diese Zeiten sind vorbei, das Blatt hat sich längst gewendet. Zynismus ist schon lange im Mainstream angekommen, es ist die alltäglichste aller Waffen geworden, die längst von oben nach unten genutzt wird. Nun, zerrissene zynische Abgründe nach außen zu tragen ist nicht mehr konstruktiv disruptiv, es zieht andere runter, entsolidarisiert, es ist kein Fundament, verharrt in der rebellischen Pose der Verachtung der anderen. Das war es letztlich, was mich immer an den Zynismen störte, die von professionell-wortgewandten Social Media Journalist*innen, die mit der Moderation von Facebook- und anderen Kommentarbereichen betreut sind, gerne gegen die “dummen” rechten Kommentare eingesetzt wurden. Das schürt nur ein Feuer.

Nehmt Fernsehen: Von Harald Schmidt, der vielleicht als erster Zynismus massentauglich gemacht hat, bis hin zu der Kommentarstimme, die seit Jahren über all den Reality Soaps und -Shows liegt, in denen Menschen sich in so ziemlich allen Lebenssituationen aneinander messen und sich für wenig Geld und Ruhm demütigen lassen. Neben zahllosen Talkshows, die in den Nullern damit florierten, sich über Marginalisierte zu amüsieren. Talkshowmoderationen mit provozierenden Fragen und mit nach dem nächsten Faux-Pas gierendem Blick. Oder Polit-Talkshows, in denen blankes sensationalistisches Entertainment als Diskussion, als Suche nach Konsens oder Lösungen verkauft wird. Das ist zutiefst zynisch, gerade weil es meist Themen sind, die tatsächlich einer fundierten öffentlichen Diskussion bedürften. Über Jahrzehnte hinweg basierte so viel TV-Entertainment darauf, ein Stereotyp von gescheiterten Menschen zu errichten, von Hartzern als Schmarotzer, Menschen an der Armutsgrenze, die angeblich einfach ihr Leben nicht im Griff haben, von Hochverschuldeten, die darin versagen, den Überblick über ihre Finanzen zu halten. Die sarkasmustriefende Häme von TV Shows und Sensations-Newsmedien, die vor allem auf Menschen gerichtet ist, die am Scheitern sind, ist der popkulturelle Ausdruck der endkapitalistischen Ära.

Owen Jones hat in Chavs ausführlich beschrieben, wie das zur “Dämonisierung der Arbeiterklasse” beitrug, quasi den Zusammenhang zwischen all der Schackeline-von-Mahrzahn-Comedy und dem Verlust jeglichen Klassenbewusstseins aufgezeigt. Es ist heute letztlich keine Identifizierung mehr damit möglich, niemand versteht sich heute als arm oder sozial benachteiligt. Im öffentlichen Diskurs sind die Leidtragenden an den über die Jahre für Arbeiterklasse und Prekariat sich verschlechternden Arbeitsverhältnisse selber schuld. Immer wieder die Big Daddy-Stimme: “Wer will, der kann auch arbeiten. Wer keine Arbeit findet oder an den Arbeitsbedingungen zerbricht, ist selber schuld.” Ist die Gesellschaft zu hart, bist du zu schwach. Hyperindividualisierung ist an die Stelle von einem Gefühl getreten, dass man gemeinsam mit anderen in einer Situation steckt. Und das wäre die Basis für die Idee, etwas ändern zu können. Das Veröden von Solidaritätsbewegungen durch das mal mehr, mal weniger sachte Hinwirken auf vereinzelnde Arbeits- und Arbeitslosigkeitsstrukturen hat Folgen gezeigt: Es geht nicht mehr darum, deine Arbeitsbedingungen zu verbessern, sondern dich zu verbessern. Egal, ob Proletariat oder Prekariat: Was du bist, ist nur noch etwas, was es zu überwinden gilt. Ist ja eigentlich hinlänglich bekannt. Und darüber zu sprechen, hieße, dein Scheitern einzugestehen. Und da ist ja auch immer diese Stimme, die dir kumpelhaft in die Rippen stößt, und dir versichert, dass du ganz anders bist, als die armseligen Loser um dich herum. “They don’t see themselves as poor, they see themselves as temporarily embarassed millionaires”, schrieb John Paul Brammer in einem Twitter-Thread darüber, wie die Stigmatisierung von Armut für viele Arme zur Identifikation mit einem Milliardär wie Trump führen konnte.

https://twitter.com/jpbrammer/status/799686559901454336

Auch im Journalismus findet sich der zynische Grundtenor, zum Beispiel in der Zunahme eines Meinungsjournalismus, von zahllosen Kolumnen, die mit zugespitzten, kaum noch als Welterklärungsversuche getarnten Provokationen Menschen aufeinander hetzen und dazu beitragen, gesellschaftliche Gräben zu vertiefen. Die schriftliche Variante der Polit-Talkshows. Aber mein Beispiel hier sollte TV sein, da es letztlich das Podium war, dass Trump als Ideologie am stärksten in die Köpfe gepflanzt hat (und ich spreche hier nicht von der Wahlkampfzeit, sondern von Jahrzehnten). Von Trumps eigenem Fox-Imperium, bis hin zu so traurigen Beispielen wie CNN, die im Nachhinein dann doch noch einsahen, dass es wohl keine so gute Idee war, mehrmals Wahlpropandaveranstaltungen von Trump komplett und unkommentiert auszustrahlen. Letztlich am prägendsten hat er sich aber mit The Apprentice in das öffentliche Bewusstsein eingeschrieben. Über Jahre hat Trump sich dort als Big Daddy, der weiß, was Sache ist, inszeniert.  Und er wurde von vielen gewählt, weil sie Politiker*innnen nicht mehr trauen, sondern stattdessen lieber einen erfolgreichen Geschäftsmann den Staat zum erfolgreichen Business führen lassen wollen. Wir haben dazu gottseidank keine parallele Figur hierzulande. Das anscheinend zunehmend nach rechts abdriftende Red Bull-Medium Servus TV kommt der unseligen Verquickung von Neu-Rechten und großem Konzern mit einem Sender vielleicht hier noch am Nähesten. h Als ich letzthin da mal bei einer TV-Show reinklickte, wurde gerade um Verständnis für die Position von Impfgegnern geheischt, dekoriert mit pseudo-wissenschaftlichem Einspieler. Aber das ist von der Personalunion Trump natürlich Welten entfernt.

Trumps Social Media Selbstinszenierung wird gerne als naiv missverstanden, aber ich hoffe sehr, dass wir stattdessen aus seinem Spiel mit dem Journalismus etwas für den Umgang mit AfD, Identitären, CSU usw. hierzulande lernen. Politik und Strategie analysieren und erklären statt Empörartikel über Provokationen rauszuhauen, das würde ich mir wünschen. Nicht den Inhalten der Rechten Platz einräumen, sondern nur den Mechanismen die dahinter stecken. Analyse statt Podium sein. Billigartikel, die nur die zynischen Provokationen abbilden und mit lustigen “so reagiert das Netz”-Einbettungen dekorieren, bringen zwar mehr Clicks, aber niemand mit einem Funken journalistischer Ethik sollte in dieser Weise als Verstärker von rechter Propaganda herhalten – egal wie knapp das Geld ist. Es muss klar sein: Für die Neu-Rechte ist diese Berichterstattung über ihre Provokationen dreifach zuträglich: Sie ist Propaganda für den Kreis, der ihnen eh schon folgt, sie ist zunehmende Normalisierung von rechtem Gedankengut in der breiten Gesellschaft, und sie ist eine Möglichkeit auszutesten, wie weit sie mit ihren Positionen zum jeweiligen Zeitpunkt gehen können, um noch wählbar zu bleiben.

Soweit mal ein paar Gedanken für heute, jetzt auf ins Kino, “I, Daniel Blake” gucken.

#Merkelstreichelt – Regieren ex negativo und wer shitstormt hier wen?

“Valar Merkelis!”*
Günter Hack

Die Bundeskanzlerin und das Flüchtlingsmädchen

Der Vorfall ist inzwischen bekannt: Merkel ging unter dem Titel “Gut leben in Deutschland” auf PR-Tour. Inszenierter Bürgerkontakt als Charemoffensive oder sowas war wohl der Plan. Das ging nach hinten los: “Kanzlerin Angela Merkel wollte das ‘wirkliche Leben’ sehen. Jetzt hat sie es gesehen. Und es schlug ihr mit der Faust ins Gesicht,” schreibt Viktoria Morasch (taz). Der Konfrontation mit einer ganz offen über ihre Situation redenden jungen Asylsuchenden und ihren Tränen hatte Merkel nichts Effektives/Emotionales entgegenzusetzen. Als eine kritische Hashtag-Aktion #Merkelstreichelt aufbrandet, realisiert die Presse die Relevanz und reagiert mit zahlreichen Artikeln, und auch etliche Blogs schreiben darüber. Ich bin endlich dazu gekommen, mir einiges davon durchzulesen und um mir einen besseren Überblick zu schaffen, hab ich mal thematisch zu einer Art kommentierten Presseschau sortiert:

Was vernichtend ausfiel, ist mal wieder die Berichterstattung über die Hashtag-Aktion, durch die der Vorfall überhaupt erst zu einem Thema für die Presse wurde. Deswegen als zweiter – vielleicht für manche sogar interessanterer –  Teil dies Blogposts eine Medienkritik: Wer shitstormt hier wen?

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Die ehrliche Kanzlerin

Manche blenden den Punkt Flüchtlingsproblematik und die Inszeniertheit der kompletten öffentlichen Figur Merkel aus, und versuchen sie als die ehrliche, authentische Kanzlerin ohne Schnickschnack in Szene zu setzen. Nico Fried (SZ) verteidigt Merkel: Nur weil sie Gefühle nicht politisch instrumentalisieren will, wirke sie meist “cool”, aber manchmal eben auch “kalt”. Er verzettelt sich beim Buckeln vor ihr darin, dass genau dieser Vorfall im Rahmen einer PR-Kampagne der Kanzlerin stattfand, die Emotionalisierung einsetzt, um sie als bürgernahe Politikerin zu inszenieren. Auch Michael Hanfeld (FAZ) betreibt Hofberichtserstattung: Böser hämischer Internet-Mob auf der einen Seite. Super ehrliche Kanzlerin, die an dieser Situation nur gescheitert ist, “weil sie die Kunst der Verstellung nicht so gut beherrscht wie viele andere ihrer Zunft.” Die Ehrlichkeit bestehe darin, dass sie sagt wie’s ist: “Deutschland kann auf Dauer nicht alle Flüchtlinge aufnehmen.”

Die Krise der Flüchtlingspolitik

Diese Aussage Merkels, dass “nämlich Deutschland nicht in der Lage sei, alle Flüchtlinge aufzunehmen, die es im Nahen Osten gebe”, entlarvt Thorsten Denkler (SZ) als unangebrachte Stimmungsmache gegen selbige: “Zum einen: Das verlangt auch niemand. Zum anderen: Deutschland leistet längst nicht so viel wie andere EU-Staaten.” Wenn der Artikel auch etwas arg auf der wirtschaftlichen Nützlichkeit von Flüchtlingen herumreitet, räumt er doch auch mit einigen falschen Klischees auf. Dass zweiteres bitter nötig ist und ersteres gefährlich, sollte in Zeiten, in denen CDU/CSU Politiker darauf, dass fast kein Tag mehr ohne Anschläge auf Flüchtlingsheime vergeht, so reagieren, dass sie in Sachen Flüchtlingspolitik Einsparungen fordern.

Vor der “Nützlichkeit” als Argument warnt auch Frida Thurm (Zeit), die eine von mehreren ist, die den Vorfall als misslungenen Realitätscheck für Merkels Flüchtlingspolitik beschreiben: “Da steckt das eigentliche Problem an Merkels Bürgerdialog: Das Regierungsprogramm wird konfrontiert mit der Realität. Da wird schnell klar, dass die Unterscheidung in ‘gute’ und ‘schlechte’ Ausländer, wie die Bundesregierung sie gerade mit ihrem neuen Asylgesetz festgeschrieben hat, nichts taugt.”

Annett Meiritz (Spiegel) stellt die Brutalität der deutschen Flüchtlingspolitik noch deutlicher heraus: “Asylanträge würden künftig schneller bearbeitet, betonte sie [Merkel]. Und die einzige Antwort, die wir haben, ist: Bloß nicht, dass es so lange dauert”, sagte sie wörtlich. Wohlgemerkt: Die einzige Antwort. Das ist zu wenig, und kaum eine Szene zeigt die Schwächen und Widersprüche deutscher Flüchtlingspolitik so klar und verdichtet wie das Gespräch zwischen der Regierungschefin und der Rostocker Schülerin.”

Désirée Linde (Handelsblatt) erweitert den Symbolgehalt des Vorfalls für Flüchtlingspolitik über Deutschland hinaus: “Wie hilflos Europa – und wenn man es größer betrachtet – die ganze reiche Nordhalbkugel angesichts der Flüchtlingsströme ist, die Krisen, Kriege, Hunger und Elend produzieren. Der Kontrast zwischen Politik und Realität wurde selten deutlicher.”

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Den Vorfall als Konfrontation mit der Realität der GroKo-Flüchtlingspolitik zu verstehen, bedeutet auch zu erkennen, wie sehr sich diese mit rechten Gruppierungen wie PEGIDA und AfD deckt. Regieren ex negativo: Merkel hat die Situation NICHT zu einem Appell gegen Fremdenfeindlichkeit genutzt, obwohl in Deutschland nun inzwischen schon alle paar Tage Unterkünfte Asylsuchender attackiert werden, obwohl ganze Dörfer in rechter Hand sind, obwohl sich dieser Vorfall, die Symbolkraft noch unterstreichend in Rostock abspielte. Mit diesem verantwortungslosen Schweigen macht sie sich Kanzlerin, die offener für die sogenannten besorgten Bürger als für humanitäre Hilfe ist.

Die Junge Welt lobt dementsprechend sarkastisch die Ehrlichkeit der Kanzlerin: “Das muss man Merkel lassen. An ihrer Politik ist deutlich ablesbar, dass sie Flüchtlinge lieber im Krieg sterben, in Lagern dahinvegetieren oder im Mittelmeer ertrinken lassen würde. Was die Kanzlerin in ganze Sätze fasst, entspricht exakt den Parolen, die der rassistische Mob 1992 beim Pogrom im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen brüllte. Ihr Kanonenboot ist voll.”

Rassismus, Extremismus der Mitte, er nährt sich auch davon, dass er unter dem Deckmäntelchen der Binnenpluralität in Nachrichtenmedien Raum gewährt bekommt. Da hilft auch kein rassismuskritischer Artikel, wenn dieser nur als die andere Seite zweier gleichberechtigt anerkannter ‘Meinungen’ Raum findet. Rassismus und andere Diskrimnierungen sind keine Meinungen und die Teile der Presse, die dies nicht (an)erkennen, machen sich mitschuldig an der Stärkung dieser Positionen. Ebenso wie jede*r einzelne Journalist*in, die nicht kritisch den Mund aufmachen, wenn dies in dem Blatt geschieht, für das sie selbst arbeiten. Um noch ein wenig mehr Licht auf das Wuchern fremdenfeindlicher Haltungen in Deutschland zu werfen, hier einfach mal kurz in meine Twitter-Timeline gegriffen und drei Blogposts zum Thema herausgefischt, alle von gestern: “Sterbende Dörfer fest in rechter Hand”, “Der hässliche Deutsche”, “Die Fremdenfeindlichkeit sitzt in der Mitte der Gesellschaft”.

Was ich mir aktuell von einer der großen Zeitungen wünschen würde, schon mal allein gegen das Abstumpfen und das Verlieren des Überblicks: So etwas wie das The Counted Projekt vom Guardian nur über Angriffe auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte in Deutschland. Wer ernsthaft glaubt, es gäbe dafür nicht genug Stoff, dem oder der empfehle ich z.B. Robert Andreasch auf Twitter zu folgen.

Der PR-Fail

Ein weiterer Fokus der bei Berichten über den #merkelstreichelt Vorfall Beachtung fand, war ihn als bloße Panne in der PR-Inszenierung der Kanzlerin zu lesen: Nicht ihre Politik ist das Problem, sondern die Inszenierung dieser Politik lief nicht rund. Der Postillon bringt das satirisch auf den Punkt: “Merkels Bodyguard gefeuert, weil er weinendes Flüchtlingsmädchen nicht rechtzeitig entfernt hat.” Das ist so entsetzlich treffend, weil es so nah an der Realität ist. Eine Politik, deren Vorgehensweise von ihrer Unsichtbarkeit lebt, von ihrem Verbergen in der Inszenierung, wurde in diesem Vorfall einen Moment lang sichtbar. Zutiefst unsoziale Strategien werden unsichtbar gemacht oder mit einem Twist als “unvermeidbar” verkauft, um sie besser durchsetzen zu könnenWie es in Der Welt Robin Alexander (dessen tumbes Treten gegen Kritik an der derzeitigen Flüchtlingspolitik als bloßen “moralischen Distinktionsgewinn des politisch Korrekten” zwar nicht von sehr viel sozialer Tiefe zeugt, aber der diese Marketing-Ebene) gut beschreibt: “Sie wird als patente Problemlöserin inszeniert, ja, als wandelnder Sachzwang. Der Euro muss gerettet werden, weil es ‘alternativlos’ ist. Griechenland muss dies und jenes tun, weil anonyme Institutionen, die der Bürger nicht kennt, und Regeln, die er nicht versteht, das eben so vorschreiben. Dieser gelebte Bürokratismus beruhigt die Deutschen, die Zeiten sind stürmisch genug.

Nebenbei gesagt: Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie Leute aus der PR-Ecke feinteilig wie Literatur/Kunst-Theoretiker*innen sprachliche und bildliche Elemente und Daten interpretieren. Traurig, weil sie eben nicht Kunstwerke untersuchen, sondern menschliches Verhalten auf Manipulierbarkeit hin. In dieser Denke wird “Menschlichkeit” zur bloßen darstellerischen Leistung, wie hier in einer Analyse des Vorfalls durch einen Persönlichkeits-Coach auf Meedia.

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Regieren ex negativo – Politische Inszenierung als politische Praxis

Was lerne ich daraus? Eine Politik des Marketing heißt heute nicht: eine strahlende, charismatische Figur mit Zukunftsvisionen aufbauen, genauso wie Werbung heute nicht mehr in Form eines HB-Männchens funktioniert. Politik des Marketing heißt heute, um eine schöne Zeile Nils Markwardts (Zeit) aufzugreifen: “eine Form der Gouvernementalität, die den demokratischen Streit durch die geräuschlose Deaktivierung von Alternativen ersetzt.” Könnte auch von Mark Fisher sein.

Wenn Politik immer mehr die Methoden von Marketing einsetzt, zum bloßen Machterhalt – ab wann entfernt sie sich zu weit von ihrer repräsentativen Aufgabe und von der Demokratie? Und welche Instanz zieht die Grenze, oder ist überhaupt noch fähig, eine Grenze zu ziehen, wenn es Teil der Praxis ist, die Mechanik, die Unmenschlichkeit der Zustände für manche, unsichtbar zu halten? Merkels fehlende Bodenhaftung kritisierend, schreibt Michael @mspr0 Seemann: “Sie ist außer Stande noch außerhalb der Kategorien des politischen Theaters zu funktionieren oder zu denken. Wie soll so eine Frau, die sich so sehr von den Lebensrealitäten der Menschen entfernt hat, diese Menschen noch regieren?” Gleichzeitig hält er aber auch fest, warum es so weitergehen dürfte: “Machen wir uns nichts vor, die meisten von uns leben nicht schlecht damit.” Wenn das Gros der Bevölkerung nur am Erhalten des Status Quo interessiert ist, und auf alle, denen es schlechter geht – pardon my language – scheißt, dann hat dieses Land genau die Regierung, die es verdient. Joa, dann haben wir eine repräsentative Demokratie par excellence. Dass dem so sein könnte, dafür ist auch der Rechtsruck der Mitte ein warnendes Signal und mein “It’s time to be afraid of Germany again” nehme ich auch nach ein paar Tagen Gemütsabkühlen nicht zurück.

Christopher Lesko (Meedia) schreibt: “Niemand ist in der heutigen Zeit auf seinem langen, zähen und schmutzigen Weg an die politische Macht zentraler Steuerungsfunktionen gelangt, weil er herzlich, beziehungsvoll und empathisch war. Wäre es so, er oder sie hätte nicht lange in der Rolle überlebt. […] Berührbarkeit jedenfalls gehört nicht zu akzeptierten Werten des politischen Systems, im Gegenteil: Sie hält auf, reduziert subjektiv erforderliche Distanz und schränkt kühle, rationale Steuerungs- und Handlungsfähigkeit ein. Berührbarkeit, so also das System, macht potentiell erfolglos.” Zur Kritik am System denkt Lesko (Chef der Leadership Academy Berlin) das nicht weiter: “Berührbarkeit ist Luxus”, so ist das halt. Hier ist es wieder, das Unvermeidbare. “Es ist, wie es ist”, wie schon die Böhsen Onkelz sangen.

Leonard Novy (Carta) wehrt sich dagegen. Er weist auf Merkels Schwäche in Sachen normativer Argumentation hin, Carolin Emcke zur rhetorischen Weichgespültheit von Merkels Sprache zitierend, in der “Positionen … gar nicht als Positionen, sondern gleichsam als dezisionistische Notwendigkeiten beschrieben“ werden. Sein Resumée: “Merkel fährt gut damit, doch unserer politischen Kultur schadet es. Chantal Mouffe beschrieb diese technokratisch-konsensorientierten Politikansatz als ‘Negation des ‘Politischen’’. Sie beraubt eine Gesellschaft der Offenheit der Wege, die sie einschlagen kann, und der Berechtigung des Konflikts darüber. Demokratie ist mehr als die Exekution von Sachzwängen.” Und er hat einen Hoffnungsschimmer parat: “Die Leute allein bei kurzfristigem Interessenkalkül, Pragmatismus oder ihrem Bedürfnis nach Sicherheit abzuholen, wird 2017 kaum funktionieren. Das ist Merkels Terrain. Es gilt, demokratiepolitisch und politisch-moralisch Alternativen aufzuzeigen, wieder „ins Offene“ (Carolin Emcke) zu denken und bei den Menschen so ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass eine andere Politik, eine andere Sprache und auch ein anderer Umgang mit palästinensischen Flüchtlingsmädchen möglich ist.” Danke dafür, Leonard Novy.

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#Merkelstreichelt – wer shitstormed hier wen?

In einem ist die Presse sich mal wieder ziemlich einig: in ihrer Meinung zu #merkelstreichelt, der Hashtag Aktion. Nur ein paar Beispiele (als Listicle, aus Gründen):

  • Thorsten Denker (SZ): “Es ist leicht, jetzt auf Bundeskanzlerin Angela Merkel einzudreschen. In den sozialen Medien ist die Häme groß,”
  •  Michael Hanfeld (FAZ): die “Pöbler, die “Shitstormer”, die “empörten” “Online-Twitterer” (sic),
  • Christopher Lesko (Meedia): “reagierten dabei die Kommentatoren auch nicht anders als Merkel selbst Reem gegenüber: Sie ignorierten komplexere Wirklichkeiten und ihre Gegenabhängigkeiten und sprangen emotional auf einen kleinen Ausschnitt. Nichts anderes hat Merkel in der Situation getan. Vereinfacht ausgedrückt, behandelten die Kommentare Angela Merkel letztlich so, wie sie es Merkel im Umgang mit der jungen Libanesin vorwarfen,”
  • und auch Viktoria Morasch interpretiert die Hashtag-Aktion als “Deutschland streichelt mit”, letztlich den guten alten Slacktivismus implizierend.

Schon interessant, angesichts dessen, dass ohne #merkelstreichelt wahrscheinlich der Vorfall gar kein großes Medienecho erhalten hätte. Insofern war die Hashtag-Aktion nämlich erfolgreich: Es wurde die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit darauf gelenkt, und das ist Funktion einer solchen Aktion im Gefüge von Möglichkeiten bürgerlichen Protestes. Leider ist die Presseaktion, die folgt, immer die gleiche: Es wird darüber berichtet, weil es einen Hashtag gab. Bei der Berichterstattung taucht dieser aber nur noch als Randnotiz von der dummen trollenden Masse auf, die nicht ernstzunehmen sei. Immer wieder.

Die Stimmen der Menschen auf Social Media einerseits in ihrer Signalwirkung für Relevanz zu nutzen, sie für Inhalte zu melken, aber andererseits diese Menge von Menschen, die auf Twitter ihre Kritik äußern, die weder Ausbildung noch Podium und Reichweite von Medienleuten haben, mit solch einer, ja, Schadenfreude, Häme, mit soviel Hass, mit so einem andauernden Shitstorm von Negativpresse runterzurreden, kleinzuhalten – darin steht eine unglaubliche Arroganz diesen Stimmen gegenüber, die ja auch die Leserschaft, das eigene Publikum darstellen, dass es ein Armutszeugnis für den Journalismus ist. Von sozialer Medienkompetenz (in beiderlei Wortsinn) keine Spur.

In Kurzfassung: Natürlich werden bei einer Hashtag-Aktion keine komplexen Reaktionen gezeigt. Das liegt schon allein im Kontext begründet. Ich erinnere mich an ein Foto von einer Londoner Studentendemo von vor ein paar, auf dem eine Studentin neben einem Schild mit einem knappen politischen Slogan eines hochhielt, auf dem sinngemäß sowas stand wie: “Natürlich hab ich eine wesentlich komplexere Meinung dazu, aber die hat nicht auf’s Schild gepasst.” Hashtag-Aktionen sind sehr nahe an so einer Demo-Situation, spontane Proteste oder Reaktionen, sprachlich in ihrer Spontaneität nahe an mündlicher Kultur, und in Bewusstsein der Gruppenwirksamkeit. Es ist nicht das Medium für tiefe kritische Analyse, natürlich (auch das in beiderlei Wortsinn) wird hier vereinfacht.

Und, um auf Christopher Leskos “Berührbarkeit als Luxus” zurückzukommen: Emotionalität gehört durchaus auch dazu, schließlich wird aus dem Überschwang der spontanen Reaktion und des Gefühls der Vernetzung mit anderen heraus gepostet. Berührbarkeit, also: emotional zu reagieren, das ist für Mächtige, die zum Erhalt und Erreichen ihrer Position auf sie verzichten müssen, vielleicht Luxus. Die Machtlosen jedoch, die keine große Plattform für ihre Stimme haben – sie haben genug davon. Wenigstens davon. Nicht umsonst werden Mitgefühl und Solidarität, soziale Werte, immer wieder aggressiv als naiv und romantisch abgekanzelt. Letztlich ist das eine gute Portion “Sozialneid” mal andersrum verstanden: Der Neid auf die Common People, die einfach drauflos socializen können, auch mal platt und ausfallend, die sich auch mal danebenbenehmen können, weil sie nicht so viel zu verlieren haben.

Merkel wurde unter #merkelstreichelt stellvertretend als Repräsentantin einer politisch rücksichtslosen und nach unten tretenden politischen Haltung kritisiert, die in der Situation mit dem Flüchtlingsmädchen einfach nur einen bildlichen Ausdruck fand, Stichwort Meme-Kultur: die kreative grassroots Social Web-Bildsprache für soziale und politische Kritik. Tiefschwarzer Humor in the face of alles Übel der Welt. Das gestreichelte Flüchtlingsmädchen wird in der Bilder- und Geschichtenlogik der Memes zur Figur, die für alles steht, wo deutsche Politik zu kalt und egoistisch handelt, ob Flüchtlingspolitik oder Griechenland. Natürlich gab es schnell eine Tsipras streichelnde Merkel, die von Rechten angelegte (und inzwischen gelöschte) Google-Map von Flüchtlingsheimen machte ex-de:Bug-er @Bleed zum Streichelzoo Deutschland, Alexander @Nabertronic Naber (Publikative/Jungle World/Vice) zückte ein passendes Adorno und Horkheimer Zitat, und selbst ein Evgeny Morozov konnte sich den Sarkasmus nicht verkneifen: “This week has been fantastic for German public diplomacy. All that was missing was Merkel making refugee children cry.”

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Auch der Zeitpunkt spielte hier eine Rolle: Der Hashtag-Protest wäre vielleicht nicht so groß geworden, wenn nicht gerade die Kanzlerinnen-PR-Maschine durch dichte zeitliche Aufeinanderfolge von Griechenland-Schock und dem (natürlich!) unkritischen LeFloid-Interview eine gewisse Dissonanz erzeugt hätte. Angesichts politischen Verhaltens, mit dem viele nicht einverstanden waren, hat sich im Netz spürbar ein Gefühl der Ohnmacht, der Machtlosigkeit verbreitet, das in #merkelstreichelt ein symbolisches Ventil fand. Die Ablehnung der Ehe für alle waberte noch als Restwutwölkchen in den Hinterköpfen herum, und die Quasi-Domestizierung vom ‘jungen wilden’ YouTuber LeFloid zur Regierungs-PR folgte so schnell auf das paternalistische, ‘unmoralische Angebot’ Schäubles an Griechenland, das Merkel auch noch als “nie gekannte europäische Solidarität” zu verkaufen versuchte, dass die mit der Situation mit dem Flüchtlingsmädchen entstandene Lücke in Merkels sonst so effizienter PR-Gummimauer selbstverständlich als memeförmiges Ventil genutzt wurde. Dass dahinter eher Platinen und Kontakte zum Vorschein kamen als Fleisch und Blut (mehr Data oder mehr Lore, was meint ihr?), bestätigt nur, worauf unser politisches System Wert legt und was ich weiter vorne im Text schon beschrieb.

Zum Schluss noch mal in aller Deutlichkeit: Ein #Hashtag-Storm ist nicht anhand wörtlich genommener Tweet-Inhalte zu analysieren, genauso wenig wie sich anhand wörtlich-genommener einzelner Slogans auf Demo-Schildern der ganze Hintergrund einer Demo auf der Straße verstehen lässt. Oder for the media people: Eine Zeitung ist mehr als ihre Schlagzeilen und ihr solltet eure Leserschaft respektieren statt sie runterzumobben – lasst das Wort Shitstorm das nächste Mal doch einfach stecken und fangt lieber das analysieren und recherchieren an und vergesst den Respekt vor der Quelle nicht.

Ein Social Media Storm ist Ausdruck eines Smart Mob, eines Schwarms von Meinungen, die dem Medium, der Plattform und ihrer Struktur und ihren Regeln gemäß zugespitzt und vereinfacht und auf eine Pointe hin konstruiert sind: Social Media sind so angelegt, dass nur Virales zu einer breiteren Masse durchkommt. Darauf gehen manche User (genauso wie manche Newsmedien) bewusster, manche intuitiver ein, manche gewitzt und stilvoll, manche plump und daneben, aber alle haben sie verstanden: wer sich nicht den viralen Regeln der Plattform anpasst, bleibt unsichtbar und ungehört. Eigentlich sollten Journalist*nnen das am besten verstehen. Ich sag nur: bescheuerte Clickbait-Schlagzeilen, allwöchentlich durch’s Dorf gejagte “Zukunft der Medien ist WhatsApp/Snapchat/Periscope/AppleWatch” Panik oder mit fast religiöser Andacht verfolgte Social Media-Tipps und -Seminare, die längst zu einer eigenen Branche gewuchert sind.

 

*)  Das eingangs gefallene Günter Hack-Zitat für Nichtguckende von Game Of Thrones, der Serie (die vor blutiger Gewalt- und Willkürherrschaft nur so strotzt): Valar morghulis (“All men must die!”) ist dort ein Gruß, dem traditionell “Valar dohaeris” (“All men must serve!”) erwidert wird.

So dass es sich grade noch wie Demokratie anfühlt


Eigentlich hasse ich es, wenn ich mich über aktuelles allgemeines politisches Geschehen aufrege, aber von Zeit zu Zeit – naja, ehrlich gesagt immer öfter – passiert auch mir das. Dann muss ich anfangen über all die damit verbundenen Themen erst mal nachzulesen, weil ich nicht mehr regelmäßig Zeitungen mitverfolge, sondern Neuigkeiten nur noch in einer wilden Mischung aus Twitter-Links und meinen feedly-Abonnements je nach Zeit, die mir zur Verfügung steht, konsumiere. Wenn ich das Nachlesen anfange, konfrontiert mich das, mit meiner Ignoranz, wenn ich sehe, was ich alles nicht mitbekommen habe, und das macht mich dann noch schlechter gelaunt. Keine schöne Situation. Zum Thema Überwachung im Feld der NSA Leaks wollte ich schon länger was schreiben, aber ich fühlte mich einfach zu erschlagen von der Flut an immer wieder neuen Enthüllungen und Kommentaren zu deren Konsequenzen, als dass ich einen Punkt gefunden hätte, an dem ich anzusetzen gewollt hätte.

So ein Punkt war für mich erreicht, als ich in den Nachrichten vor einer Woche oder so las, dass nach dem deutschen Verfassungsschutz (bei dem es der NSU Fall deutlich gezeigt hat und immer noch zeigt) auch der BND jenseits verfassungsgemäßer Grenzen zu agieren scheint, und das ohne sich dabei auch nur im Geringsten um Menschenleben zu scheren. Stefan Buchen schrieb für die Tagesschau darüber, wie das Leaken von deutschen Mobilfunknummern von Terrorverdächtigen an die NSA schon seit 2003/2004 ‘common use’, also ganz allgemein gebräuchlich für den BND ist. Dieses Vorgehen dürfte unter anderem dabei geholfen haben, US Drohnenangriffe – nun ja, etwas ‘effektiver’ zu machen. So heißt es in einem Artikel von Hans Leyendecker in der Süddeutschen: “diese GSM-Mobilfunknummern machten gezielte Drohneneinsätze auf Menschen möglich – und diese Drohneneinsätze seien eigentlich Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren.” Also, Deutschland, so ganz nebenbei im Rahmen der Snowden Leaks erfahren wir, dass wir den USA dabei helfen Leute umzubringen. Ich hoffe, dass niemand den schwachen Behauptungen des BNDs glaubt, dass diese Daten nicht exakt genug sind, um ein Ziel zu erfassen, wenn doch dieselbe technische Zauberei ziemlich exakt funktioniert, wenn sie jedes Wochenende von hunderten JungesellInnenabschiedsfeiernden dazu benutzt wird sich per GPS Routing sicher nach Hause leiten zu lassen, wenn sie zu betrunken sind, um sich noch an den Weg zu erinnern.

Die Wellen von Nachrichten über das große NSA-zentrierte Überwachungsnetzwerk haben ein Level erreicht, auf dem der Ruf nach neutralen Autoritäten, die diese Geheimdienste überprüfen und über die Rechtmäßigkeit und Angebrachtheit ihrer Methoden urteilen sollen, nicht mal mehr als annähernd genug erscheint. Was wir bis jetzt schon wissen, ist weit jenseits eines Punktes, an dem Vertrauen in diese Institutionen und damit auch unsere Regierungen durch Transparenz wieder hergestellt werden könnte. Nachdem wir so direkt und schamlos eine Lüge nach der anderen präsentiert bekamen, siehe nur wie Pofalla und Friedrich das Thema einfach als beendet vom Tisch wischen wollen – wären doch die einzig schlüssigen Konsequenzen in einer demokratischen Gesellschaft die Eliminierung dieser Institutionen in ihrer jetzigen Form und große Veränderungen in der Regierung. Das wird natürlich nicht passieren, das ist klar, so eine große Träumerin bin ich auch nicht. Schließlich haben ja auch alle unserer regierenden Parteien entweder mitgeholfen, den Weg zum jetzigen Stand des Überwachungsstaates zu bereiten, oder sie waren nicht fähig ihn zu verhindern. Die Wurzeln davon reichen ja etliche Jahre zurück.

Die Arroganz oder vorgespielte Naivität – und dabei hoffe ich noch, dass sie vorgespielt ist, denn das wäre ja einer tatsächlichen Ahnungslosigkeit noch vorzuziehen – mit der die höchsten PolitikerInnen um dieses Thema herumtrippeln, ist unglaublich. Da dies alles so nah an den nächsten Wahlen in Deutschland passiert, führt es uns auch in aller Deutlichkeit vor Augen, in was für einem desolaten Zustand unsere Demokratie ist. Die Leute zucken lethargisch die Schultern in ‘kann doch eh nix ändern’ Posen und tatsächlich: es gibt letztlich keine wählbare Partei, die wirklich überzeugend für Datensicherheit und Schutz des Privaten steht. Ja, ich weiß… die Piraten… theoretisch. Ach je.
Merkel ist im Urlaub, beziehungsweise inzwischen wieder zurück und stellt sich hinter Pofalla und die Versicherungen der USA, sprich: Sie sieht da gar keine Unrechtmäßigkeiten. Ex-Kanzleramtsminister Steinmeier will im Parlamentarischen Kontrollgremium reden, darf aber nicht. Die Opposition protestiert ein bisschen, aber als das Thema nicht reicht, um die Wahlprognosen zu ihren Gunsten zu ändern, stellt sich die Basis gegen Steinbrück, und er ist gleich fleißig dabei, – da ist diese vorgespielte Naivität wieder – Obamas große “schaut mal, wir haben euch eine Transparenzwebsite gemacht”-Rede, zu loben, in der dieser es schaffte, über die Bürgerrechte am Beispiel eines Abwaschs zu reden.

Mir ist auf deutsch-politischer Ebene inzwischen eigentlich jegliche Lust vergangen, die ganzen einzelnen Reaktionen irgendwelcher PolitikerInnen und Geheimdienstleute mitzuverfolgen. Ich bin es müde, auf echte Aufklärungsbemühungen zu warten, die viel schneller an Stelle dieses ganzen Herumgetrapses hätten treten müssen, an Stelle dieser Machtspielchen bei denen alle schon triefen vor Wahlkampfsgesabber. Das einzige, bei dem sie wirklich bemüht sind Kontrolle wiederzugewinnen, ist der Effekt dieser Enthüllungen auf ihre BürgerInnen. Lasst uns alles schön stabil halten, lasst uns die Menschen dazu bringen, auch wirklich ihr Recht zu Wählen zu nutzen, aber bitte nicht zu politisch werden dabei.
Eine Anekdote dazu: Jan Böhmermann vom NEO Magazin hat auf facebook gepostet, dass er von der Bundeszentrale für politische Bildung gebeten wurde,  einen catchy Wahlspot für die politikverdrossene Jugend beizusteuern. “Die Grundregeln: Lustig, motivierend, politisch, wenn möglich clever, aber bitte keine parteipolitische Werbung und Geld gibt es natürlich nicht – ist ja für die gute Sache.”
Er hat dann tatsächlich einen Jingle gemacht und erzählt weiter:

“Nach einigen Tagen kam eine etwas überraschende Antwort von der BZpB auf meinen Werbespot, nämlich eine freundliche Ablehnung, mit der Bitte, meinen Spot in Bezug auf die “schwierigen Stellen Mindestlohn und Elektroautos” zu entschärfen. Die nämlich seien nicht parteipolitisch neutral. Ein Vorschlag zur “Verallgemeinerung” lag der E-Mail auch bei. Nämlich dieser hier: ‘Es geht um den Verkehr – also den auf der Straße, um Ihr leckeres und gesundes Essen, um die gute Luft, die Sie zum Atmen brauchen, um die Steuern, die sie brav zahlen müssen … ja, darum geht’s. Also eigentlich um ALLES!!!’
Dass ich als “subversiver Moderator” (Markus Lanz über Jan Böhmermann) mit meinem Charity-Spot mal ausloten wollte, wie die BZpB die Grenzen von “parteipolitischer Neutralität” definiert, wäre eine üble Unterstellung. Aber welche Partei ich jetzt mit meinem Werbespot unterstütze, weiß ich wirklich nicht. CSU, CDU und FDP wegen meiner BMW-i3-freundlichen Unterstützung von Serienelektroautos? Grüne, Linkspartei und SPD wegen des Mindestlohnes? Oder keine der im Bundestag vertretenen Parteien wegen der geforderten aber von niemandem betriebenen, ernsthaften und durch Kompetenz fundierten Ablehnung und Bekämpfung von totaler Internetüberwachung durch ausländische Geheimdienste?”

Böhmermanns Fazit: “Parteipolitisch neutral? Wohl eher: unpolitisch.”
Er hat keinen neuen Spot gemacht, das sei noch zu erwähnen.
Und so ist sie, die Politik: durchgestylt von Medienprofis, sie lässt die Parteien sich immer mehr annähern in ihrem Bestreben keinen Machtverlust durch unbequeme Aussagen zu erleiden, sie weiß was die Leute hören wollen und suggeriert immer grade so viel Mitspracherecht, dass es sich grade noch wie Demokratie anfühlt. Katrin Rönicke schreibt wunderbar treffend auf ‘Wostkinder’: “Politik ist heute zum Verharren geworden”:

 “Wenn das Politische aber auch (…) immer daran gemessen werden muss, wieviel Dissenz und wie viele wirkliche ‘Kontrahenten’ im politischen System vertreten sind, (…) dann wird das, was Politik heute darstellt vor allem als eines sichtbar: als unpolitisches Verwalten. Ein bloßes Reagieren.”

Aber auch wenn ich dabei und beim Lesen des von ihr am Schluss ihres Artikels verlinkten Artikel Günter Gaus’ ‘Warum ich kein Demokrat mehr bin’ ein paar mal beipflichtend seufzte: Absurderweise, verspüre ich im Gegensatz zu Rönicke gerade heuer, wo ich mehr denn je das Vertrauen in unsere Demokratie verliere und keine Ahnung habe was und wen ich wählen sollte, einen viel größeren aber völlig unerklärbaren Drang wählen zu gehen, als bei den letzten Wahlen. Vielleicht weil mich all dieses Gerede von geheimen Akten in so eine Art Mulder Stimmung versetzt: “I want to believe.”

[Dieser und die folgenden Blogeinträge basieren grob auf einem englischen Text auf www.evemassacre.org]