30 Jahre Radio Z – eine Radioplattform, die Utopie wagt

Zum Jubiläum von RADIO Z hatte ich die Ehre, gestern eine Rede zu halten, mit ein paar Gedanken zu seiner Rolle in der heutigen Medienlandschaft. Und mein Fangirling für diesen wunderbaren widerspenstigen Sender möchte ich euch auch hier nicht vorenthalten:

Mich freut es, dass die erste klassische Rede, die ich in meinem Leben halten darf, eine für Radio Z ist, denn: keine Institution hat mich neben dem musikverein so sehr geprägt. Meine frühen Erinnerungen an Radio Z stehen dabei auch für eine Zeit, in der gegen traditionelle Gatekeeper aufgestanden wurde – gegen eine konservative Medienlandschaft, gegen professionelle Werturteile, gegen die alteingesessenen Autoritäten in Politik und Kultur und Medien. Es ging um eine subversive Alternative, in der Nischenkultur und dann zunehmend auch gesellschaftlich marginalisierten Menschen eine Stimme gegeben werden konnte. So gab es bei Radio Z schon ab 1989 eine Schwulensendung, wohlgemerkt noch während der Zeit des Paragraphen 175. Viva Radio Z – egal ob verschiedenste internationale Communities, Flüchtlinge, Behinderte, Psychiatrieerfahrene, Feminist*innen jeglicher Couleur, immer wieder kommen neue Jüngere dazu, Queers, Gamer, Filmliebhaber, Internet-Nerds, aber auch ganz viele Menschen mit exklusivem Musikgeschmack, den sie in inkludierende Musiksendungen verwandeln, mit Musik aus verschiedensten Genres, Ländern, Äras oder aus verschiedensten Gesichtspunkten betrachtet …. Themen mal aus anderen Perspektiven zu sehen, einen machtkritischen Blick, einen mainstreamfernen Blick, und ein Blick von Marginalisierten, die hier ihre Perspektive auf die Welt sichtbar machen – das sind Inhalte, die im Mainstream, der sich an Quoten und Werbefinanzierung orientiert, keine Stimme bekommen oder bekommen können.

Dass Abhängigkeit von Werbung Medien nicht gut tut, lässt sich derzeit an den Problemen der Zeitungsbranche mitverfolgen, die verzweifelt ihren Platz in einem Social Media-dominierten Internet sucht. Social Media zeigt uns langsam seine problematische Seite: Ja, dort können alle sprechen, aber nur zu den Bedingungen der strukturellen Logik der Plattform. Das heißt: eine Plattform, die von Werbung finanziert wird, muss zu lernen versuchen, worauf Menschen am meisten reagieren, und diese Aufmerksamkeitsökonomie wirkt zurück auf ihre User: Wer am provokativsten, am lautesten, am gefühlserregendsten postet, wird am meisten gehört. Dass die Attention Economy von Social Media Plattformen schädlich für das Vermitteln von Nachrichten ist, weil es – gemäß einer zur Werbewirksamkeit nötigen viralen Logik hinter dem Filtern der Timelines – besonders populistische Inhalte bevorzugt anzeigt, gehört wahrscheinlich zu den bittersten gesellschaftlichen Lernerfahrungen des vergangenen Jahres. Es ist ein Paradebeispiel dafür, warum alternative Medienstrukturen, die unabhängig von Sponsoring und Quoten sind, so wichtig sind.

Das Format Radio mag sich für manche heute ein bisserl altbacken anhören, aber das tat es auch schon, als Radio Z anfing. In den 80ern wurde mit MTV das Radioformat totgesagt, “video killed the radio star”. Heute wissen Jüngere nicht mehr, was MTV ist, während nicht zuletzt der wahnsinnige Erfolg von Podcasts und Mediatheken, wie auch Radio Z längst eine hat, eine erneuerte Beliebtheit des Audioformats zeigt – wahrscheinlich werden Menschen es einfach nie müde werden, sich Geschichten zu erzählen und erzählen zu lassen und eine der vielen Künste, die es beim Radiomachen zu erlernen gilt, wird es bleiben, sich immer wieder einen Platz in neuen technologischen Infrastrukturen zu suchen.

Vom Tonbänderschneiden und Flyerkopieren der frühen Jahre bis zu Digitalschnitt und Internetpräsenz – Radio Z stand vor vielen Veränderungen, und Radio Z stand oft kurz vorm Abgrund, aber hat es immer wieder geschafft, sich neu zu erfinden in den vergangenen 30 Jahren. Und das in einer Art und Weise, zu der ich abgewandelt eine großartige Veteranin dieses Senders zitieren will, nämlich Tine Plesch: “Ein kritischer Sender muss, wenn er diesen Anspruch wirklich hat, sein eigenes Scheitern und seine unabänderliche Eingebundenheit in die kapitalistische Gesellschaft stets mitdenken und tatsächlich auch thematisieren.” Bei Radio Z geht es nicht nur um das, was aus den Lautsprechern kommt; nicht Radio als Produkt, sondern Radiomachen als gemeinschaftlicher Prozess. Deswegen an dieser Stelle ein großes Shout Out an all die ganzen großartigen verrückten Menschen, die im Hintergrund Radio Z zusammenhalten – dieses große zappelnde widerspenstige Ungetüm von Community.

Einer der Punkte, die Radio Z so unersetzlich machen, ist auch seine geographische Verortetheit – es ist kein geographisch beliebiges Medium, es ist ein Lokalradio. Und damit meine ich nicht den inhaltlichen Fokus auf lokale Ereignisse, auch wenn der auch dazu gehört, nein, hier meine ich: Leute aus den unterschiedlichsten Schichten und Szenen ein und derselben Stadt finden sich seit sage und schreibe 30 Jahren bei diesem Knotenpunkt Z zu einer Polyphonie zusammen. Es gibt nichts auch nur annähernd Vergleichbares in dieser Stadt, was ein solch diverses Netzwerk von Stimmen darstellt, was so gut die kritische und die kulturelle Vielfältigkeit von Nürnberg repräsentiert. Wenn ich was Symbolisches für das urbane Herz von Nürnberg wählen müsste, wäre das bestimmt kein Hochglanzbild einer blau angestrahlten Burg, sondern viel eher ein vielleicht etwas unansehnlicherer, aber von einer Vielfalt von Signalen nur so pulsierender Kabelhaufen in der Ecke von Radio Z. Es ist Community Radio im besten Sinne: Es gewährt einen granularen Einblick in diese Stadt, einen Zugang durch hunderte kleiner Türen statt nur durch ein großes Tor. Hinter jeder Tür eine andere Stimme, die etwas vorzubringen hat, die Musik vorzustellen hat oder einen kritischen Kommentar oder eine satirische Pointe, und das – um noch mal zum Finanziellen zu kommen – ohne Entgelt.

Es ist ein Medium, das trotz seiner wichtigen Rolle kaum Geld zur Verfügung hat. Umbequemen kritischen Stimmen wird halt auch nicht so gern Geld gegeben, egal wie wichtig ihre Rolle in unserer Gesellschaft ist. Ehrenamtliche Arbeit wird zwar immer schön hochgehalten, aber die Grenze zwischen Selbstaufopferung und Selbstausbeutung, und das nötige Privileg, die Freizeit für Ehrenamt statt eines Zweit- oder Drittlohnerwerbs zu haben, wird dabei meist unter den Tisch gekehrt. Diejenigen, die sich bei Radio Z engagieren, kommen zu einem großen Teil auch aus äußerst prekären Lebensverhältnissen – deswegen nicht nur ein großes Dankeschön von mir für die ganze unbezahlte Arbeit an einem so großartigen Spektrum an Radiosendungen und der Radio Z Infrastruktur, sondern auch die dringliche Forderung nach mehr Förderung!

Es macht mich immer wieder traurig und wütend, wenn ich sehe, wie wenig Förderungsgeld den zuständigen Behörden ein solch großartiges Community Projekt wie Radio Z es ist, wert ist. Ein solch nachhaltig kritisches Medium, eine solch diverse Plattform von Stimmen, ein solch utopischer Raum. Denn letztlich geht es bei Radio Z auch um das, was derzeit zum Beispiel unter dem Begriff “Safe Space” immer wieder heiß diskutiert wird. Nämlich alternative solidarische Räume zu schaffen, in denen ein Ausnahmezustand hergestellt wird, in dem alle Menschen gleich laut gehört werden können, an dem alle Mitglieder mitdiskutieren, mitentwerfen, mitbauen können. Und das ist es, was Radio Z letztlich für mich die letzten 30 Jahre immer gewesen und immer noch ist und bestimmt auch weiterhin sein wird: Eine Radioplattform, die Utopie wagt!

Meine neue Radiosendung: FUTURE CONTENT #01

Ich habe beim besten Community Radio des Universums, Radio Z, eine neue Radiosendung namens FUTURE CONTENT gestartet, das Konzept könnt ihr hier lesen und sie läuft immer am ersten Sonntag des Monats von 22-0 Uhr (die nächste ist am 5. März). Danach wird sie, wenn alles klappt, eine Woche lang in der Mediathek von Radio Z zu hören sein. Und ich lade sie dann immer noch auf Mixcloud hoch, da könnt ihr sie dann noch viel länger streamen. (Podcast im klassischen Sinn geht leider nicht, blame your Gesetzgeber, aber es ist ja nicht so, dass ihr nicht fähig wärt, “downloaden von mixcloud” zu googlen. ^^ )

Die Premiere war am 5. Februar und ich war ganz schön aufgeregt, weil ich seit gefühlten 100 Jahren kein Live-Radio mehr gemacht hatte und nicht sicher war, ob ich das mit der Studiotechnik alles so hinbekomme, aber es lief dann ganz gut. Hier der Mixcloud-Link und die Playlist:

[mixcloud https://www.mixcloud.com/evemassacre/future-content-01-radio-show-on-radio-z/ width=100% height=60 hide_cover=1 mini=1 light=1]

NO TV NO RADIO – Peace
Begrüßung
Gr◯un土 – Fr∞shine
Sendungskonzept
AUSTRA – Utopia
Host-Vorstellung
CHIMURENGA RENAISSANCE – Girlz with gunz
Chimurenga Renaissance
CHIMURENGA RENAISSANCE – She is the fairest of them all
JOHN CONGLETON & THE NIGHTY NITES – Just lay still
John Congleton und Torchwoods Owen Harper
JOHN CONGLETON & THE NIGHTY NITES – Canaries in the coalmine
Benjamin Bratton über künstliche Haut und Sinnerfahrungen, und über Städte und AI
ZORA JONES – Zui
Benjamin Bratton über Städte und AI und John Congleton
OLGA BELL – Your life is a lie
ABRA – Thinking of u
Mark Fisher und It Follows
DISASTERPEACE – Heels
It Follows und Mark Fisher
BURIAL – Street Halo
Fanfic
LOS CRIPIS – All my friends are dead
Slash – Film über Fanfic
DAVID BOWIE – The London Boys
ELVIS DEPRESSEDLY – PepsiCoke Suicide
Neu-rechte Strategien im öffentlichen Diskurs 1
FAT WHITE FAMILY – Whitest boy on the beach
Neu-rechte Strategien im öffentlichen Diskurs 2
BOY HARSHER – Pain
Neu-rechte Strategien im öffentlichen Diskurs 3

TANKINI – We sat on the porch
Neu-rechte Strategien im öffentlichen Diskurs 4
YOUNG FATHERS – Only god knows
Abschied
JENNY HVAL – Period piece

Fühlst du dich sicher? Facebooks Beunruhigungs-Check

Als ich das erste Mal von Facebooks Safety Check Feature hörte, fand ich es eine großartige Sache. Das war zu einer Zeit, als es nur bei Naturkatastrophen eingesetzt und von einem Team betreut wurde. Es schien eine praktische Möglichkeit zu sein, mehrere Menschen zugleich übersichtlich über dein Wohlbefinden zu informieren, auch wenn Handynetze zusammenbrachen.

Ranking von menschlichem Unglück

Als Facebook dazu überging, den Safety Check auch für Terroranschläge einzusetzen, kam es in die Kritik, dass hier eine US- und EU-zentrische Wertung von Menschenleben stattfände, denn das Feature war zwar beim Anschlag in Paris aktiviert worden, aber nicht am Tag zuvor bei dem Anschlag in Beirut. Damals begründete Zuckerberg das damit, dass sie bis Paris das Tool nur für Naturkatastrophen eingesetzt hätten, und Beirut eben einen Tag vor dieser Ausweitung geschah.

Bereits damals, November 2015, wurde von vielen in den Comments jedoch trotzdem beklagt, dass diese Begründung nicht erkläre, warum der Safety Check in einem Gebiet wie Aleppo auch nach Paris nicht geschaltet wurde. Es wurde von manchen vermutet, dass dort ein anderer Schwellenwert für menschliches Unglück angelegt wurde. Auch die Journalistin Domenika Ahlrichs erwähnt in einem Interview für Wired/DetektorFM nach dem Anschlag in Berlin, dass sie den Safety Check für sich selbst in Berlin als seltsam unangemessen empfand, gerade auch weil die Tage vorher die Zerstörung von Aleppo die humanitäre Katastrophe war, die alle beschäftigte und das Feature für die Menschen dort nicht freigeschaltet worden war. In diesselbe Richtung ging die Kritik der Journalistin Molly McHugh in einem Text darüber, wann Facebook eins seiner Beileids-Flaggen-Avatar-Features freischaltete und was das auch für Kontroversen unter Usern nach sie zog: “Facebook has put itself in the business of ranking human suffering, and that’s a fraught business to be in. Facebook is built on ranking things that matter and how much, like which BuzzFeed quizzes you see in your News Feed or which friends’ photos show up the most. But it’s deeply uncomfortable—disturbing, really—when that same idea is applied (even with what I have to imagine are different metrics) to disaster and death.”

Nun, etwas als flächendeckende Gefährdung von Menschenleben einzustufen, das ist keine Entscheidung, um die man irgendjemanden beneiden würde, da sie komplex ist und eine große Verantwortung daran hängt. Menschen verhalten sich anders, oft gefährlich irrational, wenn sie in Panik geraten, Angst haben, deswegen wird bei Falscheinschätzungen die Presse oder Regierungsbehörden auch auf Schärfste kritisiert. Und bei ihnen lag lange das Monopol über weitreichende Meldung und Einordnung von Katastrophen. Die Entscheidungen fallen da auch durchaus verschieden aus, so waren die behördlichen Katastrophen-Warn-Apps KatWarn und Nina meines Wissens z.B. für Berlin nicht aktiviert, in München schon. Daneben informieren sich inzwischen auch viele nicht mehr direkt auf Medienwebsites oder TV Nachrichten, sondern über Social Media.

Katastrophen verstehen via Social Media

Ich nutze am liebsten Twitter. Anders als wenn ich eine Nachrichten- oder behördlichen Meldung 1:1 als Information akzeptiere, funktioniert das Verstehen einer Katastrophe oder eines Anschlags auf Social Media anders. Auf Twitter kann ich via meiner Listen-Timelines oder auch eines Hashtags recht schnell ein Bild der Lage herausfiltern. Aus einer wilden Mischung von Tweets von Journalist*innen, Polizei, Augenzeug*innen, Politiker*innen und einem Haufen Menschen, die das Ereignis einzuschätzen versuchen, und mit Retweets und Kommentaren in einer Art Hive Mind Sachverhalte verifizieren, aber sich auch Zuspruch spenden, sich beruhigen, sich mitteilen welche Accounts oder Hashtags gerade Wichtiges beitragen, oder auch sich zu warnen, vor Gefahr ebenso wie vor dem Weitertragen von möglichen Falschmeldungen – daraus kristallisiert sich ein Bild der Ereignisse.

Auf Facebook funktioniert das nicht so gut, schon allein weil die Timeline nicht chronologisch und auch zu stark gefiltert ist, um für Echtzeitereignisse zu taugen. Ich bekomme zum Beispiel regelmäßig Postings über eine Veranstaltung erst einen Tag zu spät in meinen Newsfeed gespült. Aber so im Groben ist Facebook darin besser geworden, inzwischen auch zeitnah eine Mischung aus privaten Postings und News zu einem Ereignis in meinen Newsfeed durchzulassen, durch die sich ein grobes Bild des Geschehens machen lässt. Mit dem Schritt zum Aktivieren des Safety Checks allerdings, wenn es mit Push-Nachrichten aktiv Menschen über eine Katastrophe informiert, macht Facebook den Schritt zu einer Autorität, die sich über den Newsfeed erhebt und wird zu einer Mischung aus Social Tool, Nachrichtenmedium und Katastrophenwarndienst.

Mischung aus Social Tool, Nachrichtenmedium und Katastrophenwarndienst

Was für einen Effekt hat das? Als ich zwischen zwei Tassen Feuerzangenbowle und gemütlichen Gesprächen am Abend des Anschlags von Berlin einen Blick auf Twitter warf, fand ich die oben beschriebene Mischung von Tweets vor und hatte schnell die Information: was passiert war, grobe Opferzahlen, dass es noch keine Einordnung als Terroranschlag gab. Zu diesem Zeitpunkt hätte es auch ein Unfall sein können. Als ich Facebook aufrief, begrüßte mich dagegen die Meldung dass 138 meiner Freund*innen bei einem Anschlag draufgegangen sein könnten. Das versetzte mir – trotz des Wissens von Twitter her – schon mal eben einen ganz schönen Adrenalinstoß. WTF?! Und ich fand auch keine Option, um es ausschalten zu können. Von den 138 meiner Freund*innen, die Facebook (zum Teil fälschlicherweise) in Berlin verortet hat, sind bis heute gerade mal 67 als “safe” markiert. Was bringt mir so ein Tool? Soll ich panisch alle 67 anschreiben, ob sie unter den 12 Toten waren? Und ging es dem Rest auch wirklich gut, denn: Personen können auch von anderen als “safe” markiert werden. Jemand berichtete auch, dass sie, als sie sich als “Not in the area” markierte, als “Location unknown” gelistet wurde – auch nicht gerade beruhigend, da es als “gilt als vermisst” verstanden werden kann.

Es war nicht nur die zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht von offiziellen Quellen bestätigte Einordnung als “Anschlag”. Es war auch das Charakteristikum des Social Tools, das mich störte, denn das hat eben einen anderen Fokus als Nachrichten: Es macht dich zum Zentrum des Ereignisses, es ist personalisiert. Wo ich auf Twitter Solidarität mit Fremden empfinde, ich mich dort gerade in solchen tragischen Momenten von einem Gemeinschaftsgefühl aufgehoben fühle, schafft es Facebook immer wieder mit seiner Art der Personalisierung das unmöglich zu machen, Brüche zu den Menschen und in einem gemeinsamen Erleben zu schaffen. Sei es durch die Filterung, die zeitlich versetzte Postings bringt, oder sei es, indem es bei special Features von Memories bis zu Safety Check mein Erleben so sehr ins Zentrum stellt, und bei letzterem in der Form, mir eine große Auswahl meiner Freund*innen als mögliche Terroropfer vor den Latz zu knallen.

Und genau das tut es: es wirkt wie ein Nachrichtenmedium, das vom Schlimmstmöglichen ausgeht. Es erinnerte mich daran, wie ein viel verbreiteter Tweet am nächsten Tag zwei Zeitungstitelseiten nebeneinander stellte:

Facebooks Safety Check war sowas wie die BILDZeitung unter den Social News.

Wie kam es zu der Einordnung als Anschlag (Erst hieß es “Anschlag”, dann “Gewalttat”, dann “Vorfall” – inzwischen wieder “Anschlag”.), obwohl die offiziellen Behörden das noch nicht bestätigt hatten? Nun, bis vor kurzem hatte Facebook ein Team von Menschen, die einen Safety Check erst freischalten mussten. Inzwischen aber haben wir es mit einer automatisierten Auslösung zu tun, zu der Patrick Beuth in der ZEIT die Facebook-Sprecherin zitiert: “Stojanow sagt, sobald bestimmte Begriffe wie Feuer, Erdbeben oder auch Anschlag in einer Region so häufig von Facebook-Nutzern gepostet werden, dass sie einen Schwellenwert überschreiten und die entsprechende Nachricht auch von externen Dritten verbreitet wird, denen Facebook vertraut, löst der Safety Check automatisch aus. Diese Dritten können zum Beispiel lokale Medien sein.” Von menschlicher Hand wird bei Facebook dann erst nachgebessert, wenn Nachrichtenmedien Genaueres berichten, schreibt Chris Köver im Wired, und ergänzt: “Die Mühe, Angaben selbst bei den Primärquellen nachzuprüfen, in diesem Fall der Berliner Polizei, macht sich Facebook jedoch nicht.” Offensichtlich wurde nicht mal auf der Facebookseite der Berliner Polizei nachgelesen. So kam es denn zu chaotischen Informationen: Im Falle Berlins musste sogar der Ort nachgebessert werden, anfangs stand “Berlin-Heinersdorf” im Safety Check.

Einen anderen Fall gab es vor ein paar Tagen und auch er zeigte, dass eine Verifizierung aus guten Gründen zur journalistischen Verantwortung gehört: Facebook gab einen falschen Safety Check wegen einer großen Explosion im Stadtzentrum von Bangkok heraus. Basis dafür waren wohl ein Demonstrant, der kleinere Böller auf ein Regierungsgebäude warf und eine Fake-Newsmeldung, die ein BBC-Video von einer Explosion aus dem Vorjahr verwendete. Als Facebook den Safety Check – automatisiert – ausgelöst hatte, markierten sich unter anderem auch Journalist*innen, da sie Facebook als Quelle ernst nahmen. Da sie wiederum zu den Personengruppen gehören, die anderen als Verifizierungsinstanz dienen, bestätigten sie damit versehentlich die Falschmeldung noch zusätzlich. Ein anderes Mal wurde für ganz Chicago wegen eines “violent crime” der Safety Check ausgelöst. Dann wieder war es ein längst gelöschtes Feuer in Dallas, dass das Feature auslöste.

Einerseits werden hier also klassische öffentliche Informations-Infrastrukturen von Facebook mit einem eigenen Feature durchbrochen, andererseits übernimmt Zuckerberg keine Verantwortung für Fehler. Für so ein soziales Herumexperimentieren im learning by trial and error-Stil am lebenden Objekt wäre weder für Nachrichtenmedien noch für staatliche Behörden akzeptabel, aber bei Facebook nehmen es viele kritiklos hin. Heuer war überhaupt das erste Mal, dass Zuckerberg von seinem Standpunkt abwich, dass sie ja nur neutrale Technologie schaffen würden, durch die Information fließe: Er hat einen Bruchteil von Verantwortung an der Verbreitung von Fake-News eingeräumt.

Die Korrektur von Falschmeldungen, egal ob sogenannte Fake-News oder Fehler beim Safety Check übernimmt jedes Mal die Presse, und Facebook gibt nur widerwillig Kommentare dazu ab. Von guter Absicht, von Neutralität dank Automatisierung und von ständiger Verbesserung wird dann geschwatzt – und die User seien quasi selber schuld, denn der Safety Check wird “initiated by people … and not by Facebook itself”. Den wenigsten Usern ist allerdings überhaupt bewusst, dass sie durch ein Posting, in dem sie den Verdacht äußern, dass in ihrer Nähe ein Anschlag stattgefunden haben könne, auf die Auslösung eines Safety Check einwirken. Und, ganz soziales Datenexperiment, das Facebook auch ist, zählt die uninformierte spontane Meinung mehr als die informierte, sich einer Verantwortung bewussten, und auf einen Kontext hin formulierte Äußerung. (vgl. dazu auch Zuckerbergs Utopie von Telepathie als “ultimate communication technology”, die William Davies in einem Artikel für den Atlantic in Zusammenhang mit einer Philosophie des Neuromarketing bringt: “People lie, brains don’t. Observe what people really feel, the thinking goes, rather than what they say they feel.”)

Die User als uninformierte Versuchskaninchen und als eigentlich Verantwortliche

Die User sind also für Facebook gleichzeitig verantwortlich andererseits aber uninformierte Versuchskaninchen für das Große und Ganze, für die Optimierung von Facebook als sozialer Infrastruktur unserer Gesellschaft. Facebook als Plattform für soziale Experimente machte 2014 Schlagzeilen, als sie Usern über einen begrenzten Zeitraum nur positive oder nur negative Meldungen in ihrer Timeline zeigten, um zu testen, ob Emotionen ansteckend seien. Ethisch wäre das sonst ziemlich fragwürdig, aber im Falle von dem sich gern als humanitär darstellenden Facebook kam es denn schon auch zu solchen Verteidigungen: “it’s worth keeping in mind that there’s nothing intrinsically evil about the idea that large corporations might be trying to manipulate your experience and behavior. Everybody you interact with–including every one of your friends, family, and colleagues–is constantly trying to manipulate your behavior in various ways. … So the meaningful question is not whether people are trying to manipulate your experience and behavior, but whether they’re trying to manipulate you in a way that aligns with or contradicts your own best interests.“

Trotz aller Faszination und Liebe zu sozialen Netzwerken, oder eher gerade deswegen, stehe ich da aber schon ganz hinter Zeynep Tufekci, die in “Engineering the Public” schreibt: “resignation to online corporate power is a troubling attitude.“ Gerade weil ich diese Infrastrukturen viel nutze, will ich auch wissen, was für Gedanken hinter einem Design stecken könnten, warum sie wie funktionieren usw. Ich wünschte mir auch hierzulande deswegen mehr gute Texte von Webtheoretiker*innen, die Soziologie, Datenwissenschaft und Design kritisch zusammendenken und damit diese neuen Infrastrukturen für die Öffentlichkeit sezieren. Gerade der Safety Check ist ja auch ein gutes Beispiel dafür, dass es längst nicht (mehr) ‘nur’ um Kaufanreize geht, und da lohnt sich wieder mal die Frage: Warum greift Facebook immer wieder zu Automatisierung, wenn diese immer noch so fehleranfällig ist und nicht komplex genug arbeitet?

Typischer Facebook Move: Auf Kritik an Neutralität mit Automatisierung reagieren

Ich erinnerte mich an die Geschichte mit den Trending News, einem Feature, das bei mir nur manchmal eingeblendet wird, in den USA aber wohl für alle geschaltet wird, und das die wichtigsten Themen, die User derzeit bewegen, anzeigt – im Idealfall also sowas wie ein Nachrichtenticker. Als Michael Nunez enthüllte, dass regelmäßig “conservative” Meldungen unterdrückt wurden und die Auswahl der Trending News nicht neutral sei, reagierte Facebook mit der Entlassung der letzten 18 redaktionellen Trending-Mitarbeiter*innen und automatisierte den Auswahlprozess, d.h. es gibt nur noch ein Team, das den Auswahlalgorithmus verfeinert, aber keines mehr, das die ausgewählten Meldungen auf Wahrheitsgehalt oder Qualität prüft. Auch bei diesem Facebook Feature funktionierte das ganz und gar nicht gut, sondern führte dazu, dass innerhalb kürzester Zeit übelste Falschmeldungen von Clickbait-Websites in den Trending Topics auftauchten, sowie Artikel Themen zugeordnet wurden, mit denen sie nichts zu tun hatten.

Dieser Rückzug auf Automatisierung statt menschlichem Urteil ist typisch für Facebook, wann immer es dafür kritisiert wird, dass es keine neutrale Plattform sei. Auch als es dafür kritisiert wurde, dass die Inhalte, die ein User im Newsfeed sehen würde, durch das personalisierte Aussortieren eine Filterbubble schaffen würden, wurde sich hinter dem angeblich neutralen Algorithmus versteckt, den die User doch selbst mit dem füttern, was sie sehen wollen: “It’s not that we control NewsFeed, you control NewsFeed by what you tell us that you’re interested in,” so ein Facebook-Mitarbeiter. Aber wie Jay Rosen, Journalismus Professor und Medienkritiker, schreibt: “It simply isn’t true that an algorithmic filter can be designed to remove the designers from the equation.”

Behauptete Neutralität soll Verantwortung auf User schieben

Nathan Jurgenson, Internettheoretiker und Soziologe, hat das noch genauer ausgeführt: “conceptually separating the influence of the algorithm versus individual choices willfully misunderstands what algorithms are and what they do. Algorithms are made to capture, analyze, and re-adjust individual behavior in ways that serve particular ends. Individual choice is partly a result of how the algorithm teaches us, and the algorithm itself is dynamic code that reacts to and changes with individual choice. Neither the algorithm or individual choice can be understood without the other.”

Nichtsdestotrotz soll die Verantwortung mit einer behaupteten Neutralität hin zu den Usern verschoben werden: “To ignore these ways the site is structured and to instead be seen as a neutral platform means to not have responsibility, to offload the blame for what users see or don’t see onto on the users. The politics and motives that go into structuring the site and therefore its users don’t have to be questioned if they are not acknowledged.”

Auch im Hinblick auf Safety Checks ist das zu beobachten, wie Journalistin Bettina Chang schreibt: “Facebook emphasizes that the community-generated alert is an automatic feature that doesn’t imply any sort of judgment on the event, but rather relies on the reporting of Facebook users themselves and their friend networks.” Klar, und wenn alle User immer Facebook über ihren richtigen Aufenthaltsort informieren würden und nichts Sarkastisches, Vermutetes, oder gar poetische Sprache posten würden, nie etwas ironisch liken würden, also wenn alle User sich so verhalten würden, wie Facebook “Ehrlichkeit” oder “Authentizität” definiert, dann würde alles auf Facebook bestimmt auch viel besser funktionieren. Der Versuch der Verantwortungsverschiebung auf die User ist letztlich nur, wie Jurgenson sagt, ein “ideological push by Facebook to downplay their own role in shaping their own site”.

Beim Safety Check Feature ist wie gesagt gerade ein ähnlicher Ablauf wie beim Trending Feature zu sehen: Ursprünglich wurde es von einem Team von Menschen auf der Basis von “Medienquellen und Polizeiberichten” aktiviert. Nachdem Kritik an den Auswahlkriterien dafür, was als Katastrophe galt, laut wurde, zog Facebook das Team ab, automatisierte den Prozess, und behauptete, damit hätten sie sich selbst als beeinflussender Faktor aus der Gleichung genommen. Damit läge die Verantwortung bei Usern, die auf Facebook ängstliche Vermutungen posten, das etwas passiert sein könne, oder Usern, die Nachrichtenmeldungen dazu posten, und bei “Drittquellen”, die, wie beim falschen Alarm in Bangkok, schon auch mal sogenannte “Fake News”-Websites sein können.

In Sachen Verantwortlichkeit bin ich da aber ganz bei Chris Kövers Resümée im Wired: “egal, wie viele Nutzer auf Facebook zu einem frühen Zeitpunkt schon über einen ‘Anschlag’ diskutierten, diese Bezeichnung kann von Facebook nicht einfach übernommen werden. Wenn ein Feature, dessen erklärte Absicht es sein soll, Menschen in einem KrisenmomentZeiten der Krise zu beruhigen, stattdessen Millionen von Pushmitteilungen auf der ganzen Welt versendet, in denen von einem Anschlag die Rede ist, lange bevor dies bestätigt ist, dann dient das nicht der Beruhigung, sondern der Panikmache.” Und das kann in solchen Momenten überhaupt erst Gefahr hervorrufen. Dazu noch ein Beispiel für eine Falschauslösung: Facebook löste den Safety Check bei einer friedlichen Black Lives Matter Demonstration ein und kennzeichnete damit die Protestveranstaltung als viel gefährlicher, als sie war. In einer bereits geladenen Atmosphäre ist so etwas alles andere als deeskalierend, und es kann auch Menschen so verängstigen, dass sie darauf verzichten, ihr Demonstrationsrecht wahrzunehmen.

Mehr Verantwortung fordern

Es ist dabei völlig egal, ob ein Feature wie der Safety Check durch einen Algorithmus oder aus menschliche Einschätzung heraus ausgelöst wird – wir sollten von Herstellern von Tools, die solch eine zentrale gesellschaftliche Rolle einnehmen wollen, mehr Verantwortlichkeit fordern. Wir sollten mehr Bewusstsein dafür schaffen, dass solche Dinge auch anders funktionieren könnten und nicht immer einfach nur die treudoofen Crash Test Dummies spielen, die einem vermeintlich geschenktem Gaul nicht ins Maul schauen wollen. Gut gemeint ist nicht gut genug, vor allem, wenn sich die Zuckerbergsche Definition von “gut” eventuell gar nicht mit deinem Verständnis davon deckt. Und die Kritik kommt langsam voran. Charlie Warzel hat heute einen Jahresrückblicksartikel veröffentlicht, der 2016 als das erste Jahr sieht, in dem Menschen so richtig bewusst wurde, dass es sich bei all den digitalen Plattformen um Infrastrukturen handelt, die unser Leben beeinflussen und nicht nur um irgendwas Nicht-Reales im Netz, das sich jederzeit ausschalten ließe, und dass es auch das erste Jahr sei, indem große Plattformen wie Facebook, Uber, Twitter oder AirBnB mal soweit zur Verantwortung gezogen wurden, dass sie es nicht mehr einfach so an sich abprallen ließen: “Until recently, Facebook’s unofficial engineering motto was “Move fast and break things” — a reference to tech’s once-guiding ethos of being more nimble than the establishment. “Move fast and break things” works great with code and software, but 2016’s enduring lesson for tech has proven that when it comes to the internet’s most powerful, ubiquitous platforms, this kind of thinking isn’t just logically fraught, it’s dangerous — particularly when real human beings and the public interest are along for the ride.”

In diesem Sinne, werte Leser*innen, auf ein kritisches und überhaupt ganz großartiges neues Jahr!

*klopft sich auf die Schulter, weil sie doch noch ein Blogposting in 2016 geschafft hat und macht sich auf ins Raclette-/Fondu-/Sekt-Getümmel* ????

Es gab nie einen Cyberspace – mein SPIEGEL Interview zu digitaler Kommunikation, Information und Vernetzung

Ich wurde vor kurzem von Susanne Weingarten für DER SPIEGEL Wissen zu allem möglichem rund um digitalisierte Kommunikation, Information und Vernetzung interviewt. Danke auch an Florian Generotzky, der mir für eine Fotosession im K4 vorbeigeschickt wurde. Macht meinereiner ja auch nicht alle Tage. 🙂

Hier blogge ich euch die ungekürzten Antworten.

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Eve Massacre, wie lange bloggen sie schon? Mit welchen Erwartungen haben Sie damals angefangen? Und haben sich diese erfüllt?

Ich habe Mitte der Nuller zu bloggen begonnen. Mein Blog war für mich sowas wie meine Schnittstelle im Netz: Onlinetagebuch, lautes Denken, meine Musik, Links zu anderen Blogs, die mir wichtig schienen – Passion, Information, Diskussion, Community Media. Mit losen Gedankenenden, die jemand anders aufnehmen kann. Letztlich eine logische Fortführung von dem, was ich offline stets an Fanzinekultur geschätzt hatte. Mir ging es dabei nie um möglichst große Reichweite und finanzielles Interesse, sondern darum, den öffentlichen Diskurs um eine Stimme vielfältiger zu machen. Meine Erwartungen in Sachen Vernetzung hat meine Art zu bloggen eigentlich immer gut erfüllt. Die Welle der Kommerzialisierung von Bloggen, habe ich stets als befremdlich empfunden, da es da meist mehr um Optimierung als um Inhalte ging.

Welche Bedeutung hat das Bloggen heute für Sie?

Leider ist viel von dem, was ich an Blogs schätzte, vor allem die dezentrale gegenseitige Vernetzung und Diskussion inzwischen an Facebook gewichen, aber das Bloggen ist nach wie vor für mich eine wichtige Art, meine Gedanken zu einem Thema oder einem Zeitpunkt oder zu einer Geschichte zu sammeln, zu fokussieren und sie so mit anderen zu teilen.

Wie hat sich Ihr Leben durch Ihre Präsenz im Netz verändert?

Meine Präsenz im Netz hat für mich schon immer eine grundlegende Erweiterung meiner Möglichkeiten, meines Horizonts und meiner ganzen Identität bedeutet. Die Möglichkeit, sich über geographische Grenzen hinweg mit Menschen, die ähnliche Interessen haben, lose zu vernetzen, seinen Blick auf die Welt in Form von Fotos oder getippten Gedanken mit anderen schnell teilen zu können, und auch der granulare Blick auf die Gesellschaft, also dass eine unglaubliche Vielfalt an Stimmen hörbar geworden ist – das hat eine ganz neue Art zu Denken und der Identitätsstiftung mit sich gebracht. Das geographische Umfeld verliert an prägender Bedeutung, du bist weniger in deine Umgebung geworfen.

Viele Menschen unterscheiden zwischen ihrem „echten“, sprich analogen Leben einerseits und ihren Aktivitäten online, etwa Facebook, auf der anderen Seite. Halten Sie das für sinnvoll und richtig?

Im Gegenteil, ich halte das für ein grundlegend falsches Verständnis, aus dem viele Probleme entstanden sind. Dadurch dass jahrzehntelang vom Cyberspace geredet wurde, hat sich in vielen Köpfen ein Bild gefestigt, dass es ein virtueller Ort sei, an dem du dich der eigentlichen Realität entziehst. Von dieser Wildwestfantasie profitieren heute noch die meisten großen Digitalplattformen, seien es Facebook und Twitter, oder AirBnB und Uber: als ob dort ein neues “Gebiet” in Beschlag genommen würde, in dem sich erst mal der Gesetzgebung und Arbeitsrecht der Offlinewelt entzogen werden kann. Dass das so gut funktioniert schiebe ich zu einem großen Teil auf dieses falsche Denken in analoge vs virtuelle Welt. Online und offline sind zutiefst ineinander verwoben, und das zieht sich bis in unser Denken. Die Möglichkeiten der digitalen Revolution sind auch in unserem Kopf, wenn wir offline sind. Das ist nicht mehr zu trennen.

Social-Media-Plattformen wie Facebook und Twitter wurden anfangs bejubelt als Foren, in denen alle gleichermaßen Gehör finden können. Wo sehen Sie die größten gesellschaftlichen Chancen und Möglichkeiten von sozialen Medien? Wo die größten Risiken?

Die positiven und negativen Möglichkeiten liegen oft in denselben verstärkenden Mechanismen: Facebook bietet inzwischen großartige Möglichkeiten, sich in privaten Groups zu organisieren. Das kann für schnelle unbürokratische Flüchtlingshilfe genauso nützlich sein wie für den Hassmob der vorm Flüchtlingsheim steht. Facebook bietet Medien die Möglichkeit, ihren Journalismus gezielter an die Menschen zu bringen, gräbt ihm aber gleichzeitig die Existenzgrundlage (z.B. direkte Kundenbindung und Werbefinanzierung) ab, ohne jegliche redaktionelle Verantwortung zu übernehmen. Twitter-Hashtags ermöglichen die Sichtbarmachung eines Randgruppenproblems, aber sie vereinfachen es auch Rassist*innen und Sexist*innen ihre Opfer zu finden.

Ich sehe nach wie vor eine wichtige Rolle von sozialen Plattformen in ihrer verstärkenden Funktion, allerdings nicht unkritisch, da es keine neutralen Plattformen sind. Die gefilterte Timeline, die eigenen Hausregeln (z.B. Realnamenpflicht auf Facebook), schlechte Umsetzung von Communitystandards, die Gamifizierung von Sozialem – das alles halte ich für durchaus problematisch, wenn eine Plattform wie Facebook eine so zentrale monopolistische Rolle spielt. Wenn früher ein Messageboard seine eigenen Regeln gemacht hat, hatte ich kein Problem mit der Haltung “wenn’s dir nicht passt, dann geh halt”. Facebook ist inzwischen gesellschaftlich an einem Punkt, dass es viele sich beruflich und sozial und vom Informationszugang her nicht mehr so einfach erlauben können, dort nicht präsent zu sein. Dazu kommt wie bereits erwähnt, dass uns digitale Plattformen auch prägen, wenn wir sie nicht benutzen. Zum Beispiel, dass manche ihre Erfahrungen schon ganz automatisch danach scannen, ob etwas dabei ist, was sich zu posten lohnt. Nathan Jurgenson hat das mit dem Bild vom “camera eye” erklärt: Eine Fotografin sieht auch, wenn sie gerade keine Kamera dabei hat, ihre Umgebung in möglichen Bildausschnitten und hat ein geschärftes Auge für Lichteinfall. Ähnlich prägt uns die Nutzung von anderen Technologien, und nichts anderes ist so eine Social Media Plattform ja.

Wenn Facebook nur in Form eines sozialen Netzwerks so eine zentrale Rolle spielen würde, hätte ich weniger Bauchgrummeln dabei, aber wenn eine so intransparent fungierende Plattform auch noch der zentrale Punkt ist, über den viele Menschen Zugang zu Journalismus und zu Informationen von staatlichen Organisationen usw. bekommen, dann finde ich es gefährlich. Facebook strukturiert was Menschen zu sehen bekommen, indem es die Timeline filtert – darin liegt eine Macht, die ich in so intransparenter Form kritisch sehe. Facebook hält dabei ein Image als neutrale humanistische Plattform hoch, die sich durch ein Totalversagen in der Praxis der Durchsetzung von Community Standards ad absurdum führt. Wer Geld hat, kann dafür zahlen, dass seine Nachrichten in der Timeline anderer zu sehen sind. ich hatte da schon alles mögliche von Werbung für ein Neonazi-T-Shirt bis zur Todesdrohung an Frauen, die keine Schleier tragen. Kritische Seiten werden regelmäßig offline genommen, weil die Verantwortlichen bei Facebook nicht unterscheiden, ob eine Seite kritisch über Rassismus und Antisemitismus berichtet oder Propaganda dafür macht. Die ganze Struktur ist auf Belohnung aufgebaut, schürt damit eine bestimmte Art von Postings und beeinflusst so das Kommunikationsverhalten.

Hier sind einfach so viele Beeinflussungen und Filterungen der Weltwahrnehmung gegeben, die nicht einfach so in der Hand eines Unternehmens liegen sollten. Wenn es jetzt 20, 30 verschiedene Netzwerke wären, die Menschen nutzen würden, fände ich das weniger besorgniserregend.

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Durch das Internet fallen zunehmend die klassischen „Gatekeepers“ weg, also Institutionen wie die Presse, die traditionell den Zugang zu Informationen und Meinungen reguliert haben. Halten Sie dies für einen Zugewinn an Basisdemokratie? Oder für eine Gefahr, wenn man sich etwa davon abhängig macht, welche Informationen Facebook mit seinen Algorithmen bevorzugt oder unterdrückt?

Das ist für mich kein Entweder/Oder. Ich halte das Wegfallen klassischer Gatekeepers für eine gute Sache, gerade weil wir keine sehr diverse Zusammensetzung unter den dort Journalismus Betreibenden haben, noch nicht mal geographisch gesehen. Ich bin davon überzeugt, dass ohne Blogs und Social Media in den klassischen großen Medien heute noch nicht mal das – immer noch magere – Level an Diversity zu finden wäre, wenn nicht eine Vielfalt von Randgruppen-Stimmen im Netz es geschafft hätte, sich Gehör zu verschaffen. Diese Pluralität der Stimmen, die mit Blogs in der öffentlichen Wahrnehmung gewachsen ist, halte ich für sehr wichtig. Dass sie über soziale Plattformen noch verstärkt wurde, sehe ich auch erst mal positiv, auch wenn sie viele verunsichert, die ihre engere sichere konservative Weltsicht erschüttert sehen. Dass Facebook – als *die* soziale Plattform hierzulande strukturell gleichzeitig keine konsensformende Diskussionskultur begünstigt, sehe ich wiederum kritisch. Es wird gern verkannt, dass wir in Form von Facebook einen größeren Gatekeeper denn je haben – es ist keine neutrale Plattform, sondern hat ganz eigene Regeln unter denen manches verstärkt, anderes unsichtbar gemacht wird.

Und das halte ich für ein Problem: Wie bei jedem Gatekeeper wird einfach vieles unsichtbar gemacht. Dass Inhalte von neuen Gatekeepers, nämlich Google als Suchmaschine und Facebook als Social Media Plattform gefiltert werden aber sie sich gleichzeitig als neutral darstellen, ist ein Problem. Der höhere Platz auf der Wahrscheinlichkeitsliste, dass du Usern gezeigt wirst, kann sich erkauft und ergamet werden. Mit ergamet meine ich: Viral Content, SEO-Optimierung, mehr Fokus auf Form als auf Inhalt und Gehalt. Die Art von emotionalisierter Zuspitzung, die inzwischen viel im Journalismus verwendet wird, um ihre Artikel viral erfolgreich zu machen, landet zwischen den sozialen privaten Nachrichten und prägt damit auch die Emotionalisierung der privateren Postings, prägt ein Kommunikationsverhalten. Dass dementsprechend Kommentare oft genauso polemisch ausfallen wie die Anreiz-Überschriften hat miteinander zu tun. Mein Problem ist also nicht, dass alte Gatekeeper wegfallen, sondern dass sich die neuen Gatekeeper keiner editiorialen Verwantwortlichkeit stellen geschweige denn transparent vorgehen. Behauptete Neutralität ist immer gefährlich.

In den Anfängen des Internets gab es die Hoffnung auf einen „freien“ virtuellen Raum ohne Hierarchien, Diskriminierung und Hass. Stattdessen berichten heute viele Frauen, die twittern, bloggen oder in den digitalen Medien arbeiten, von drastischer Frauenfeindlichkeit, Belästigungen, Drohungen und Hacker-Attacken. Wie erleben Sie die Situation?

Das Internet war nie ein virtueller Raum. Es ist eine Technologie, in die alle Vorurteile und Weltbilder derjenigen, die sie bauen, miteinfließen. Da so gut wie alle Plattformen im Internet von der dominanten Gruppe unserer Gesellschaft geschaffen wurden, haben diejenigen, die nicht dazu gehören, unter dem zu leiden, was in der Struktur dieser Plattformen nicht berücksichtigt wurde. Dazu gehören zum Beispiel gute Möglichkeiten, sich gegen Hasskommentare zu wehren. Facebook könnte es ja einfach ermöglichen, dass die Kommentarfunktion abgeschaltet werden kann.

Dass die Kommunikation früher weniger hasserfüllt war, halte ich für ein Gerücht, nur sind heute wesentlich mehr Menschen online und die Plattformen sind wesentlich zentralisierter. Wenn ich früher ein Messageboard besuchte und sah, das dort ein frauenfeindlicher Spruch nach dem anderen gepostet wird, dann habe ich es einfach nicht genutzt. Facebook oder Twitter dagegen haben für viele Betroffene eine zu zentrale soziale, informationelle und berufliche Rolle, als dass sie es sich einfach so erlauben könnten, es nicht mehr zu benutzen.

Darüberhinaus sind es wie bereits erwähnt oft diesselben strukturellen Möglichkeiten, die eine große Reichweite ermöglichen, die Menschen auch leichter zum Opfer werden lassen können. Und es sind ja auch oft die prominenteren User*innen am meisten betroffen, und Reichweite heißt, so wie die Plattformen gebaut sind: Sie können genauso eine Flut von Hasskommentaren abbekommen wie sie eine Flut von Rückhalt und positiven Kommentaren bekommen. Wenn möglichst große Reichweite zum Businessmodell gehört, werde ich keine gute Regulierung von Hasskommentaren bekommen. Weder Facebook oder Twitter noch die Kommentarsektionen von Newsmedien wollen in die Moderation oder anderweitige Regulierung von Trollkommentaren viel investieren und konsequent agieren, da sie ja von der Masse der Klicks profitieren. Sie könnten ja auch Kommentare nur freischalten, wenn sie inhaltlich etwas beitragen. Meines Erachtens sollten Kommentarbereiche nur geschalten werden, wenn sie auch mit editorialem Verantwortungsbewusstsein moderiert werden und tatsächlich Interesse an einer Diskussion mit dem Publikum da ist.

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Verlockt die Anonymität des Internets zu einer Enthemmung in Sachen Frauenhass oder auch Rassismus, wie sie in der analogen Welt nicht gewagt und auch sozial nicht geduldet würde?

Auf keinen Fall. Es gibt sogar Studien, die belegen, dass Anonymität nichts damit zu tun hat, sondern dass gerade die, die besonders hinter ihrer Haltung stehen, extra unter Realnamen posten, um ihrer Meinung Gewicht zu verleihen. Umgekehrt ermöglicht die Verwendung von Fake-Namen es auch Menschen, die sonst Angst haben müssten, sich öffentlich zu äußern, weil sie sexistische, homo/transphobe oder rassistische Übergriffe fürchten müssen. Deswegen gibt es ja auch soviel Kritik an der Realnamen-Politik von Facebook. Letztlich stärkt Realnamenpolitik nur die, die in einer Gesellschaft eh schon die stärksten Positionen einnehmen – mich erinnert das immer etwas an die “wer nichts zu verbergen hat, braucht auch Überwachung nicht zu fürchten”-Haltung. Jeder Mensch hat etwas zu befürchten, und je weiter ich dem Mainstream entfernt bin, “anders” bin, desto angreifbarer bin ich. Nicht umsonst sind es Netzwerke wie Twitter und Tumblr, die keine Realnamenpflicht haben, auf denen Randgruppen sich lange Zeit am stärksten vernetzt haben, und auf denen sich zum Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit vernetzt wird.

Ich sehe verschiedene Wurzeln für das Problem des enthemmten Hasses im Netz.

Eine tiefsitzende Wurzel ist die Erziehung zum digitalen Dualismus, wie es Nathan Jurgenson genannt hat, also: zu einem Denken, das zwischen vermeintlich realem Leben und virtuellem Onlineleben trennt. Dadurch ist über Jahrzehnte hinweg die Idee genährt worden, dass alles was online gepostet wird nicht “real” sei. Das rächt sich nun bitterlich. Es gibt schlicht und einfach auch hierzulande weitverbreiteten Alltagsrassismus, -homo&transphobie und -misogynie. Die Hasskommentare im Netz kommen uns geballter vor, weil sie dort nachlesbar, sammelbar und damit sichtbarer sind, während verbale Hasskommentare im Alltag in tausende kleiner Einzelerfahrungen fragmentiert sind, die meist keine gemeinsame Stimme und damit keine breite Öffentlichkeit finden.

Dazu kommt, dass sich im öffentlichen Raum ein gesellschaftlicher Konsens bildet, was laut aussprechbar ist, und wofür ich von meinem Umfeld Sanktionen zu erwarten habe. Und hier besteht einfach eine Kluft, was wir willens sind unwidersprochen zu lassen, wenn es jemand z.B. in der U-Bahn sagt, und dem, wo wir auf Facebook weggucken. Wie gesagt: die Wurzel sehe ich darin, dass so lange das Internet als nicht-real behandelt wurde. Online wird so bis heute von vielen ein falsches Credo von Meinungsfreiheit hochgehalten: falsch, weil dabei die Idee der Meinungsfreiheit instrumentalisiert wird, um gegen Schwächere hetzen zu können, die ja eigentlich durch die Idee der Meinungsfreiheit gestärkt werden sollten.

Was die starke Emotionalisierung in den Kommentaren anbetrifft, tragen Medien durchaus eine Mitschuld. Die hasserfüllten Polemiken diverser weißer älterer rechtskonservativer Herren des Zeitungsfeuilletons bringen viel Leserschaft und Echo, weil darüber diskutiert wird. Emotionalisierende Schlagzeilen und Bildauswahl werden genutzt, um Artikel auf Social Media möglichst weitverbreitet zu bekommen. Damit lassen sich Medien auf die Schwachstellen, mit denen eine Plattform wie Facebook gebaut ist, ein, schüren damit aber auch einen Umgangston, über den sie sich dann selbst ärgern, wenn sie ihn aus den Kommentaren zurück um die Ohren bekommen. Ebenso ist eine Plattform wie Facebook mitschuld, wenn sie denen Gehör verschafft, die am lautesten und emotionalisierendsten schreien.

Haben Sie schon einmal die Behörden eingeschaltet, weil Sie attackiert wurden? Wenn ja, was war Ihre Erfahrung?

Nein, ich selbst nicht.

Frauen im Netz wird oft geraten, die sie beleidigenden oder bedrohenden Trolle nicht zu „füttern“, sondern zu ignorieren – halten Sie das für die richtige Strategie?

Ja, schon allein, weil du niemandem die Zeit und Mühe schuldest. Ignorieren, blocken, keine Zeit schenken. Das ist die Taktik, mit der ich am besten fahre – die mir auch zu einem dickeren Fell verholfen hat. Musste ich aber auch erst lernen. Mit klassischen Trollen/Hatern lohnt keine Diskussion. Das heißt wohlgemerkt nicht, sich gar nicht auf Diskussionen mit Andersdenkenden einzulassen. Aber mit der Zeit entwickelst du ein Feingefühl dafür, wo die Diskussion lohnt, und wo nur die immergleichen Strategien angewandt werden, um dich fertigzumachen.

Letztes Jahr gab es in den USA den „Gamergate“-Skandal, nachdem dem eine feministische Kritikerin der Videospiel-Industrie mit Morddrohungen überzogen wurde. Hat diese Diskussion über die Frauenfeindlichkeit der Videospiel-Szene etwas bewirkt?

Sie hat bewirkt, dass vor allem die strategische Frauenfeindlichkeit, die zum Teil praktiziert wird, von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wird, und sich dadurch manche weniger allein mit ihrem Erleben fühlen müssen, und natürlich auch Strategien dagegen weiter verbreitet wurden.

 

Sie haben anlässlich des Erfolgs von „Pokémon Go“, einem virtuellen Spiel, das draußen auf Straßen und Plätzen gespielt wird, darauf hingewiesen, dass der öffentliche Raum nicht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung steht – können Sie das erklären?

Pokémon Go ist nicht mehr oder weniger virtuell als andere Spiele. Es macht nur spürbarer, wie Digitales und Nicht-Digitales ineinandergreifen, dass das Digitale nur eine Erweiterung ist, keine andere Sphäre. Dadurch dass es durch sein Geocaching-Element Menschen aus dem Wohnzimmer hinaus in den öffentlichen Raum führt, zeigt es, wie wenig dieser ein neutrales “Spielfeld” ist. Viele Frauen werden sich nachts alleine nicht in jede dunkle Gasse einem Pokémon nachspüren trauen. Ein junger Mann mit dunkler Hautfarbe wird oft schneller als ein möglicher Einbrecher verdächtigt, wenn er vor einem Haus herumlungert, weil er da um ein Pokémon Gym kämpft. So führt uns Pokémon ganz nebenbei vor Augen, wer sich am freiesten wo in unseren öffentlichen Räumen bewegen kann.

Das Silicon Valley wird zunehmend dafür kritisiert, dass die Unternehmen vorzugsweise junge weiße Männer beschäftigen – und viel zu wenige Frauen. Damit setzt die Tech-Industrie aber nur eine lange Tradition fort: In lukrativen, technisch-mathematischen Geschäftsfeldern waren schon immer die Männer vorneweg. Warum drängen Frauen nicht viel stärker in diese Zukunftsbereiche?

Weil diese Bereiche genau aus diesen Gründen oft nicht sehr einladend sind, und Frauen dank strukturellen Sexismen oft doppelt so hart kämpfen müssen, um sich dort durchzusetzen. Dazu kommt wie in jedem männlich-dominierten Bereich: Je weniger Vorbilder es gibt, desto weniger Frauen kommen überhaupt drauf diesen Weg einzuschlagen. Es sind immer wieder diesselben Gründe.

In den USA gibt es Bestrebungen von Vereinen und Stiftungen, Mädchen ans Programmieren heranzuführen. Sehen Sie ähnliche Entwicklungen auch für Deutschland? Würden Sie sich solche Programme wünschen?

Auf jeden Fall würde ich mir solche Programme auch hier wünschen, inwieweit es sie bereits gibt, dazu kenne ich mich zu wenig in der Programmierszene aus.

Was ist für Sie persönlich der größte Fortschritt, den die Digitalisierung unserer Welt bewirkt hat?

Die Erweiterung unserer Kommunikationsmöglichkeiten auf so viele Ebenen und die Dezentralisierung unseres Wissens. Aber tatsächlich vor allem, wieviel mehr Menschen dank digitaler Möglichkeiten voneinander wissen und sich austauschen, dieses großartige Hin und Her zwischen eigener Identitätssuche und einer unendlichen Neugier von Menschen aufeinander, verstreut über dutzende komplexe Varianten von Social Media Plattform bis zu Messenger App, von Periscope bis Snapchat.

 

That’s why the lady is a fan – Frauen, Fankultur und dieses Internet

Ich habe im Rahmen der Ausstellung PASSION im Kunsthaus Nürnberg einen Vortrag zu weiblichen und zu digitalen Aspekten von Fankultur verfasst, den ich zur Feier des Internationalen Frauenkampftages in Schriftform zur Verfügung stelle. Wenn ihr ihn lieber hören würdet als lesen – bitte Rückmeldung, dann stelle ich das gerne auch als MP3 / Podcast online. Viel Vergnügen.

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That’s why the lady is a fan

Ich habe mir ein paar Punkte zu weiblicher Fankultur herausgepickt, an denen ich versuche, zu verdeutlichen, dass Fankultur schon immer mehr war als nur Schwärmerei für einen Star, sondern auch etwas mit Ausbruch aus Repression und mit Communities als verstärkende Kollektive zu tun hat. Dazu werde ich über Teengirl Fan Communities von Bobby Soxers 1944 bis Directioners heute eingehen. Dann wird’s drum gehen, warum Fankultur im Pop schon immer eine weibliche Domäne ist bzw warum eigentlich Frauen immer vor der Bühne und nicht auf ihr zu finden waren und oft immer noch sind. Riot Grrl habe ich mir als eine historische Landmarke herausgepickt, die zum einen weibliche Solidarität verstärkt hat, die ein wichtiger Bestandteil des Teengirl Fantums ist, und die gleichzeitig aus einer Idee des DIY Punk heraus die Distanz zwischen Fan und Künstler*in aufzuheben suchte. Dann wird es um den Einfluss der Digitalisierung und Internetkultur auf Fantum gehen, zu der dann eine auch auf Mainstreamebene verringerte Distanz zwischen Fan und Künstler*in kam, aber gleichzeitig auch mehr Konkurrenz und eine Hyperkommerzialisierung. Das wiederum führt dazu, dass Stars ihre Fans durch eine Reverse Fan Culture bei der Stange halten müssen. Dank Internet gibt es mehr denn je Formen, in denen Fankultur ausgelebt wird, und sich darüber ausgetauscht wird. Als eine interessante Form werd ich kurz auf Fanfic eingehen. Und dann auch noch als spezifisches Beispiel auf ein Musikvideo, das für mich ganz speziell für das sich verändernde Verhältnis von Star und Fan, für internetspezifisches Marketing und Musik stehen kann. Und abschließend werd ich kurz darauf eingehen, ob es nicht ein positiver Ausblick sein könnte, derivate Kunst nicht als rein nostalgisch anzusehen, als “Retromania”, wie es Reynolds nannte, sondern über das Verstehen dieser Kunst als Fankultur, sie als zukunftsverheißenderen Entwurf zu sehen: als “configurable culture”, wie es Aram Sinnreich nannte.

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Frank Sinatra als erster Popstar mit großem Teen-Fangirl-Following: den Bobby Soxers

Der Titel, ‘That’s why the lady is a fan’, lehnt sich nicht umsonst an den Titel eines Songs an, der zwar zuerst von Mitzi Green gesungen wurde, von dem aber zahllose Versionen existieren, von Ella Fitzgerald bis Lady Gaga. Ich habe ihn in einer Fassung von Frank Sinatra kennengelernt: “That’s why the lady is a tramp”, ein Song über eine Frau, die sich nicht der New Yorker High Society Etikette unterwerfen will. Und Frank Sinatra wird gerne als der erste Popstar mit einem richtig riesigem Fankreis gesehen, deswegen erschien mir das als Titel ganz passend.

Dorian Linskey schreibt, dass er in Sachen Fanphänomen als Vorgänger Sinatras eigentlich nur die Lisztomania sieht, die – von Heinrich Heine so benannt – 1842 aufkam: eine Art Masseneuphorie bei Konzerten von Franz Liszt. In einem Radiobeitrag von NPR wird der Pianist Stephen Hough zu Liszt zitiert “Wir hören davon, dass Frauen ihre Kleidung auf die Bühne geworfen haben und seine Zigarrenstummel genommen und sich in ihren Ausschnitt gesteckt haben.” Sie sollen sich auf ihn gestürzt und um Fetzen seiner Kleidung, gerissene Pianosaiten und einer Locke seines schulterlangen Haares gekämpft haben.

100 Jahre später erst kam dann bei Frank Sinatra eine ähnliche Masseneuphorie unter Fans auf. Einschneidend ist der 12. Oktober 1944 gewesen, an dem es zu den Columbus Day Riots kam: Eine Masse junger Fans – vor allem weibliche – fluteten den Times Square, weil an diesem Tag Frank Sinatra seine Residenz im New Yorker Paramount Theatre begann. Genauso wie wir es von der Beatlesmania oder von heutigen Boygroup Fans kennen, wurde lange vor Öffnung schon auf der Straße gewartet. Fans wollten alle sechs Shows sehen, die Sinatra an diesem Tag spielte, und so verließen nach seinem Auftritt nur 250 von 3000 ihre Sitze, während auf der Straße 30.000 darauf warteten reinzukommen. Die Polizei war überfordert von den Massen an Teenagern, Chaos überall. Jon Savage stellte fest, dass passenderweise in genau diesem Monat desselben Jahres auch das erste Mal der Teenager-Markt erschlossen wurde, genauer gesagt: Das Teen-Magazin Seventeen wurde zur selben Zeit veröffentlicht wie die großen Ausschreitungen der Sinatra-Fans stattfanden. Noch mal 60 Jahre später und Popstars wie Miley Cyrus zierten das Cover von Seventeen.

Frank Sinatras Fans hatten auch schon einen eigenen Namen: Die Bobby Soxers, nach den Ringelsöckchen benannt, die viele der jungen Frauen damals trugen. Heute gibt es für die Fangemeinden der ganz großen Stars den Begriff der Fan Army, der schon etwas ernstzunehmender bzw fast bedrohlich klingt. Auch diese Fan Armys haben je nach Star ihre eigenen Namen:

One Direction – Directioners
Taylor Swift – Swifties
Beyoncé – Beyhive
Justin Bieber – Beliebers
Miley Cyrus – Smilers
Lady Gaga – Little Monsters
Bruno Mars – Hooligans

Weibliche Teenager als Fans werden schnell mit Worten wie Hysterie und Manie abgestempelt: Massen kreischender Teenies, die naiv auf die Marketingfalle Pop hereinfallen und hoffen, dass ihr Star sich auch in sie verknallt, sich für immer in Sehnsucht nach ihm verzehrend, wie es auch Scott Matthew in seinem Song ‘Market me to children’ düster-skeptisch vertont hat:

“It’s a chilling claim to fame
We steal their baby brains
big minds work out strategy
that never fail to train

oh the horror”

Fantum als selbstermächtigender sozialer Raum

Ich habe bewusst von Masseneuphorie und nicht dem negativen Begriff Massenhysterie gesprochen, der Frauen zum passiven Opfer macht, denn – auch da möchte ich Jon Savage aufgreifen – es handelt sich um einen Moment, der von der kollektiven Macht junger Frauen zeugt, die schon immer einen zentralen Punkt in der Popmusik einnahm. Claudia Calhoun schreibt über die kreischenden jungen weiblichen Fans: “Sie machten ein Spektakel aus sich selbst, sie machten einen Star aus Frank Sinatra, und sie erschufen einen sozialen Raum, in den Generationen von weiblichen Fans weiterschreien und in Ohnmacht fallen würden.” Sie inszenieren ihr Auftreten ganz bewusst, es ist ein Spiel, ein Ritual, sie sind sich im Klaren darüber wie sie wirken, egal ob Justin Bieber Fans auf Twitter oder Frank Sinatra Fans, die gemeinsam hinter verschlossenen Türen zu Schallplattenmusik übten, wie sie sich auf Konzerten in Verzückungspose werfen würden. Es ist immer eine Mischung aus Leidenschaft und aus Selbstinszenierung gewesen. Das Niederschreien der Band als Ausdruck der eigenen Macht im Kollektiv.

Abwertung weiblicher und Teen Fankultur und Expertise

Demgegenüber: Das Urteil der vermeintlich echten Musikkenner: Wenn sich für eine Band eine große Anzahl von Mädchen interessiert, dann kann ihre Musik nichts taugen. ‘Mädchenmusik’ gab es vor Jahren schon als abwertenden Begriff dafür. Dabei kennen sich die jungen Frauen unglaublich gut aus mit ihren Stars und deren Musik, da wird genauso intensiv diskutiert wie es männliche erwachsene Fans tun, die sich aber als die einzigen ernstzunehmenden Kritiker sehen. In Blogs und sozialen Netzwerken wie tumblr tauschen diese Fan Communities sich detailliert aus, zerlegen jeden Song und jeden Tweet, feiern ihre Stars genauso wie sie sich gegenseitig feiern. Das Communitygefühl jenseits von Eltern und trautem Heim, das über das Erarbeiten des eigenen Geschmacks, das Diskutieren über den gemeinsamen Geschmack und das Teilen von Gedanken dazu entsteht, ist ein wichtiger Teil des Erwachsenwerdens für viele – und bleibt auch später im Leben für viele wichtig zur Weiterentwicklung.

Die Teen-Fans sind sich, anders als es das erwähnte Scott Matthew Zitat vermuten lässt, völlig im Klaren darüber, wie konstruiert der Popstar ist, wie Kampagnen zur Werbung für neue Alben oder Songs lanciert werden, das Skandale bewusst gestreut werden, um Aufmerksamkeit zu generieren. Die Musikjournalistin Brodie Lancaster hat ein schönes Beispiel dafür, wie kritisch und selbstermächtigend Teenager heute mit ihren Stars umgehen, nämlich eine sogenannte DIY Single von Directioners, also One Direction Fans, 2015.

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Directioners DIY Single

Nachdem sie die von One Direction und ihrem Management veröffentlichten Singles als zu zuckrig empfanden, statt dass die guten Songs Singles wurden, und das Album nicht so durchstartete, wie erhofft, waren einige Fans sich einig, dass der Song ‘No Control’ eine Single sein sollte. Ein Fan postete auf tumblr die Idee, dass alle Directioners sich zusammentun sollten, Artwork und sogar ein Fan-Video machen sollten, und alle am selben Tag den Song auf iTunes kaufen, damit er an diesem Tag in die Verkaufscharts eingehen würde. Als verstärkendes Element, damit es auf Social Media viral gehen würde, verwendeten sie Thunderclap, so etwas wie Kickstarter für virale Kampagnen. Und tatsächlich: Project No Control wurde ein voller Erfolg. Teenie Fans brachten eine der größten Bands überhaupt zur Zeit dazu, das zu tun, was sie wollten. Ein BBC Moderator verglich das sogar mit Punk und DIY Releases, deswegen auch der Begriff DIY Single.

Fangirl vs Musiknerd

Eins macht es jedenfalls klar: Teenagermädchen suchen sich selbst aus, was ihnen gefällt, wissen genau, was sie wollen und wie sie es bewirken können. Sie sind alles andere als nur naive Konsumentinnen. Aber ‘Fangirling’ hält sich als Begriff für beliebige Schwärmerei: durch und durch emotional, als das Gegenteil des männlichen erwachsenen Musiknerds, der angeblich ganz rational erklären kann, warum etwas gut ist oder nicht. Das ist natürlich Quatsch, denn dass die Qualität von Musik ganz objektiv bestimmbar sei, haben diese Kritiker im Verlauf der Popmusikgeschichte selbst immer wieder widerlegt. Ausgrenzungsmechanismen aus dem Popkanon erfuhren und erfahren letztlich so gut wie alle Werke von Künstler*innen, die nicht männlich und weiß sind. Nur um dann Jahre später durch nerdige Nischenkramerei dann doch im Nachhinein als verkannte Musiker*innen noch mal als interessant entdeckt zu werden. Und als ihre Entdecker lassen sich auch dann wieder meist weiße männliche Kritiker feiern. Der Zugang, den junge weibliche Fans zu Musik finden, wird oft ins Lächerliche gezogen oder gar als Blasphemie betrachtet, z.B. wenn Miley Cyrus The Smiths covert in ihrem Projekt für obdachlose Queer-Jugendliche. Oder wenn jemand die Ramones über eine Fernsehserie wie O.C. California kennengelernt hat. Aber, so stellt Claudia Calhoun fest: auch wenn Musik, die junge Frauen anspricht, oft von Erwachsenen und jungen Männern abgetan wird: seit um die Zeit des 2. Weltkriegs herum eine Teen Girl Fan Kultur aufkam, folgte die Unterhaltungsindustrie dieser immer mit großem Interesse, egal ob es war, um sie schlechtzureden, sich drüber lustig zu machen, was Teenies jetzt wieder vermeintlich Schreckliches gefiel, oder um sie als kaufwillige Kundschaft ins Visier zu nehmen.

Fangirling als Protest gegen sexuelle Repression

Umgekehrt, schreibt Calhoun, haben Mädchen Popidole benutzt, um sich selbst auszudrücken, um ihr Begehren, ihre Wünsche in einer Gesellschaft sichtbar zu machen, die sie oft bevormundet. Im Zeitalter der Massenmedien ist die Popmusik zu einem wichtigen sozialen Ort für junge Frauen geworden. In der Starverehrung haben Mädchen eine Form gefunden, in der sie ihre neuentdeckten romantischen Gefühle, und zwischenmenschliche Beziehungen auf sichere Art erforschen können, wie Sandra Song feststellt. Die Kritikerin Barbara Ehrenreich schrieb 1992, dass einerseits Mainstreamkultur zunehmend sexualisiert war, aber von jungen Mädchen trotzdem erwartet wurde, dass sie der Inbegriff von Reinheit sind. Sie schreibt über die Beatlesmania: “Die Kontrolle zu verlieren – zu schreien, in Ohnmacht zu fallen, in Mobs umherzudrängen – das war, in der Form, wenn nicht gar in bewusster Absicht, ein Protestieren gegen sexuelle Repression, den strengen Doppelstandard weiblicher Teenkultur. Es war der erste und dramatischste Aufstand der sexuellen Revolution der Frauen.” Trotzdem war Sexualität nur ein Bruchteil dessen, was Fantum ausmacht: Solidarität und eine Gruppenidentität spielten eine mindestens genauso große Rolle. Etwas, das Fans untereinander verbindet, sonst aber niemand – und schon gar nicht Eltern – versteht.

Fan – die Rolle der Frau in der Musik

Wie kommt es dazu, dass Frauen so oft in der Fanperspektive zu finden sind? Das ist kein reines Teenphänomen, und auch keines aus längst vergangener Zeit, sondern auch heute noch, wenn es darum geht als Musikerin oder DJ aktiv zu werden, sind es meist die Männer, die auf der Bühne und die Frauen die davor stehen. Sind es die Männer, die ‘fachsimpeln’, sind es die Frauen, die ‘schwärmen’. Es hat mit dem erwähnten Nicht-Ernstnehmen einer weiblichen Perspektive auf Pop zu tun, aber auch mit einer anerzogenen weiblichen Art, sich nicht vordrängeln zu wollen. Und natürlich mit allgegenwärtigen Boys Networks, den Kumpelnetzwerken, bei denen Frauen einfach nicht dabei sind / sein können. Frauen gehen nach wie vor seltener alleine Abends aus, stellen sich seltener auch mal alleine an die Bar – schon allein, weil sie da schnell unliebsame Anmachen abbekommen. Wieviel Zeit Frauen mit dem Abwehren von ungewollten Anmachen aufbringen müssen, während Männer sich gemütlichem Plauschen über Musik hingeben können. Bah. Als Sahnehäubchen kommt darauf das Lustigmachen über Frauen, die im Musikkontext unterwegs sind, z.B. das Klischee der Freundin als Jackenhalterin beim Konzert, das Möchtegern-Groupie der Band, usw. Allein schon durch einen gewissen roughen Tonfall werden Grenzen markiert. Sexismus wird oft als Scherz gekennzeichnet: man wisse ja, wie’s gemeint sei, und das egal ob beim Gespräch an der Theke oder auf Facebook: Männer verstärken immer wieder ihre kumpelhafte Verbundenheit, und weil sie die meisten wichtigen Positionen in der Musikszene innehaben, ist es schwer für Frauen, Zugang zu finden und sie selbst zu prägen. Am leichtesten bekommst du Zugang, wenn du dich an den Männertonfall anpasst, als ‘one of the guys’ durchgehst, auch mal über Frauenfeindliches mitlachst.

Diese Netzwerke und Mechanismen sind unsichtbar, schwer zu benennen, schwer konkret zu belegen. Es ist nichts Offizielles, und kaum einer der Männer, der sich in solchen Kumpelnetzwerken befindet, würde sich als jemand sehen, der Frauen ausgrenzen möchte oder das gar aktiv tut. Aber genau wegen dieser Unsichtbarkeit funktionieren die Mechanismen auch so gut. Natürlich sind nicht alle Männer so, genauso wenig wie sich alle Frauen davon abschrecken lassen, bzw gibt es natürlich auch Frauen, die beim Heruntermachen anderer Frauen mitspielen, allein schon um als Kumpel in den Männerbünden akzeptiert zu werden. Das erschwert Solidarität unter Frauen. Wenn sich eine Frau für andere Frauen einsetzen will, und das als Thema auch explizit transparent macht, weil es ihr fairer erscheint, bekommt sie oft zu hören, dass es doch um Musik ginge, und nicht darum, was für ein Geschlecht jemand hätte. Wenn Männer immer wieder Männer begünstigen, ohne das transparent zu machen, wird andererseits stets abgestritten, dass es etwas mit dem Geschlecht zu tun hätte und damit dieser Mechanismus unsichtbar gemacht. Das alles also wären Gründe, warum es für Frauen* schlicht einfacher, sicherer und angenehmer ist, als Fan in der Musikszene unterwegs zu sein. Dazu kommt der Teufelskreis: Fehlende Vorbilder. Wenn es nicht ‘normal’ ist, dass genauso viele Frauen* auf der Bühne oder hinter dem DJ Pult stehen, dann bleibt es auch eine Sonderposition, die immer erst ein Stück weit erkämpft werden muss. Leidenschaft für Musik wirft viele heterosexuelle junge Frauen mangels weiblicher Identifikationsfiguren auch in eine gespaltene Gefühlsposition, wenn sie vor der Bühne stehen: Begehre ich das Musiker-Sein oder den Musiker? Ein Lied von Sleater-Kinney hat das für mich immer ganz wunderbar ausgedrückt: “I wanna be your Joey Ramone”.

“i wanna be your joey ramone
pictures of me on your bedroom door
invite you back after the show
i’m the queen of rock and roll
i just don’t care
are you that scared?
i swear they’re looking right at me
push to the front so i can see
it’s what i thought
it’s rock’n’roll”

 

Weibliche Perspektive im Musikjournalismus

Fan-Sein hat ja immer etwas mit Identifikation zu tun. Das Dilemma der weiblichen Fans, egal ob vor Bands oder vor Filmen und Büchern, die uns fast nur männliche Hauptfiguren geben – will ich wie der Held sein oder bin ich in den Held verknallt? Liebe ich die Idee von mir in seiner Rolle, oder liebe ich ihn? Dazu kommt, dass die Weiblichkeit sogar in der Perspektive des Musikjournalismus oft kleingehalten wurde, vor allem wenn es um Leidenschaft ging. Eli Davies schreibt darüber, wie Frauen aus der britischen Indiegeschichte geradezu herausgeschrieben wurden: “Deine tiefe Liebe und Verehrung für eine Band wird oft als manische Hysterie, oder als Verlangen den Leadsänger zu ficken abgetan.” Über Pulps Different Class schreibt sie: “Ja, Sex war ein großer Teil der Anziehungskraft für mich, aber kein körperliches und reduktives Verlangen nach Jarvis selbst, oder irgendeinem anderen Mann in der Band. Da war ein lusterfüllter Drive, der sich durch diese Songs zog, von dem viel aus den Texten kam, aber auch direkt in der Musik und Ästhetik war, im Schimmern und Summen von Candida Doyles Keyboard, den tiefen wummernden Basslinien, der stacheligen Gitarre.” Diese tiefe Sexualität von Musik fehlt meist in Besprechungen männlicher Journalisten und Fans, selbst bei einem Thema wie der lustvollen Pit-Tanzkultur des Punk und Hardcore. Sie wird immer als asexuell, als nur über Aggression als emotional empfunden dargestellt, als ob da kein lustvolles Erleben dabei wäre, wo doch dieser feiernden engen verschwitzten sich aneinanderreibenden Nähe von oft halbnackten Männerkörpern ja ein erotisches Moment nicht abzusprechen ist.

Das Tabu, Sexismen anzusprechen

Dazu kommt das Tabu, über frauenfeindliche Texte zu reden. Sie gehören einfach dazu, zählen als künstlerische Freiheit, Szenekolorit. Es wird nicht ernstgenommen, ist ein Nebenschauplatz. Eli Davies schreibt dazu: “Versteh mich nicht falsch: Ich weiß, dass wir von unseren Popstars keine politische Reinheit erwarten, aber es sollte doch wert sein, über den Prozess zu reden, durch den wir als weibliche Fans gehen, wenn wir Frauenfeindlichkeit bei den Künstlern sehen, die wir lieben. Es ist nicht gerade ungewöhnlich, auch wenn wir es nicht unbedingt immer gleich erkennen. … Wenn du verstehst, dass Musik in der Mainstreamkultur immer noch fundamental als Männerterritorium gesehen wird, ist es klar, warum nichts davon ordentlich diskutiert wird. Es sollte aber nicht einfach als zufälliges Detail abgetan werden, es sollte wahrgenommen werden. Als Hörerinnen verhandeln wir dieses Zeug die ganze Zeit mit uns, bewusst und unbewusst, und dieser Prozess ist zum Großteil unsichtbar.”

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Riot Grrl als Verstärker weiblicher Solidarität

Kathleen Hannah von Bikini Kill gilt als Aushängefigur einer Bewegung, die eigentlich keine Gallionsfigur haben wollte: Die Riot Grrls. Es war eine Bewegung, die nicht nur mehr Frauen auf die Bühne brachte, sondern war auch für die weibliche Fankultur dieser Szene wichtig, denn in erster Linie bedeutete Riot Grrl eine Selbstbehauptung von weiblicher Solidarität. Fanzinekultur war ein wichtiger Teil, Frauen schrieben selbst über Künstlerinnen, die sie toll fanden, und über ihre Rolle und Perspektive und ihre Probleme als Musik-Fan in einer männerdominierten Szene. Die Situation als Frau in einem Hardcore-Pit, in dem das Recht des körperlich Stärkeren galt. Über Männernetzwerke. Über Sexismus, Belästigung und Vergewaltigung, die einer als weiblicher Fan in einer Szene passierte, die man eigentlich von Musik und Idee her liebte. Es wird von der Riot Grrl Bewegung oft nur die Rolle gesehen, die sie für Frauen auf der Bühne spielte, aber das eigentlich großartige und nachhaltig verändernd wirkende war dass es keine Rolle spielte, ob auf der Bühne oder als Fan davor: Riot Grrl steht für die Möglichkeit eines weiblichen Schulterschlusses und eine Nivellierung des Fan/Star Verhältnisses: Jede* kann Musik machen, jede* kann die Szene als Fan mitprägen, keines von beiden ist wichtiger. Wir sind es gewohnt, uns über den männlichen Blick zu definieren. Das ist gar nicht so leicht loszuwerden. Riot Grrl trug dazu dabei, von unten, aus dem Punkbereich, einen weiblichen Blick in die Popmusik einzuführen. Diese Art engagierter weiblicher Solidarität ist in vielen Musikszenen und Musik Communities immer noch oder immer wieder neu, aber Fan Communities sind eigentlich der Ort, an dem sie auch vor Riot Grrl Zeiten gelebt wurden. Riot Grrl hat dazu noch aus dem Punk die Idee des “jede*r kann Musik machen” genommen, und damit die Aufweichung der Grenze zwischen Fan und Star. Heute ist es gängiger geworden, Musikerinnen* über andere Musikerinnen* schwärmen zu hören. Das ist eine Solidarität, die aus einem Fantum gelernt wird. Es sind nicht mehr nur Frauen, die sich als Einzelkämpferinnen einen Status als Musikerin erkämpfen, nicht mehr nur Frauen, die versuchen, sich den Respekt von männlichen Fans und Kritikern zu erobern, sondern etwas, was eine Art Bechdel-Test für Frauen in der Musikszene bestehen würde: Frauen, die sich mit anderen Frauen über Künstlerinnen unterhalten. Inzwischen gibt es auch halbwegs große Medien dafür: In Deutschland steht dafür sowas wie das Missy Magazin, in den Staaten zum Beispiel das Rookie Magazin.

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Lane Kim aus Gilmore Girls als Fangirl und Nerd

Mir ist zum Thema dieser weiblichen Solidarität und dem gleichzeitigem Fan und Star sein, auch noch eine Serie in den Kopf gekommen, die eine großartige Indie-Punk-Nerd Grrl Figur hat: Lane Kim in Gilmore Girls. Eine Serie rund um Frauenfreundschaften, in der sich eine weibliche Perspektive, ja, eine Teen Fangirl-Perspektive auf alles von Musik über Kaffee oder den ersten Schnee erstreckt. Das gemeinsame Fangirling, das so gerne ins Lächerliche gezogen wird, wird bei den Gilmore Girls lustvoll zelebriert. Und es kommt unglaublich viel gute Musik vor – Yo La Tengo, The Shins, Björk, Angelic Upstarts, Big Star, in einer Folge tauchen Sonic Youth und die Sparks als Straßenmusiker*innen auf. Und für das Fan-Thema ist Lane Kim eine fantastische Figur: ein unglaublicher Musiknerd, gegen die Mutter rebelliernd, weil sie Musik so liebt, sie muss ihre große CD-Sammlung unter den Dielenbrettern ihres Zimmers vor ihrer strengen superreligiösen Mutter verstecken, später fängt sie dann aber sogar in einer Band zu spielen, als Schlagzeugerin. Es wird gezeigt, wie meisterhaft sie ausgetüftelte Wege findet, damit ihre Mutter nichts von ihrem leidenschaftlichen Parallelleben als Musikfan und später auch Musikerin erfährt, bis sie sich zu outen wagt. Die Storyline im späteren Verlauf der Serie wurde dann leider etwas enttäuschend, und von vielen Fans heftig kritisiert: Lane heiratet, kriegt Kinder, hört mit dem Musikmachen auf – entsetzlich! Es gab viele Fans, die sich alternative Storystränge für Lane ausgedacht haben, und sie zum Beispiel als Fanfiction im Netz teilten.

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Veränderung der Fankultur dank Internet und sozialen Plattformen

Damit kommen wir auch schon zu den ganzen neuen Formen von Fankultur, die das Internet und soziale Plattformen mit sich brachten. Noch mal kurz ein Blick zurück: Bei der näheren Betrachtung der Bobby Soxers, der Frank Sinatra Fans, ließ sich feststellen, dass es sich damals schon nicht um ein reines Anhimmeln handelte, sondern dass das weibliche Fantum schon immer auch mit Selbstermächtigung und weiblicher Kollektivität zu tun hatte. Das partizipatorische Element war schon immer da, und sei es nur als rituelles gemeinsames Kreischen auf Beatles-Konzerten, oder Malen von Bildern des Stars. Punk mit seiner DIY Kultur, und explizit ermächtigend für Frauen der Riot Grrl Teil davon, hat den Fan noch mehr emanzipiert, z.B. durch das Schreiben in oder selbst Veröffentlichen von Fanzines, das Organisieren von Ladyfesten, auch Craftkultur hat sich neu verbreitet, und vieles mehr. Eine große Erweiterung und eine große Veränderung im Verhältnis zwischen Fan und Star fand dann mit dem Internet und Social Media Plattformen statt.

Mit dem Internet wurden Fan Communities internationaler, sichtbarer und sie bekamen schneller und direkter Zugang zu Informationen über und von ihren Stars. Social Media Plattformen brachten dann noch mal mindestens zwei Veränderungen, gerade mit der Form des endlosen Streams der Timelines: Erstens stehen News von deinem Star auf Plattformen wie Facebook, Instagram oder Twitter mitten zwischen den Statusupdates von deinen Freund*innen, und es kommt eine Zeitlichkeit dazu: Der Stream begleitet dein Leben in Echtzeit. Zweitens brauchst du kein technisches Vorwissen um selbst etwas zu posten auf tumblr, Facebook oder sonstwo. Dementsprechend ist das Teilen von selbstgemachten Fan-Bildern oder -Videos oder Kommentaren zu der Musik oder den Stars einfach geworden. Und die Fans sind besser denn je untereinander vernetzt. Das reine Schwärmen für den Star als Beziehung von einem Fan direkt auf den Star ist natürlich präsent, aber daneben hat die Rolle der Fan Community rund um das Objekt des Stars an Bedeutung noch zugenommen.

Partizipatorische Fankultur wächst

Ein Fan will heute meist nicht nur konsumieren, sondern will nach dem Konsum eines Werks sein Urteil abgeben, diskutieren, weiterschreiben, selbst aktiv werden, sich selbst inszenieren. Selbst kreativ werden in der Reibung am Star. Fan Communities sind Orte geworden, die von zahllosen Leuten genutzt werden, um zusammenzukommen um über das Werk kommuniziert ihre sozialen Werte und kulturellen Interessen auszudrücken oder zu diskutieren. Die Bereiche vermischen sich dabei, niemand ist nur Fan von einem Star oder einem Film oder Game. Fans selbst werden zu Stars. In der Gamerszene gibt es mit Twitch.tv eine Livestreaming Video Plattform auf der sich 1000e von Game-Fans gegenseitig beim Spielen zuschauen und Kommentare dazuchatten. LP, kurz für Let’s Play, ist der Name dafür, wenn ein Video-Gamer sich beim Spielen und gleichzeitigen Kommentieren filmt. Das reicht von Kids, die einfach Fans sind, bis zu richtigem Geldscheffeln. Der erfolgreichste Youtube-Star, der sowas macht, PewDiePie, ein Schwede, hat 2015 mit genau sowas an die 7 Mio Euro verdient.

Bei Filmen und Musik wird das Werk kaum nach Veröffentlichung oder Leak sofort weiterbearbeitet. Es ist, als würden Werke von vielen nur noch als eine Möglichkeit einer Geschichte oder eines Songs gesehen, und Fans remixen die Musik sofort, oder erzählen die Geschichte eines Films oder Buches weiter oder anders. Da werden Fantasien ausgelebt, alternative Weltentwürfe gesponnen, Ungerechtigkeiten ausgeglichen. Gerade für Minderheiten ist das auch ein wichtiges und spannendes Feld geworden: alternative Handlungsstränge mit People of Colour, Queers, Genderswitching macht Frauen zu Heldinnen, Behinderte werden zu Held*innen. Auf Tumblr zum Beispiel gibt es eine sehr aktive Szene, die genau damit spielt, Bilder zeichnet oder bearbeitet und postet, gif-Serien von Lieblingsstellen in einem Film oder Musikclip erstellt und kommentiert, und so weiter. Oder es entsteht gleich ein neues Fan-Musikgenre, z.B. Wizard Rock: lauter Bands mit Songs, die sich um Figuren und Geschichten aus dem Harry Potter Kosmos drehen. Ich greife mal Fanfiction als einen Bereich heraus, der schon zu LiveJournal Zeiten geblüht hat, aber heute immer noch superlebendig ist.

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Derivate Kultur, partizipatorische Kultur: Fanfic

Fanfic ist eine große kreative Szene. Es handelt sich dabei um das Weiterspinnen oder Verändern von Geschichten, oder das phantasievolle Erfinden von Geschichten um einen Star oder einen fiktiven Charakter aus einem Buch, Film oder Spiel. In Fanfiction findet oft das Ausdruck, was Fans als zu unterrepräsentiert im Mainstreamstorytelling empfinden. Da kann dann eine Geschichte aus dem Alltag eines Star Wars Troopers dabei herauskommen, oder eine darüber, wie die Golden Girls die Menschheit vor Vampiren schützen, oder auch einfach endlose Liebesgeschichten über Boybandmitglieder. Für One Direction z.B. gibt’s dann eben auch Extra-Websites, die sich darauf spezialisiert haben, nur tausende von Fanfics über One Direction Mitglieder zu sammeln.

Sehr häufig ist auch eine Homoerotisierung: Slash oder Slashfiction ist der Begriff dafür. Zum Beispiel gab es auf tumblr gleich nach Serienstart viel zu der Sherlock-Serie mit Cumberbatch, .u.a. wurden erotische Zeichnungen gepostet, die wahlweise aus Sherlock und Watson oder aus Sherlock und Moriarty ein Liebespaar machten. Es gibt Künstler, die das hassen und ihre Kunst als Marke schützen und gegen so etwas ankämpfen, aber Sherlock ist eine Serie, die selbst ein wenig von der Machart von Fanfic in sich trägt. Da war es dann auch nicht ganz so erstaunlich, das die Sherlock Fanfiction sogar in einer Folge der Serie ein Echo fand: in einer Neuadaption der klassischen “Reichenbach Fall”-Geschichte, in der Sherlock von einem Hochhausdach statt einem Wasserfall stürzt. In der Serie gründet sich daraufhin eine Art verschwörungstheoretische Gruppe, die sich alle möglichen alternativen Theorien ausdenkt, wie Sherlock den Sturz überleben hätte können. Allein das schon hat etwas vom “es hätte doch auch so sein können” der Fanfic-Kultur. Aber es taucht dann auch eine Frauenfigur auf, die wirklich eine eindeutige Hommage an Fanfic-Schreiberinnen ist, und in deren Theorie Sherlock und Moriarty zu knutschen anfangen.

“Wenn es etwas gibt, gibt es auch Pornos dazu”, das ist eine alte Regel des Internets und interessanterweise gibt es bei Fanfic überdurchschnittlich viele von heterosexuellen Frauen geschriebene und geliebte Stories mit männlicher Homoerotik, also Slash. Dazu gibt es eine Statistik von AO3, der Archive Of Our Own Website, einer Plattform für Fankunst und Diskussionen, die eine große Umfrage dazu gemacht haben.

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Über 46% macht die männlich homoerotische Fanfic aus, die Top Ten bestanden nur aus männlichen Paaren, und ganz weit vorne war bei dieser Umfrage Sherlock und Watson.
Was genau hier die Faszination für heterosexuelle Frauen ausmacht ist ein Phänomen, das zahllosen Wissenschaftler*innen seit Jahren Kopfzerbrechen bereitet. Ein paar Erklärungsansätze sind zum Beispiel: Das Material. Viele Serien haben nur männliche Hauptfiguren, also kommt es vermehrt zu homoerotischen Alternativerzählungen, weil einfach keine Frauen da sind. Und wenn mal eine Frau dabei ist, ist es oft keine, mit der sich andere Frauen identifizieren würden, sondern sie sind für den männlichen Blick angelegt. Oder eine weitere Theorie: Frauen fühlen sich wohler mit schwuler Erotik, weil sie in heterosexueller an jeder Ecke Sexismus um die Ohren kriegen. Vielleicht drückt diese Dominanz von Frauen hier einfach das aus, was ich bei Musik schon als emotionales Dilemma vieler Mädchen beschrieben habe: Bin ich verliebt in den Star oder will ich der Star sein? Vielleicht identifzieren sich viele von uns Frauen lieber mit Slash, weil schwule Pornografie mehr Gleichgestelltheit zwischen Partnern ausdrückt. Man weiß es nicht. Wahrscheinlich spielt von allem ein bisschen was mit rein.

Fanfic sind nicht immer nur Kurzgeschichten, es gibt zum Beispiel eine vielgepriesene 1000 Seiten lange namens ‘Isolation’, ein sogenanntes “Dramione”, eine Psycho-Liebesgeschichte zwischen Draco Malfoy und Hermione Granger aus dem Harry Potter Universum. Dazu haben dann wiederum andere aus Originalmaterial der Potter-Filme zusammengeschnipselte Fake-Filmtrailer gemacht und auf Youtube gestellt. Auch das ist ein Fan-Genre für sich. Fanfic gibt’s von viel wirklich üblem Trash bis zu gutgeschriebenen, spannenden Geschichten. Oder es gibt auch Fanfic in Kurzform, als Twitter Accounts, hier ein paar Tweets aus einem für Beyoncé Fanfic:

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Natürlich gibt es auch heute nicht nur die partizipatorische Fankultur, es gibt unzählige Schattierungen von Fantum, von treuen nostalgischen Sammler*innen und Archivar*innen bis zum kommerziellen sich Eindecken mit immer den neuesten Fanartikeln. Die kommerzielle Merchszene ist natürlich auch riesig geworden. Ganze weltweite Produktserien für Directioners oder Beliebers oder Star Wars Fans. Oder Whisky von Heavy Metal Bands. Auch der liebevolle absurde Bandmerch hat sich längst von der DIY Punkszene in die For-Profit Musikszene ausgebreitet: Beispiele wären Fan-Merch wie der Shokei Flachmann, die Kommando Sonne-nmilch Geschirrtücher, der The Locust Spiegel, die Hudson Mohawke Butterdose oder limitiertes Sexspielzeug zum Vinyl von Sophie. Was für die einen ein kaum profitables Spiel mit Absurdidät im Rahmen ihrer Musikkultur ist, ist für viele Musiker, die Karriere machen wollen, der Kampf ums Überleben auf dem Aufmerksamkeitsmarkt. Die Aufmerksamkeit von potentiellen Käufer*innen ist das wertvollste und höchstumkämpfteste Gut heutzutage, nicht zuletzt dank Social Media und werbefinanzierten Geschäftsmodellen.

Social Media und der Aufmerksamkeitsmarkt

Für Musiker*innen ist das Internet wie für alle anderen auch gut und schlecht. Mit MP3 Sharing kam ein Rückgang der Verkaufszahlen, aber gleichzeitig mehr und einfacherer Zugang zu einer breiten Öffentlichkeit von potentiellen Fans. Durch Digitaltechnik wurde das Machen und Aufnehmen von Musik billiger und einfacher, und damit für viel mehr Menschen möglich, aber es entstand auch viel mehr Konkurrenz. Mit dem Netz kam weniger Angewiesenheit auf Labels, Vertriebe und Journalisten als Gatekeeper des guten Geschmacks, gleichzeitig aber mehr eigene Promoarbeit oder mehr Angewiesenheit auf Marketinginstanzen, um in der Flut von anderen Künstler*innen überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Musik allein reichte irgendwann nicht mehr. Es brauchte ein Video, Bildmaterial um die Social Media Kanäle zu füllen, die Band im Studio, die Band im Tourbus, die Band beim Schlafen, Essen, und so weiter. Immer wieder neue Spielereien, Wettbewerbe – alles mögliche, was Publikumsaufmerksamkeit erhascht.

Social Media beeinflusst auch, wie Musik gemacht wird, Robin James sprach beim Theorizing The Web Music Panel 2015 in diesem Zusammenhang die alte musikalische Tradition des “call and response” an, die vor allem in afro-amerikanischer Musik zum Einsatz kam. Das heißt, dass Musik mehr denn je gezielt für Social Media Vernetzung mit den Fans gemacht wird. Am besten bezieht man gleich seine Fans mit ein, macht sie zum Teil des Werks. Ein paar Beispiele: Es gibt von Ellie Goulding ein Video aus 1200 Bildern die Fans dafür auf Instagram für sie gepostet hatten. Oder Jets Overhead, ‘What you really want’: ein interaktives Social Video, für das Fans ein Bild von sich hochladen konnte, mit einem Schild, auf dass sie Wünsche geschrieben hatten. Bei jedem Abspielen zeigt das Video eine andere Auswahl aus diesen Bildern.

Die Fanreaktionen auf sozialen Netzwerken gehören zu dem ganzen Musikzirkus mehr denn je dazu: Musikjournalismus besteht heute regelmäßig aus Berichten über die interessantesten, lustigsten, bösesten Fan-Reaktionen zu irgendwas, was Musiker getan oder veröffentlicht haben. Und manchmal passieren dann auch so furchbare virale Dinge wie der Harlem Shake von Bauuer oder Gangnam Style – dass die ganze Welt Musikclips nachspielt. Da ein großer Teil der Präsenz von Künstlern über Social Media funktioniert, wird es wichtiger, eine gut durchdachte Star-Figur für Facebook/Instagram/etc dauerpräsent zu haben. Ein ganzes Image, ein Leben, eine Kunstfigur, am besten in Echtzeit. Die Rolle des Stars hat sich verändert: Immer mehr muss er oder sie um die Gunst des Fans buhlen, ist nicht mehr angehimmelte rare Legende, nein: Das einzigartige Künstlergenie ist tot, Musiker*innen gibt es wie Sand am Meer und sie kämpfen um die Aufmerksamkeit ihrer Fans, weil sie wissen wie schnell sie wieder aus dem Rampenlicht verschwinden. Die Methoden, mit denen gebuhlt wird, sprechen Bände über die Dringlichkeit. Ein Exklusiv-Gratis-MP3 im Austausch für die Emailadresse, über die dann auch noch per Newsletter ins Bewusstsein des Fans gehämmert werden soll, ein Unplugged- oder Beatsmaking-Clip auf Youtube wie eine Art Privatkonzert, Instagram-Fotos aus dem Privatleben, viel besser inszeniert als die von Paparazzis – die damit auch ein Stück weit überflüssig wurden -, oder ein noch privaterer Foto-Schnipsel auf Snapchat. Unvergessliches halbwegs aktuelles Beispiel: die Snapchat Jetski-Panne von DJ Khaled. Nur am Rande erwähnt, zum Amusement, davon hat jemand dann gleich eine linke Parodie-Version gemacht, DJ Khamred:

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Reverse Fan Culture

Es werden immer neue Formen des Inszenierens gefunden, um Fans bei Stange zu halten. Ich würde das als Reverse Fan Culture, als umgekehrte Fankultur bezeichnen. Dazu kommt noch das Tracking: Die Stars lassen ihre Marketingfirmen jeden Click ihrer Fans sammeln und analysieren: auf ihren eigenen Websites, Social Media Postings, exklusiv eingebetteten Soundcloud- oder Youtube-Links in Artikeln auf den Seiten von Musikmagazinen, in Newslettern usw – die Daten ihrer Fans werden genauestens getrackt und analysiert, um zu wissen, für was sie sich am meisten interessieren, und in diese Richtung wird dann weitergearbeitet. Ist das nicht ein wenig wie ein Reverse Stalking? Hatten wir früher das Klischee der den Star stalkenden Fans, stellt sich heute mit der Digitalisierung die Frage: wer buhlt mehr um das Interesse des anderen, wer erschleicht sich mehr Wissen über den anderen, wer begehrt den anderen mehr – Stars ihre Fans oder Fans ihre Stars?

Zeilen aus einem Song von Placebo, “Because I Want You Too” sind mir dazu in den Kopf gekommen:

“Stumble into you, is all I ever do
my memory’s hazy and I’m afraid to be alone
tear us in two, is all it’s gonna do

As the headache fades this house is no longer a home
don’t give up on the dream, don’t give up on the wanting
and everything that’s true
don’t give up on the dream, don’t give up on the wanting

Because I want you too
because I want you

Falling in to you is all I ever do
when I hit the bottle coz I’m afraid to be alone
tear us in two”

Der Song kann einerseits als dreckige Kehrseite einer Beziehung gelesen werden, aber eben auch – gerade weil zur Illustration ein Konzert-Video gewählt wurde – als Song über die Beziehung zwischen Star und Fan: über das Betäuben des emotionalen Hangovers und der Einsamkeit nach dem Auftritt mit Alkohol. Der Konzertraum, der nach der Show “no longer a home” ist. Das Begehren, wieder vor den Fans zu stehen, ihr Begehren spiegelnd.

Die richtig großen Stars und ihre Marketingleute heute wissen um die Vorlieben ihrer Fans, wissen, wie sie ein Paket von Song und Video abliefern, das Material für eine Weiterverarbeitung zu Memes durch ihre Fans abgibt. Drake, zuletzt mit seinem Hotline Bling Video, ist zum Beispiel einer von denen, die das immer wieder hervorragend hinbekommen. Für mich persönlich war einer der größten Coups, der in den letzten Jahren wirklich perfekt Marketing, Aufmerksamkeitsgenerierung mit künstlerischer Vieldeutigkeit, Anknüpfungspunkten für Fans mit einer positiven Message und ‘nebenbei’ auch einem großartigen Song verbunden hat: Beyoncés “Flawless”. Das hab ich mir herausgepickt, um ein bisschen genauer drauf einzugehen.

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Beyoncés “Flawless”: Fangirling, Politics, Marketing

Es gibt auf sozialen Medien eine ganze neue Generation von jungen Frauen, vor allem aus dem US-amerikanischen und britischen Raum, zunehmend aber auch hier, die soziale Plattformen für einen großartig lustvollen intersektionalen Feminismus nutzen und das dort auch über Fankultur, ja: Fangirling ausleben. In Folge des Gamergate-Skandals vor ein paar Jahren, beschimpften Männerrechtler aus der Videogamingszene Frauen, die Sexismus in Videospielen kritisieren, als Social Justice Warriors – ähnlich vielleicht wie hierzulande sozial gesonnenere linke Kreise von Rechten als Gutmenschen beschimpft werden. War ein bisschen ein Fehler, denn “Social Justice Warrior” klingt halt einfach schon cool, gerade für so eine Gamerseele, und das als Schimpfwort gemeinte Wort, wurde einfach ins Positive verkehrt und auch gleich selbst verwendet, Buttons damit gebastelt usw. Der Begriff wird inzwischen weit über die Gamerszene hinaus gerne für diese junge Generation von Menschen verwendet, die sich politisch für Rechte von Marginalisierten einsetzen, und die verstehen, das Internet zum vernetzenden und verstärkenden Austausch zu verwenden. Diese Szene hat auch das hemmungslose Schwärmen für alles von Katzen bis zu Filmen, Pizza oder Musik-Stars wieder für sich entdeckt. Politics und Fankultur gehen hier Hand in Hand.

Genau diese Sorte Feminist*innen hat Beyoncé – oder ihr Medienteam – mitten ins Herz getroffen, und gleich noch drüber hinaus für einen riesigen Schwung Menschen weltweit Feminismus wieder ein Stück salonfähiger gemacht. Es gab zahllose gifs mit Szenen aus dem Video, die Zeilen “I woke up like this – flawless” (”ich bin so aufgewacht, makellos”), wurden zu Hashtags und Memes und T-Shirts, ja unzählige Selfies wurden mit dem Satz gepostet, alle fühlten sich Beyoncé plötzlich schwesterlich verbunden: wir sind alle flawless, makellos schön, egal ob zerzaust und ungeschminkt, oder ob total aufgebrezelt, uffjemiezt. Das Selfie wird zum feministischen Ausdruck, in jeglicher Lebenslage, egal ob gestylt oder ungestylt, ist “provokative Selbstdokumentation”. Ein Begriff, den ich vor kurzem in einem rückblickenden Review zu dem Film ‘Kids‘ als typischen Ausdruck der derzeitigen Jugendkultur gelesen habe, und den ich treffend finde. Im Review heißt es: “What [Kids] anticipates is the rise of a youth culture based on provocative self-documentation. The material transformation of media that was fragmenting ‘mainstream’ movies and journalism would soon make it possible for real kids to capture the look of their own lives, or the lives they want to look like they have, in the same glamorized ‘gritty’ style that runs through Kids.”

Mit “I woke up like this – flawless” hatte der Feminismus endlich mal wieder einen neuen Slogan, der so allgemein war, dass er die breite Masse einen konnte, gleichzeitig aber auch sehr persönlich berührte, denn der Schönheitsdruck auf Frauen trifft jede einzelne sehr privat und persönlich. Das “Bow down, bitches” am Anfang des Songs gemeint als selbstermutigender Blick in den Spiegel, als “Lass dich nicht kleinkriegen, kleinreden, schau, was du alles schon geschafft hast”. Und im Mittelteil des Songs die auch ohne Beyoncé schon im Netz gefeierte Rede “We Should All Be Feminists“der nigerianischen Schrifstellerin Chimamanda Ngozi Adichie – die übrigens inzwischen in Schweden alle 16jährigen Oberschüler als Beitrag zur Erziehung zur Gleichberechtigung als Gratisbüchlein in die Hand gedrückt bekommen. Einen Ausschnitt aus dieser Rede hat Beyoncé als Verbeugung vor Chimamanda in dem Song gesampelt – ein Ausdruck ihres Fanseins in den Song eingebaut. Eingerahmt ist der Song in eine Original-Szene aus der TV-show Star Search, in der eine schwarze Girl Group, Beyoncés Teenager-Band Girls Tyme, in einem Fernsehduell gegen eine weiße Männerband antrat. Am Ende des Songs verliert ihre Band gegen die Männerband. Die schwarzen Mädchen gegen die weißen Männer. Der Song dazwischen als großes “Jetzt erst recht!”, die Geste die auch in der wütenden Zeile “Bow down bitches” anklingt.

Wie Beyoncé das als Video umgesetzt hat, ist dann noch mal ein brillanter Twist, denn dazu greift sie ausgerechnet die Skinhead-Punkszene auf und spielt den Punk-Pit als post-rassistische, geschlechtergleichberechtigte Utopie aus, in der alle hemmungslos abgehen ohne groß auf ihr Aussehen zu achten. Gleichzeitig schwingt über die Figur des Skinheads eine Anspielung auf Rassismus und Cultural Appropriation mit, kulturelle Aneignung: Sie als schwarze R&B Frau eignet sich ein Stück des weißesten Ecks der männlich dominierten Gitarrenmusik an, die Weiße dem schwarzen Blues und Rock&Roll entführt hatten. Und natürlich kommt Fankultur hier auch zum Ausdruck: Der Pit ist der Ort der Fans und sie begibt sich da mitten rein. Hier das Video.

https://vimeo.com/143510834

Noch mal kurz den Bezug zur Fankultur zusammengefasst: Der Punk-Pit als Ort der Fans, in den sich Beyonce hier begibt. Das Sample der Rede Chimamanda Ngozi Adigie als Ausdruck von Fan-Sein. Die wie für Fans geschaffene Slogan- und hashtagtaugliche Textzeile, die sie inhaltlich mit ihren weiblichen Fans eint. Die x ikonischen Bilder im Video, die sich für ihre Fans zum Weiterverbreiten eignen, für die Memekultur des Internets anbieten.

Derivate Fan-Kultur als dominante Kunstform in Zeiten der Digitalisierung

Ich habe Beyoncés Verwendung von Chimamanda Ngozi Adichies Rede als Sample bezeichnet. Samples sind meist kürzere Versatzstücke, aber sie sind mehr als dominant in der Popmusik heute und sie sind letztlich oft nichts anderes als die Ehrerbietung eines Fans vor einem vorhergehenden Musiker oder einer Musikerin. Wir leben in einer Zeit derivater Kunst, alles lehnt sich an vorhergegangene Kunst an, sei es die x-te Punkband die nach Ramones klingt, das alte Soulsample im neuesten Hiphoptrack, Tarantino-Filme, oder ein Soundcloudclip, der aus einem um 600% verlangsamten Justin Bieber Song ein experimentelles Drone-Stück macht. Aber auch die DJs, die liebevoll ihre Sets zusammenstellen, Mixes online stellen, oder Leute, die – genauso wie früher Leute über Mixtapes saßen – heute stundenlang an der perfekten Playlist feilen, die sie dann auf Spotify posten. Sind immer wieder abgewandelte Memes nicht kollektive Kunst? Wer ist Fan, wer ist Künstler*in? Die Grenzen werden immer fließender, und fast jede_r ist beides. Und unser Copyright ist da sowas von veraltet und unpassend, da raucht mir schon beim Gedanken dran der Kopf. Auf der einen Seite haben wir Künstler, die darauf pochen, über Copyright an Geld zum Leben zu kommen. Auf der anderen Seite haben wir eine blühende kreative Netz- und Musikkultur, die genau aus dem Übernehmen von Teilen eines anderen Werkes oder aus dem Neuinterpretieren unzählige Kunstformen geschaffen hat, und diese wäre tot, wenn das Copyright strenggenommen würde. Aber wo setzt du eine als gerecht erscheinende Grenze? Ist die Grenze da, wo jemand Geld mit Schnipseln des Werkes von jemand anderem verdient und sollte alles andere, was non-profit geteilt wird, Fair Use sein? Ist die Grenze da, wo jemand sich die bessere Anwältin leisten kann? Letzteres scheint im Moment in der Praxis oft der Fall zu sein.

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Retromania vs Configurable Culture

In Zeiten, in denen du aus Copyrightgründen keine Fotos vom nächtlich beleuchteten Eiffelturm mehr posten darfst, scheint es müßig überhaupt erst das Nachdenken darüber anzufangen – zu verfahren scheint die Situation. Allen Coypright-Klagen zum trotz hält sich die Meme-, Zitat- und Samplekunst aber als Kern unserer derzeitigen Kultur und wird auch nicht mehr loszuwerden sein. Aram Sinnreich nennt sie “Configurable Culture”, denn, so wie früher mündliche und dann schriftliche Kultur, und dann Buchdruck, jeweils ihre speziellen Ausdrucksmöglichkeiten und -formen mit sich brachten, hat uns die Digitalisierung eben endlose Möglichkeiten gebracht Sachen neu zusammenzusetzen und neu anzuordnen, zu rekonfigurieren. Was Simon Reynolds als “Retromania” bezeichnet hat, das Zurückgreifen auf Vergangenes als Sehnsucht nach einer gewesenen besseren Zeit, die er mit einer Unfähigkeit Neues zu schaffen verbindet, das muss nicht unbedingt nur nostalgisches Nachhängen und Rückblicken sein. Ich denke, dieses Benutzen von Vergangenem, diese Zitatkultur lässt sich auch als eigenständig begreifen, und sie zeigt wie stark heute die Grenzen zwischen Fan und Künstler verschwommen sind. Bereits vorhandene Kultur aus vergangener Zeit als Material der Kunst. So lässt sich mit Sinnreich diese Samplekultur etwas weniger als Endzeitkultur verstehen, sondern einfach nur als grundlegender Umbruch, der mit den Möglichkeiten der Digitalisierung entstanden ist.

Einem Umarmen dieser Configurable Culture wirft aber eben die Hyperkommerzialität der digitaliserten Musikkultur Stöcke zwischen die Beine. So ist denn derzeit auch ein kleines pop-avantgardistisches Genre vielleicht das konsequenteste, indem es die kapitalistische Implosion von Popmusik als Inhalt nimmt. Konsequent in einer Zeit, in der Musikmarketing längst seinen Zenith erreicht hat, in der viel Musik nur noch von Sponsoring und Product Placement lebt und mit den Konsequenzen dieser Abhängigkeit zu leben versucht. Da wird in einer hyperkommerziellen Ästhetik, einer krassen Übertreibung von zersampelten gebrochenem kitschigem Charts-Pop, das Vermischen von Musik und Marketing, Marketing als Inhalt in der Musik, bis zum Anschlag aufgedreht. Beispiele wären da PC Music, Sophie oder auch Future Brown, zum Beispiel mit ihrem die Sprache der Werbung aufgreifenden Clip zu “Vernáculo“.

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Future Brown bezeichnen das selbst als kapitalistischen Surrealismus. Für mich wirft das Fragen auf wie: Was ist Produkt, was ist Kritik, was ist Kunst, was ist Marketing, ist Marketing die eigentliche Kunstform unserer Zeit, und als große Kern leuchtet wieder mal auf: Authentizität ist sowas von tot. Was bleibt ist die andauernde Selbstkonstruktion, der immer wieder neue Selbstentwurf als Marke. Das ist es, was Teile der Avantgarde der Popmusik heute durchspielen, Marken wie adidas sind selbst Popstars, und das ist es, was Fans von Popmusik längst für’s Leben gelernt haben. Denn schließlich wird in einer durch und durch von kommerzieller Logik geprägten Gesellschaft auch dein Lebenslauf als perfekte Selbstinszenierung als Marke gefordert. Marketingprofis und Identitätstheoretiker*innen wie Butler und Foucault dürften sich da im Hyperkapitalismus des Social Media Zeitalters einig sein: Identität wird immer performt, immer erst konstruiert und Produktdesigner und Soziologinnen unterscheidet da nur die Blickrichtung oder Zielsetzung.

Als Schluss ist mir das aber zu depressiv, deswegen noch als letzten Satz:

Ein Hoch auf das Fangirling als soziale Praxis der Selbstermächtigung, des kreativen Ausprobierens und der Solidarität der marginalisierten Underdogs!

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Ein paar Quellen:
Dorian Linskey, Beatlemania: ‘the screamers and other tales of fandom’

NPR Staff, How Franz Liszt became the world’s first rock star

Jack Doyle, The Sinatra Riots 1942-1944

Jon Savage, The Columbus Day riot: Frank Sinatra is pop’s first star

Claudia Calhoun, Seventy Years of Pop Idols and Audiences

Brodie Lancaster, The Importance of Music to Girls

Eli Davies, Retrospective Sexism: How Women Are Written out of British Indie Music History

Moira Weigel, Are the kids allright? Larry Clark’s proto-hipster teen grotesque turns 20

Kartoffelchipsjournalismus – Viralität als Bento & Co

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‘Mein Kollege beim Social Media Watchblog, Martin Giesler, ist einer der Köpfe hinter Bento, und fragte, nachdem ich auf Twitter ein paar Mal Kritik an Bento auf Twitter gefavt und formuliert habe, was mich denn eigentlich konkret daran stört. Vorneweg: Ich glaube durchaus, dass Buzzfeedklone wie Ze.tt, Byou und Bento ‘funktionieren’ können, wenn ‘funktionieren’ heißen soll: ‘konsumiert werden und profitabel sein’. So gesehen funktionieren Kartoffelchips ja auch als Lebensmittel. Virale News sind das Junkfood unter den Medien, das in deiner Timeline lärmend nach Aufmerksam heischt, was ähnlich nervt wie Menschen die nur in Großbuchstaben tippen und leisere, subtilere, nachhaltigere Angebote aus der Facebook-Timeline verdrängt, die – so sagen es zumindest immer wieder Statistiken – zu großen Teilen der Ort ist, von dem Menschen ihre News bekommen.

“Sie sind halt weder queer Tumblr-Kids, noch nutzen sie Social Media wie die, die sie als Publikum anvisieren und “auf Augenhöhe” treffen wollen.”

Wo sich das englischsprachige Buzzfeed noch aus der Meme-Kultur und VICE aus der Fanzine-Kultur gewachsen anfühlten, wirken die ‘Neuen’ hierzulande oft konstruiert und ein wenig hölzern hinterherstelzend: Es wirkt meist wie ein Versuch, bei dem jung-dynamisch-erfolgsorientierte Journalist*innen etwas nachbauen, was sich anfühlen soll, wie wenn sich z.B. queer Kids auf Tumblr austauschen. Ich möchte ihnen nicht mal Begeisterung und gutgemeintes Engagement absprechen. Aber sie sind halt weder queer Tumblr-Kids, noch nutzen sie Social Media wie die, die sie als Publikum anvisieren und “auf Augenhöhe” treffen wollen. Da können sie noch so oft “RT≠Endorsement” und “hier privat” in ihre Twitter-Bio schreiben, oder gleich was ganz bewusst “was lustig abgefahrenes”, weil man das ja in diesem Internet so macht – es bleibt spürbar: sie sind Gast dort, sie haben bei Social Media immer den Blick darauf, wie sich etwas davon berufstechnisch verwerten lässt.

Apropos verwerten. Die Artikel von Bento & Co. sind wie bei Buzzfeed oft unentgeltliche Verwertung von Inhalten, die andere erstellt haben – oft Privatpersonen. Die selbstverständliche Exploitation, die Annahme soziale Netzwerke seien zum Melken da. Das hat Twitter mit seiner gestern vorgestellten Moments Funktion nun ja auch noch perfektioniert, indem es den Journalismus als Zwischenposten ausschaltet, und selbst Tweets zu Themen kuratiert. Ich musste über eine Guardian-Schlagzeile dazu schmunzeln: “Twitter launches its assault on news with Moments”. Aber täte es Journalismus nicht vielleicht auch ganz gut, wenn er sich wieder mehr auf eine eigene Identität und eigene Inhalte konzentriert, statt jedem neuen Social Network und Werbemöglichkeiten hinterherzuhecheln und seine Inhalte nach deren Regeln zu produzieren, ohne die ganzen Kompromisse und Abstriche, die er dabei macht, überhaupt noch in ihrer ganzen Fülle wahrzuhaben?

Bento & Co produzieren auf eine jugendliche Zielgruppe hin, sagen sie, 18-30 sagt Bento, glaube ich, sprich: diese Bilderbuchnetzjugend aus dem Statistikland, die ihr bestimmt auch von vielen Tech/SocialMedia Blogs kennt, in der US-Variante – und von da wird viel abgekupfert – sind’s die ‘Millenials’. Die Sprache auf Bento selber verwechselt gerne einen leichten Lästertonfall mit jugendlicher Sprache, und Spartentitel wie “Haha – hieß früher LOL” und “Streaming – Netflix and chill” hörst du an, dass sie erst an Jugendjargon im Netz kratzen, wenn er in einer Statistik oder den Twitter-Trends vorkam.

“Den Faux-Social Justice Warrior üben wir noch mal”

In eine eigene queere Sparte gleich mit einem Clip einzusteigen, in dem sich Schwule über andere Schwule beschweren, ist jetzt nicht gerade glücklich, aber solange der große Bruder Spiegel regelmäßig einen Fleischhauer gegen Gender hetzen lässt, wirkt die Queer-Sparte auf Bento eh etwas meh. Minoritätenthemen funktionieren aber halt viral, weil sie polarisieren. Grenzen zwischen Ernstnehmen und als Freaks ausstellen sind fließend bei Schlagzeilen wie: “Tucken unerwünscht! Jetzt trampeln auch noch Schwule auf Schwulen herum” oder “Ich setze mit dem Kopftuch ein feministisches Zeichen.” Feministische Themen wie das letzgenannte oder “feministischer Porno” rangieren bei Bento nicht unter Politik oder Kultur oder Arbeitsrecht, auch nicht unter “Gerechtigkeit”, sondern interessanterweise unter “Gefühle – Psyche, Liebe, Freundschaft.” Den Faux-SJW üben wir noch mal, gelle? Dafür ist die Legalisierung von Cannabis in USA unter ‘Gerechtigkeit’ zu finden. Diese Sparte sollte vielleicht auch insgesamt noch mal überdacht werden, da sie Konstellation wie diese hervorbringt, die ähnlich unsensibel gewählt sind, wie das eingangs gepostete Bild:

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11 Sachen, die typisch für Junkfoodjournalismus oder Clickbait sind

Wenn ich schon mal beim Durchgucken bin, hier noch ein paar Sachen, die für mich typisch für Junkfoodjournalismus oder Clickbait sind:

  • Immer wieder Versuch der Herstellung eines Wir-Gefühls, einer sozialen Beziehung durch Ansprache mit “Du”, das Behaupten persönlicher Relevanz (”x – und was das für dich bedeutet”, “x – und so kommst du da wieder raus”)
  • Platzieren von Reizwörtern in den Überschriften (”Tucken”, “rechtsextreme Dumpfbacke”, “süchtig machen”, “hassen”, “Hass”)
  • Listicles (”33 Dinge, die nur Erwachsene im Haus haben” usw.)
  • Quizzes (”Wieviel Käse steckt in dir” usw.)
  • viraler Videokram (Mauerkuchen backen, Pizza auflegen usw.)
  • Antriggern durch Frageform in Überschriften (“Was passiert, wenn man zerknüllte Einkaufszettel nachkocht?”)
  • Beiträge, die letztlich nur Weiterleitungen zu Inhalten woanders sind (Chelsea Manning Blog usw)
  • Versprechen einfacher Lösungen (”Geld verdienen mit einer Schnapsidee”, “Wie sich Krach unter Flüchtlingen verhindern lässt” usw.)
  • Unkritische Banalisierung grauenerfüllter und komplexer Themen (z.B. Massaker von Ankara)
  • Pseudo-Enthüllungsfloskel “wirklich” in Überschriften (So spießig sind wir wirklich; Wie es sich anfühlt, wenn man wirklich kein Gluten verträgt usw.)
  • Unklare Überschriften (”Das Leben dieses Models ist ein großer Witz” usw.)

“”Social Media Tauglichkeit” mit “Zielgruppe Jugendliche” gleichzusetzen tut letzterer Unrecht.”

Es ist für die Viralität sozialer Netzwerke gemachter Boulevard, nicht ernsthafter für Jugendliche gemachter Journalismus, und “Social Media Tauglichkeit” mit “Zielgruppe Jugendliche” gleichzusetzen tut letzterer Unrecht. Es ist keine Annäherung an ein jugendlicheres Publikum, es ist eine Annäherung an ein Journalismusverständnis, bei dem es mehr um die Qualität des Verkaufens als um die Qualität des Produkts geht.

“Ich will nicht noch mehr entertainende Nachrichten mit Wir-Gefühl in meinen Timelines.”

Mich stört es, dass immer mehr solcher Angebote geschaffen werden, mit dieser Vereinfachung komplexer Themen, eine quasi Sloganisierung, bei der Inhalte der viralen Form geopfert werden, bei der Medien wie Marketing funktionieren sollen, bei der ins Soziale vorgedrungen und ein ominöses Wir-Gefühl heraufbeschworen werden soll. Dieser immer mitwabernde Versuch Kontakt herzustellen, die persönlich zu triggern, ein Wir-Gefühl herzustellen – das ruft bei mir Assoziationen zur der “deutschen Unverkrampfheit” hervor, der Frank Apunkt Schneider in seinem Buch “Deutschpop halt’s Maul so treffend die Forderung einer Ästhetik des Verkrampften entgegensetzt. Sorry, ich will mit meinem Newsmedium nicht ‘befreundet’ sein. Diese Art der Aufdringlichkeit von Werbung und News empfinde ich, gerade wenn sie sich auf sozialen Plattformen unter die Status-Updates von Freundinnen und Freunden mischt, als ambiente soziale Übergriffigkeit.

Genauso wie Marken sich selbst gern als menschgewordenes Produkt “sozial” mit der Kundschaft verbinden wollen, will es diese Sorte Newsmedien. Leichte Konsumierbarkeit, Snackcharakter, Emotionalisierung, Polarisierung – Moment, da war doch noch was? Ach ja, die Bild ist ja auch die meistgelesenste Zeitung hierzulande, und fast jede große Tageszeitung hält sich ihren Martenstein oder Don Alfonso. Natürlich ist es völlig legitim, auch noch das xte boulevardisierte Newsangebot rauszuhauen und sich auf das Niveau von RTL-News zu begeben, aber es ist eben auch legitim, das Scheiße zu finden. Noch mehr Listicles, noch mehr Anbiederungs-, Empörungs- und Lästertonfall – das braucht es für mich wirklich nicht, auch wenn ich mich auch gern ab und zu über ein albernes Listicle amüsiere.

Ich will keine entertainenden Nachrichten mit Wir-Gefühl in meinen Timelines. Ich will kein Action-Movie Äquivalent von Nachrichten. Wenn ich ein Newsmedium ernst nehmen soll, sollte es formal durchaus mit Neuem experimentieren, aber dabei auf die Inhalte fokussieren, nicht nur auf höchstmögliche Verbreitung und bestes Entertainment hin. Mich würde auch mal eine Untersuchung dazu interessieren, inwieweit die Zunahme von Zuspitzung, Polarisierung und Vereinfachung in den Medien sich auf gesellschaftliche Diskussionen und Meinungsbildung und Konsensfindung auswirken. Abschließend noch: Ich fand übrigens die Bento-Kritiken von taz und DWDL durchaus passend – sie sind eben einfach genauso flapsig und vereinfachend geschrieben, wie sie Bento empfinden.

“Auch für mich gibt es natürlich positive Beispiele für neue Formen im Journalismus”

Um nicht nur negatives zu erwähnen: Auch für mich gibt es natürlich positive Beispiele für neue Formen im Journalismus. Da fällt mir natürlich der experimentierfreudige Guardian ein – nur ein Beispiel: Er ist eins der wenigen Medien, die es schaffen, Videoschnipsel unaufdringlich in Texte einzubringen, ohne dass die Texte nur noch wie Beiwerk, sondern tatsächlich die Videos ergänzend zum Text wirken. Aber lasst mich ein paar andere spannende Einzelbeispiele nennen:

“Dumbing-News means dumping news.”

Es gäbe so viele Möglichkeiten, aber Kreativität und Mut, in sie zu investieren, fehlen leider oft. Neue technische Spielzeuge machen nicht von allein neuen guten Journalismus. Periscope Streaming um des Streamings willen ist das neue Snowfall-Bauen, ein halbes Jahr nachdem alle schon vom Scrollen durch lauter Artikel genervt sind, bei denen das Snowfall-Format nur dazu diente, den fehlenden Inhalt zu strecken. Wenn neue Formate nur deswegen eingesetzt werden, weil das Publikum laut irgendwelche Statistiken dort zu finden sei, ohne dass ein Mehrwert bei der Vermittlung von Inhalten entsteht, sondern oft sogar eine Verschlechterung, Verstreuung und Banalisierung – dann läuft da was falsch. Bitte investiert lieber mehr in neue Ideen, statt in halbgare Varianten dessen, was es eh schon in rauer Menge gibt. Buzzfeed und VICE machen das, was sie machen, schon am besten, da kommt ihr – tut mir leid – eh nicht ran. Und es ist auch etwas peinlich, so offensichtlich zu kopieren, um an deren Publikum zu kommen. Ich weiß schon, auch die zwanzigste Chips-Geschmacksrichtung findet noch Käuferschaft. Aber. Je mehr Junkfood du produzierst, desto weniger werden Leute dafür zahlen wollen. Dumbing-News means dumping news.

P.S. Noch mal: Bento steht hier nur stellvertretend für die ganzen viralen Newssites, weil dank Verbindungen auf Social Networks seine Inhalte ein paar Mal zu oft in meiner Timeline gelandet sind, die ich sonst recht gut frei von solchem viralem Newskram gepflegt habe.

Journalismus und die Sehnsucht nach authentischer Wahrheit – Deutsches Medienmisstrauen

“Ihnen kommt letzlich schon jeder redaktionelle Eingriff wie ein Verbiegen der Wahrheit vor.”

In Deutschland kämpft der Journalismus seit einigen Jahren gegen eine überraschend große Menge von Leuten, die der Mainstreampresse nicht trauen. Aus der ‘linken’ Ecke kommend, habe ich das zunächst nicht so ernst genommen, denn mit Medien gehen wir schon auch kritisch um. Da nimmst du die Nachrichten mit Vorsicht auf, glaubst sowieso nicht, dass es nur eine einzige Wahrheit gibt, dann interessierst du dich auch für ein wenig Medien- und Identitätstheorie, und versuchst, wenn du weißt, von welcher Zeitung ein Artikel kommt, deren Einstellung oder Voreingenommenheiten mitzubedenken und dich so diesem “wibbily wobbly timey wimey” sexy kleinem Ding namens Wahrheit anzunähern. Ich spreche hier aber von etwas anderem. Diese neue Welle von Medienkritik geht mit einem Mangel an Interesse daran einher, wie Journalismus funktioniert. Wenn diese Leute denken, dass die Presse lügt, verwechseln sie ‘konstruiert’ mit ‘lügen’. Daraus resultiert, dass ihnen letztlich schon jeder redaktionelle Eingriff wie ein Verbiegen der Wahrheit vorkommt, ein Schritt weg von dem, was ‘tatsächlich’ passiert ist.

Was die Sache noch schlimmer macht: Es kommt auch noch eine ärgerliche Dosis Anti-Intellektualismus dazu. Die Klassen- und Bildungslücke zwischen vielen Journalist*innen und und einem großen Teil ihres Publikums könnte zu dieser Dissonanz beitragen. Und es ist schwer, auch nur Basis-DeSaussure anzubringen, wenn jemand auf gesunden Menschenverstand und Bauchgefühl als argumentative Waffen seiner oder ihrer Wahl besteht, um sich dem, was wahr ist, zu nähern.

“Aus den Träumen der Wearable-Tech-Leute und aus dem antiintellektuellen Medienmisstrauen spricht die gleiche Sehnsucht nach Objektivismus und authentischer Wahrheit, die den beängstigend fließenden Zustand der Welt zähmen sollen.”

“Worte werden eher als eine Verschleierung von Ehrlichkeit wahrgenommen, denn als Mittel, sie zu überbringen”, erklärt William Davies in einem Artikel über den Aufstieg der Wearables, Facebook und Amazon. Ich denke, dass es diesselbe Sehnsucht nach Authentizität und Wahrheit, sowie das selbe (Miss)Verständnis und die Ferne von Theorie sind, die zu beidem führen, zu diesem besonderen Typ von Medienskepsis und zu dem, wovon Zuckerberg spricht, wenn er von ungefilterter telepathischer Kommunikation als Zukunft redet:

“Wir werden Augmented Reality und andere Geräte haben, die wir fast ununterbrochen tragen können, um unsere Erfahrung und Kommunikation zu verbessern. Eines Tages werden wir, glaube ich, fähig sein, einander durch die direkte Nutzung von Technologie vollständige, reiche Gedanken zu schicken. Du wirst an etwas denken können, und deine Freunde werden es sofort auch erleben können, wenn du willst. Das wäre die ultimative Kommunikationstechnologie.” (William Davies zitiert Zuckerberg, The Atlantic)

Es ist vielsagend, dass der Mann, der verantwortlich für das soziale Netzwerk ist, das am meisten vermittelnd in Kommunikation eingreift, also für die am wenigsten direkte Kommunikation steht, von einer ungefilterten Kommunikation träumt. (Wenn du schnell mal eine unterhaltsame Gegenperspektive möchtest, versuch’s mit ‘Greeks bearing gifts‘, einer Episode von Torchwood über ein telepathisches Wearable. Ich frage mich übrigens, ob es die Sache mehr oder weniger besorgniserregend macht, sich vorzustellen, dass diese Tech Guys anscheinend nie Gedanken daran verschwenden, wie tiefgreifend alle ihre Gedanken kontrollieren müssten, damit das zu einer akzeptierten alltäglichen Form von Kommunikation werden könnte.) Die Träume dieser Technikleute und die anti-intellektuelle Medienskeptik klingen beiden ein wenig wie “reduzier uns bitte auf Biologie, Theorie und Sprache ist zu schlüpfrig”. Biologie bedeutet für die einen das Zähmen des Körpers mit Technologie, für die anderen ist es das Zähmen des Wissens über die Welt mit gesundem Menschenverstand und Urteilen aus dem Bauch heraus. Aus beiden spricht eine Sehnsucht nach Objektivismus und authentischer Wahrheit, die den beängstigend fließenden Zustand der Welt zähmen sollen.

“Die kulturelle Verschiebung von einer offen kontrollierten Gesellschaft wie der DDR zu einer Gesellschaft, in der du einen Mix aus mehr Freiheit, aber auch einer Menge verschleierter Kontrolle hast, könnte einen weitaus größeren Unterschied machen als wir gedacht hatten.”

Aber zurück zur deutschen Journalismus-Skepsis. Gestern hatte ich ein kleines Geburtstagskaffekränzchen mit Familienangehörigen, auf dem jemand zu kritisieren begann, dass Medienbilder von Flüchtlingen derzeit immer nur Frauen und Kinder zeigen, obwohl er doch von einem Bekannten wisse, der in der Verwaltung arbeite, dass es in Wahrheit 90% männliche Flüchtlinge seien. Ich sagte, (bereuend, dass ich keine Zahlen parat hatte), dass die Logik dahinter sein könne: Es gab hier einen Anstieg von Anti-Flüchtlingsprotesten und -Verbrechen, und rassistische Menschen nehmen männliche Geflüchtete oft als eine größere Bedrohung wahr als Frauen oder Kinder. Es könnte doch sein, dass die Presse einfach hofft, so Empathie statt Angst zu erzeugen.  Das brachte das Gespräch darauf, dass Nachrichten “gemacht” würden. Er sagte, dass er nicht einsehe, warum die Presse nicht einfach zeigt, was wirklich da ist, und die Leute selber interpretieren lässt. Daraufhin erwiderte ich, dass Nachrichten sowieso niemals objektiv seien, weil allein schon die Auswahl, was du zu einer Story machst und was nicht, ein Urteil beinhaltet. Ein Bild zeigt auch immer nur einen Ausschnitt einer Szene, aus dem Kontext gerissen: es zeigt nicht, was außerhalb des Ausschnitts passiert, es zeigt nicht, was vorher und nachher passiert, es zeigt nicht, warum ein Redakteur dieses Foto gewählt hat, usw. Er erwiderte mit dem Erlebnis einer Freundin, die bei der Stadt arbeitet und zu einem der Notfall-Teams gehörte, die geschickt wurden, um letzte Woche, als die deutsche Regierung zwei Tage lang alle Flüchtlinge reinließ, den am Bahnhof ankommenden zu helfen. Dort wurde ihr, als Teil ihres Jobs, angeordnet, dass sie “Refugees Welcome”-Banner hochhalten oder aufhängen sollte. Für die Medien. Angeblich. Bei mir blinken bei solchen Geschichten, und der Vermutung, warum sie erzählt werden, alle PEGIDA Warnlämpchen auf, aber eigentlich gehört dieser Mensch nicht in diese Ecke. Soviel ich weiß. Ihn erinnere das – völlig abgesehen davon, ob sie hinter dem Inhalt des Transparents steht oder nicht – zu sehr an seine Jugend im früheren Ostdeutschland. Daran, wie sie gezwungen waren, bei extra für die staatlich kontrollierten Medien veranstalteten Events Fahnen zu schwingen. Ihm in die Augen zu sehen, während er davon erzählte, ließ mich das erste Mal verstehen, dass es da eine verdammt große Empfindlichkeit gibt, die Westdeutsche nicht wirklich nachvollziehen können. Mir war zwar bewusst, dass das Misstrauen gegenüber Journalismus im aus dem früheren Ostdeutschland stammenden Teil der Bevölkerung stärker ist, aber irgendwie hat es hier zum ersten Mal bei mir Klick gemacht. Die kulturelle Verschiebung von einer offen kontrollierten Gesellschaft wie der DDR zu einer Gesellschaft, in der du einen Mix aus mehr Freiheit, aber auch einer Menge verschleierter Kontrolle hast, könnte einen weitaus größeren Unterschied machen als wir gedacht hatten. Die verschleierte Kontrolle ist natürlich auch etwas, was viele Westdeutsche kritisieren, aber aus einer ganz anderen kulturellen, gesellschafts-politischen Erfahrung heraus.

“Es ist eins der großen Themen unserer Zeit, dass mit dem Social Web der Mythos der neutralen Objektivität zerschmettert worden ist, und das Echo davon hallt nun durch so viele Bereiche unserer Leben.”

Füge da nun noch die kulturelle Veränderung hinzu, die im Laufe der letzten Jahre dadurch entstand, dass die Mainstreambevölkerung das soziale Web zu nutzen begann und entdeckte, dass es da draußen eine Vielzahl von Perspektiven auf die gleichen Events gab. Es ist eins der großen Themen unserer Zeit dass mit dem Social Web der Mythos der neutralen Objektivität zerschmettert worden ist, und das Echo davon hallt nun durch so viele Bereiche unserer Leben. Der gefährliche Anstieg des Misstrauens gegenüber dem Journalismus ist eine dieser Wellen. Ich bin kein Fan des Gatekeeper-Mechanismus der alten Medien, weil er nur die Perspektive eines sehr engen Spektrums von Menschen als Status Quo verallgemeinerte. Trotzdem denke ich, ihn zu verlieren, ohne dass an seine Stelle ein neuer, um mehr Diversität bemühter Mechanismus tritt, der zwischen all den kontroversen Stimmen, die eine Gesellschaft ausmachen, vermitteln kann, ist gefährlich. Wir brauchen vermittelnde Werkzeuge, Mechanismen, Foren, usw., um zu einem gesellschaftlichen Konsens zu gelangen, aber sie müssen demokratischer, interaktiver und diverser ausfallen als es der alte Gatekeeper-Journalismus war. Sonst wird sich dieses Gefühl, betrogen zu werden, an dem so viele zu leiden scheinen, weiter ausbreiten. Und daraus wird weiter Misstrauen wuchern, das zu der Erosion von Solidarität führt, die wir in Form von so vielen Hassbotschaften im Netz und auf der Straße erleben.

“Dieses Misstrauen ist es auch, was eine Woge von neuen kleinen viralen Medien ausbeutet: Jung&Naiv, Ken.FM, Ruptly – alle auf verschiedenen Ebenen”

Dieses Misstrauen ist es auch, was eine Woge von neuen kleinen viralen Medien ausbeutet: der Journalismus des gesunden Menschenverstands, den Jung&Naiv betreibt, ist nicht wirklich weit weg von Ken.FMs Verschwörungsshow, oder vom verflixten Ruptly, dass so tut, als sei es frei von jeglicher Agenda. Sie alle haben diese Truther Poste inne: Wir zeigen euch die echte Sache, nicht mit Meinung verschmutzt, wir sind die authentischen News, wir enthüllen die geheime Agenda der Mächtigen. Zu ihnen fliehen viele derjenigen, die den Mainstreammedien misstrauen. Selbstverständlich werden die Enthüllungen, die diese Sorte viraler Medien betreibt, niemals den Hunger ihrer Publikums befriedigen, denn es gibt nun mal nicht eine große geheime Agenda, genausowenig wie es eine objektive Wahrheit gibt. Aber Menschen hängen an ihren Lippen, bei jeder enthüllten Schicht hoffend, dass es die letzte sei, die endlich freilegt, was wirklich hinter allem steckt. Die eine einfache feststehende Wahrheit, die sie von der schrecklichen, sich dauernd verändernden Komplexität der Welt heilt. Was dies kleinen viralen Medien tun, ist eigentlich sowas wie eine endlose Stripshow, die darüber funktioniert, ein konstantes Erregungslevel zu halten, und die von der Erregung profitiert, statt an Aufklärung und Lösungen interessiert zu sein. Sie nutzen die Sehnsucht nach Authentizität und Wahrheit aus, die ein Zeichen unserer Zeit ist, und sich von Digital Detox bis zu Bio-Essen durchzieht.

“Es ist ein Unterschied, ob Medien verschiedene Perspektiven auf ein Ereignis vermitteln, oder ob sie sich dafür hergeben, unkritisch als Meinungsmacher für das zu fungieren, was die Regierung für die angemessene gesellschaftliche Perspektive auf ein Ereignis hält.”

Es gibt natürlich auch Fälle, in denen die großen Medien tatsächlich dazu verwendet werden, Meinungen zu formen. Es ist ein Unterschied, ob Medien verschiedene Perspektiven auf ein Ereignis vermitteln, oder ob sie unkritisch als Meinungsmacher für das zu fungieren, was die Regierung für die angemessene gesellschaftliche Perspektive auf ein Ereignis hält. (Im Zweifel würde ich immer die simpelste Regel der Satire übernehmen: Von oben nach unten treten ist ein No-Go.) Noch einmal ein Beispiels aus der Behandlung von Geflüchteten: Eine zeit lang wurden die großen Nachrichten in Deutschland von Stories über aggressive Anti-Flüchtlings-Proteste und Brandanschläge auf Flüchtlingsheime dominiert, und waren sehr abgekoppelt von der Perspektive von Geflüchteten. Angst und Hass wurde damit als die in Deutschland weit verbreitete Reaktion auf Flüchtlinge wahrgenommen. Rassist*innen feierten das als Zeichen ihrer Macht, Zahl und ihres Erfolgs. Dann gab es eine große Verschiebung in der Presse, um dem mit Nachrichten über Solidarität zu kontern,  die Stories von Flüchtlingen zu zeigen, davon zu erzählen, wie viele Leute in Deutschland Geflüchteten helfen und sie willkommen heißen. So wurde Solidarität mit Flüchtlingen als der gesellschaftliche Konsens präsentiert. Als der Journalismus noch für die gesellschaftliche Mehrheit als Gatekeeper fungierte, war er fast das einzige Fenster, durch das Leute auf solche Ereignisse blicken konnten. Damals hätte so ein Move funktioniert als “oh, die Deutschen haben sich geändert, nun sind sie alle für die Flüchtlinge”. Heute aber wird so eine Veränderung in der Berichterstattung auch wahrgenommen als “ähm, warum denn dieser plötzliche neue Fokus in all den Zeitungen, wo doch immer noch Brandanschläge auf Flüchtlingsheime erfolgen?” Das “Guck mal da drüben, ein Solidaritätseichhörnchen!” funktioniert nicht mehr so gut wie früher. Durch soziale Medien ist die Öffentlichkeit sich mehr dessen bewusst, dass diese Story nur so erzählt werden konnte, weil Merkel nachgeholfen hat, es in eine nachrichtenwürdige Notsituation zu verwandeln. Die erschöpfende Langzeithilfe für Geflüchtete ist zu langweilig, um darüber zu berichten: das würde niemand lesen. Um Aufmerksamkeit zu bekommen, brauchen wir Krisenmomente, Bilder wie die überfüllten Bahnhöfe.

“Ich bin immer noch wütend über diese paar Tage, in denen Merkel Menschen als taktische Spielfiguren benutzte.”

Ich bin immer noch wütend über diese paar Tage, in denen Merkel Menschen als taktische Spielfiguren benutzte; Menschen, die sowieso schon in der schlimmsten Lage sind, von ihrem Zuhause vertrieben, in unmenschlichen Camp-Situationen endend, oft über Jahre hinweg, und das wird dann auch noch als großherzige Hilfe des Retters gefeiert. Wenn dieses Benutzen von Menschen, ihrer Situation und ihrer Emotionen das ist, was Regieren in den Zeiten von Social Data und Media ausmacht, sieht’s so aus als ob wir ein paar höchst unterhaltsame Jahre vor uns haben könnten. Brot und Spiele 3.0.

Ich beende diesen Blogpost an dieser Stelle, weil ich noch was arbeiten muss und sowieso gerade auf kein schickes Ende komme, denkt euch einfach irgendwas Richtung: Der Journalismus muss sich seiner veränderten Rolle noch mehr bewusst werden, oder: wir brauchen mehr Soziologie, die sich mit Digitalisierung auseinandersetzt, und das nicht in abgeschlossenen akademischen Bereichen, sondern öffentlich für alle verständlich. Aber ich höre nicht auf, ohne einen der Tweets zu erwähnen, die mich darauf brachten, das alles hier aufzuschreiben:

“So the newspapers are going to run with “top button undone” as news, but not “pig-fucker in chief”, and still claim not to be biased?”
Huw Lemmy (dessen Buch Chubz ich hier immer noch nicht besprochen habe, fällt mir ein, aber holt es euch – es ist großartig.)

(Falls es wirklich noch Leute gibt, die nichts von #Hameron / #piggate mitbekommen haben sollten: Lemmy kritisiert hier, dass Corbyn für Nichtigkeiten von der britischen Presse durch den Dreck gezogen wird, während Cameron sogar ein Schwein in einem Studentenclub ficken kann, der ihm letzlich sogar hilft, überhaupt erst in die Position zu kommen, die er heute innehat, und trotzdem fasst ihn die Presse mit Samthandschuhen an.)

Dieser und ein paar andere die Presse kritisierenden UK Tweets brachten mich darauf, dass ich noch gar nichts über eine ähnliche Medienskepsis-Bewegung aus anderen Ländern gehört habe. Ich frage mich, ob es sowas gibt, und falls ja, was an denen spezifisch ist? (Die gleiche Sehnsucht nach authentischer Wahrheit? Ein ähnlicher Anti-Intellektualismus? Vielleicht ein Nord/Süd-Ding, das der Ost/West-Unterschieden hier entsprechen könnte? Oder etwas ganz anderes? Oder ist das “Lügenpresse”-Ding etwas Deutschlandspezifisches?) Joshuah Hersh z.B. vergleicht PEGIDA / “Lügenpresse” mit Tea Party / mainstream media”.

P.S.: Einer noch: “Gettin piggy with it“, Cassetteboy. ^^

Rassismus-Kehrwoche: RegierungTM vs Facebook the Hutt

Als ich zu denen gehörte, die es nicht verkehrt fanden, dass Heiko Maas Facebook um ein härteres Durchgreifen in Sachen rechter Hetzpostings bat, war ich einen Moment lang besorgt, ob ich damit auch gleich automatisch zu denen gehöre, die sich eine Regierung wünscht, die mal richtig durchgreift. Schon mehr Bruce Willis als Chuck Norris, also mehr Xena als Hitler, aber irgendwie trotzdem besorgniserregend. Dann kam mir aber, dass Voraussetzung dafür ja wäre, dass ich dran glauben täte, dass die RegierungTM FacebookTM mehr als ein wohlkalkuliertes höflich-verständnisvolles Lächeln abringen könnte. Deswegen ist das Vorpreschen von Maas, dem sich Merkel inzwischen ja angeschlossen hat, schon eine amüsante Sache, denn es wird zeigen, dass Facebook letztlich die Merkel der sozialen Plattformen ist: Kritik, das Aufzeigen von Grenzen und Verbesserungsvorschläge versacken stets in einer lächelnden mausgrauen? Mausblauen! Jabba-The-Hutt-PR-Wabbelhaut, die alles soweit eindringen lässt, dass es den Anschein einer Reaktion hat, dann aber lässig zurückfedert in was-auch-immer eh vorher schon ihre Position war. Macht wabert hinter Faux-Durchschnittlichkeit, hinter dem Hoodie des Jedermann, der nur dein Bestes will, sein Bestes versucht, wie du und ich, aber es ist halt kompliziert, das musst du schon verstehen, aber: mit gesundem Menschenverstand und wenn wir uns alle gemeinsam bemühen, dann! An Facebook zu verzweifeln ist wie die Verzweiflung eines Kindes in seiner ohnmächtigen sozialen Abhängigkeitssituation. Ein Kind, das den Eltern nicht klarmachen kann, wo ein Problem liegt, weil diese, sich besserwissend wähnend, gar nicht richtig zuhören, weil: Vorsprung durch Daten, mehr Überblick, mehr Erfahrung, mehr Wissen. Mehr halt. Das kann sich ein Kind doch gar nicht vorstellen. Diese Position gönne ich Maas.

“Facebook ist letztlich die Merkel der sozialen Plattformen”

Man könnte sich ja jetzt Popcorn greifen, sich zurücklehnen und zuschauen, quasi Godzilla gegen Mothra (oder vielleicht: Mechagodzilla, aber Mothra ist cooler, weil Robert Smith gegen Streisand, egal: jedenfalls Supervergleich, weil beide auch nicht 100% gut oder 100% böse), aber dann dämmert dir: Blöd, dann sind die Flüchtlinge ja die Einwohnerinnen von Tokyo, will heißen: im besten Fall Statistinnen ohne Stimmen, im blödesten: Kollateralschaden. Und überhaupt, warum kümmert Maas und Merkel das plötzlich? Ein menschlich-herziges Ablenkungspflasterl, damit die Verschärfung der Flüchtlingspolitik nicht so schmerzt? Beziehungsweise nur die Flüchtlinge schmerzt, aber die wohlmeinende deutsche Zivilgesellschaft nicht. Oder Imagesorgen um die Marke? Wir schaffen das. Wohlkalkulierte Dosierung von Wir-Gefühl, ging wohl ein bissler nach hinten los, denn soviel “Wir gegen die” war ja auch wieder nicht gewollt. Das grünwiesige und crazybiedermannberlinige (denn letztlich wird Berlin ja nur als andauernder quasi-nostalgischer Ausbruchsmoment gefeiert, nicht als Vision einer anderen Möglichkeit, an der gebaut wird, aber das ist ein anderer Rant) SchlandTM, das mit Fußball und Staatspop und etzsimmawiederwer-Gefühl, na, da wuchern nun schon ein paar Rostflecken auf der weißen – entschuldigung: “wir sind bunt”-Weste, naja: vielleicht doch eher “wir sind pastellfarben”, zu bunt soll es hier ja auch niemand treiben, jedenfalls: der braune Rost muss mal wieder weg. So ist das aber halt, wenn nix gegen das feuchte Dauerklima getan wird, weil die Parolen ja doch auch immer mal wieder praktisch für die eigene Politik sind, so ist das halt, wenn immer nur drüberlackiert wird und nie ordentlich abgeschliffen und grundiert, das sagt dir jede Autoschrauberin: da kommt der Nazidreck halt immer wieder durch.

“Warum kümmert Maas und Merkel das plötzlich? Ein menschlich-herziges Ablenkungspflasterl, damit die Verschärfung der Flüchtlingspolitik nicht so schmerzt?”

Nun mögen manche Mitglieder der weißen Herrenmasse den Finger heben, weise mahnend, dass es doch vielleicht auch gut so sei, dass das alles auf Facebook so sichtbar sei, ein wahrer Spiegel der Gesellschaft, da wisse man wenigstens woran man sei, und das Geschmeiß kreuche nicht nur im Dunklen herum, wo es dann wieder nur Agent Antifa Moulder sieht, dem eh keiner glaubt, weil in der deutschen Fußballlogik halt immer noch wie Pluspol/Minuspol gedacht: linksextrem ist die andere Seite von rechtsextrem. Dass sich die Definition von linksextrem aber seit Jahren von “Bombenattacken gegen den Staat” zu “noch einen Funken sozial-politisches Verantwortungsgefühl und Empathie im Leib” verschoben hat, und sich somit zu einem Gütesiegel entwickelt hat – wen juckt’s. Aber früher wurde ja auch mal geglaubt, dass Homosexualität widernatürlich sei, weil Magnet: Pluspol und Pluspol stoßen sich ab. Von daher bleibt tröstende Hoffnung, dass auch die Extremismustheorie Jahre nach ihrer theoretischen Überwindung auch noch IRL eingemottet werden wird. Zu der Logik, dass es doch super wäre, dass der rechte Dreck nun dank Facebook sichtbar sei und nicht an dunklen Stammtischen verborgen bliebe: Nun, das mag für manche Nichtbetroffene schon so sein, dass sie sich das als kleinen Gruselschauer beim Morgenkaffee geben wollen, aber ob das nun Flüchtende als bereichernd empfinden, dass sie das so alltäglich  in die Fresse kriegen? Wohl weniger. Denen geht es wohl eher wie mir, wenn ich den “endlich mal für alle sichtbaren, yeah!” sexistischen und homophoben Dreck um die Ohren kriegte, dass mir schon vorm Frühstück der Magen klamm wurde. Nicht umsonst habe ich eine liebevoll handgemachte, immer wieder überarbeitete Filterbubble, die mir niemand Nichtbetroffenes ever ranzig machen wird. Diesen Hassdreck im sozialen Kontext von Facebook immer wieder zu lesen, bringt Gewöhnung mit sich und resultiert in der Verschiebung von Grenzen des Tolerierten. Nicht umsonst arbeiten Menschen inzwischen mit allen Mitteln – Facebookmeldung, Anzeige bei der Polizei, Shaming bei Arbeitgeber und sozialem Umfeld – um einen sozialen Konsens wiederherzustellen, in dem es nicht alltäglich ist, rassistischen Dreck von sich zu geben.

“Super, dass dank Facebook, dem Spiegel der Gesellschaft, der rechte Dreck nun sichtbar ist? Für Flüchtlinge und andere Betroffene wohl kaum.”

Facebook als Spiegel. Nuja. Wenn, dann schon eher so ein Labyrinth von Zerrspiegeln, wie am Oktoberfest, in dem manches doppelt so breit oder wellenförmig gezeigt wird, und anderes gar nicht. Und wenn du verstehen willst, wie das aufgebaut ist und funktioniert – ich sag dir: keine Chance. Da irrst du tagelang durch das Kabinett und rennst dir bloß das Hirn blutig. Was dir aber klar wird, während du im Bierzelt nebenan mal eben noch einen Stärkungsschluck nimmst, ist, dass schon gezielt manches mehr gezeigt wird als anderes. Zum Beispiel Emotionalisierendes. Vielleicht war es ein Schluck zu viel, denn das war tapsig und dir entgleitet die schöne Spiegelkabinettmetapher, oder – nee, war nicht das Bier: Funktioniert hat sie von Anfang an nicht, weil: Es wird ja überlegt, bevor gepostet wird, ausgewählt, formuliert, Inszenierung, Performanz überall wohin du schaust. Fast wie offline, aber bewusst für online. Auch Rassist*innen können schließlich Social Media managen und da funktioniert so eine soziale Plattform ja genauso toll wie für Sexist*innen. Prima zum gegenseitigen Hochschaukeln und Schulterklopfen, ob öffentlich oder in geschlossenen Gruppen mit Verschwörungsbonus, und was für ein tolles Tool zum Vernetzen und Organisieren. Facebook ist ein gottverdammter Verstärker. Merkst du was ich merke? Wie sich mystery und hystery und history verstärken.

“Auch Rassist*innen können schließlich Social Media managen und Facebook ist ein verdammter Verstärker.”

Lass uns nicht über Sexist*innen reden, aber Rassismus geht dann doch zu weit. Wobei sich auch die Misos seit Jahren wirklich viel Mühe geben – das muss auch mal anerkannt werden, auch wenn sie jetzt gegen die rechten Sprüche abstinken – aber hey, mit blutrünstigen Todesdrohungen und hochkreativer vernetzter Verächtlichkeit – das da draus noch kein Event gemacht worden ist, wo du einen Eintritt dafür zahlst, eigentlich ein Wunder. Ach, gab’s schon. Sieh eine an. That’s social media: Aus Scheiße Gold machen und damit noch zur Senkung der Toleranzgrenze beitragen. Das muss man ja auch mal sagen dürfen: Egal, aus was für einem Grund das gesagt wird, es wird gesagt, und irgendwie muss alles mal gesagt werden heutzutage. Dürfen. Ich muss dürfen! Einsdrölf. Immer mit diesem Gestus, als hätte dir’s jemand verboten, das zu sagen. Immer die Sorge um die Meinungsfreiheit. Wessen eigentlich? Dazu müsste es doch erst mal eine gleiche Meinungsfreiheit für alle geben, was wir offline nicht hinkriegen, aber Facebook könnte das: neutrale Voraussetzungen schaffen. Du brauchst keine Lupe zu zücken, um drauf zu kommen, dass die soziale Plattform ganz schön rutschig ist, und es wieder mal die Marginalisiert*innen sind – ja, sieh einer an: ein Scherz über die inkludierende Schreibweise gleich mal selbst vorweggenommen, bevor du ihn bringst -, wo war ich: ach ja, die rutschige Plattform ist dann doch wieder eher für den Grip der bärtigen Sohlen mancher gemacht, nicht für alle. Haste die falschen Brustwarzen, biste raus. Willste selber vorsorgen, dass keine genärrischen Maskulinen oder Rechten über deinen Namen deinen Wohnort rausfinden und ihre kreative Hate Poetry offline in kreative Hate Performance umsetzen, und meldest dich deswegen unter einem Fakenamen an, wirste von einem Moment auf den anderen gekickt, weil dich wer meldet, dem oder der deine Postings nicht passen. Weg, das soziale Umfeld, weg, die Kontakte, ja, hätteste nur Emailadressen getauscht usw jaja, hätteste pätteste. “Wo soll das hinführen, wenn Privatunternehmen über Äußerungen entscheiden?” ist eine rhetorische Frage, gell? Die Antwort sehen wir doch längst in der angewandten Praxis. Wenn wir genau hinsehen.

“Willste selber vorsorgen, dass keine genärrischen Maskulinen oder Rechten über deinen Namen deinen Wohnort rausfinden und ihre kreative Hate Poetry offline in kreative Hate Performance umsetzen, und meldest dich deswegen unter einem Fakenamen an, wirste von einem Moment auf den anderen gekickt, weil dich wer meldet, dem oder der deine Postings nicht passen.”

Beißt sich in den Schwanz: Dass die Plattform nicht auch für deine freie (und das heißt: sichere) Meinungsfreiheit strukturiert ist, zwingt dich überhaupt erst zum Fakenamen. Der Fakename sorgt dafür, dass du rausgeschmissen wirst. Ein Klassiker, ja, quasi sowas wie das Wiener Schnitzel unter den Gegenargumenten zu “wer nix falsches tut, braucht nix zu verbergen”. Mit Panade und Zitrone. Selber schuld, wenn deine bloße Existenzweise für die soziale Struktur der Plattform-Mehrheit ungeeignet ist. Facebook kann sich seine putzigen 88 Optionen dein Geschlecht anzugeben mit einer gehörigen Portion Emojis, damit’s auch ein bisserl schmerzt, in seine tighte ToS schieben. Guckense halt weg, gibt’s nix zu sehen, Profil ist weg und dank der lustigen ausschnittweisen Anzeigen von Postings in der Timeline merkt’s noch nicht mal wer. Wie vom Erdboden verschluckt. Nadia Drake, Laurie Penny, Michael Anti, Feminista Jones, Salman Rushdie – um ein paar bekannte Namen zu nennen, die von Facebook gebannt wurden. Nicht leicht, sie zu finden, diese Geschichten. Wie ein blinder Fleck, das wachsende Nichts in der unendlichen Geschichte. Grausam, nicht mal so ein Abgang wie Artax in den Sümpfen der Traurigkeit ist dir da gegönnt. Keine auf der Wange zitternd glitzernde Träne, keine winkenden Taschentücher, kein Glamour. Eher so Kafka. Noch eine Pointe an der Sache: Fake für wen? Dein Fakename ist im sozialen Sinne eh gar keiner, weil dein Bekanntenkreis genau weiß, wer du bist. Aber die leidige Anzeigenkundschaft. Für die ist es halt ein Fake, da kommt Facebook nicht drumrum und kann’s doch nicht mal laut aussprechen, denn das könnte ja User vergraulen. Mit so einem Fake kann man sich halt nichts kaufen. Da braucht es halt Profile wie deutsche Reihenhäuser. Mit Jägerzaun, Hund, zwei Kindern, Till Schweiger und Oktoberfest. Dann biste safe. Wie DeutschlandTM halt. Ja, liebe Flüchtlinge, willkommen, aber lernt erst mal Kehrwoche, Karneval und Knödel schätzen, ze germin KKK quasi, sonst wird das nix mit uns.

Aber worauf wollte ich eigentlich raus? Ach ja, auf so ein semi-resigniertes “Ob es eine Imagekampagne für ein deutsches Identitätsgefühl ist – das man schon will, aber halt nicht gleich so wie jetzt diese Neonazis abgehen – oder ob es um den Lack vom humanitären Facebookselbstbildnis geht, letztlich: Wenn plötzlich mehr Hetze gelöscht werden sollte, dann nur, weil doch niemand seine Werbung neben Faschosprüchen stehen haben will.”

#Merkelstreichelt – Regieren ex negativo und wer shitstormt hier wen?

“Valar Merkelis!”*
Günter Hack

Die Bundeskanzlerin und das Flüchtlingsmädchen

Der Vorfall ist inzwischen bekannt: Merkel ging unter dem Titel “Gut leben in Deutschland” auf PR-Tour. Inszenierter Bürgerkontakt als Charemoffensive oder sowas war wohl der Plan. Das ging nach hinten los: “Kanzlerin Angela Merkel wollte das ‘wirkliche Leben’ sehen. Jetzt hat sie es gesehen. Und es schlug ihr mit der Faust ins Gesicht,” schreibt Viktoria Morasch (taz). Der Konfrontation mit einer ganz offen über ihre Situation redenden jungen Asylsuchenden und ihren Tränen hatte Merkel nichts Effektives/Emotionales entgegenzusetzen. Als eine kritische Hashtag-Aktion #Merkelstreichelt aufbrandet, realisiert die Presse die Relevanz und reagiert mit zahlreichen Artikeln, und auch etliche Blogs schreiben darüber. Ich bin endlich dazu gekommen, mir einiges davon durchzulesen und um mir einen besseren Überblick zu schaffen, hab ich mal thematisch zu einer Art kommentierten Presseschau sortiert:

Was vernichtend ausfiel, ist mal wieder die Berichterstattung über die Hashtag-Aktion, durch die der Vorfall überhaupt erst zu einem Thema für die Presse wurde. Deswegen als zweiter – vielleicht für manche sogar interessanterer –  Teil dies Blogposts eine Medienkritik: Wer shitstormt hier wen?

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Die ehrliche Kanzlerin

Manche blenden den Punkt Flüchtlingsproblematik und die Inszeniertheit der kompletten öffentlichen Figur Merkel aus, und versuchen sie als die ehrliche, authentische Kanzlerin ohne Schnickschnack in Szene zu setzen. Nico Fried (SZ) verteidigt Merkel: Nur weil sie Gefühle nicht politisch instrumentalisieren will, wirke sie meist “cool”, aber manchmal eben auch “kalt”. Er verzettelt sich beim Buckeln vor ihr darin, dass genau dieser Vorfall im Rahmen einer PR-Kampagne der Kanzlerin stattfand, die Emotionalisierung einsetzt, um sie als bürgernahe Politikerin zu inszenieren. Auch Michael Hanfeld (FAZ) betreibt Hofberichtserstattung: Böser hämischer Internet-Mob auf der einen Seite. Super ehrliche Kanzlerin, die an dieser Situation nur gescheitert ist, “weil sie die Kunst der Verstellung nicht so gut beherrscht wie viele andere ihrer Zunft.” Die Ehrlichkeit bestehe darin, dass sie sagt wie’s ist: “Deutschland kann auf Dauer nicht alle Flüchtlinge aufnehmen.”

Die Krise der Flüchtlingspolitik

Diese Aussage Merkels, dass “nämlich Deutschland nicht in der Lage sei, alle Flüchtlinge aufzunehmen, die es im Nahen Osten gebe”, entlarvt Thorsten Denkler (SZ) als unangebrachte Stimmungsmache gegen selbige: “Zum einen: Das verlangt auch niemand. Zum anderen: Deutschland leistet längst nicht so viel wie andere EU-Staaten.” Wenn der Artikel auch etwas arg auf der wirtschaftlichen Nützlichkeit von Flüchtlingen herumreitet, räumt er doch auch mit einigen falschen Klischees auf. Dass zweiteres bitter nötig ist und ersteres gefährlich, sollte in Zeiten, in denen CDU/CSU Politiker darauf, dass fast kein Tag mehr ohne Anschläge auf Flüchtlingsheime vergeht, so reagieren, dass sie in Sachen Flüchtlingspolitik Einsparungen fordern.

Vor der “Nützlichkeit” als Argument warnt auch Frida Thurm (Zeit), die eine von mehreren ist, die den Vorfall als misslungenen Realitätscheck für Merkels Flüchtlingspolitik beschreiben: “Da steckt das eigentliche Problem an Merkels Bürgerdialog: Das Regierungsprogramm wird konfrontiert mit der Realität. Da wird schnell klar, dass die Unterscheidung in ‘gute’ und ‘schlechte’ Ausländer, wie die Bundesregierung sie gerade mit ihrem neuen Asylgesetz festgeschrieben hat, nichts taugt.”

Annett Meiritz (Spiegel) stellt die Brutalität der deutschen Flüchtlingspolitik noch deutlicher heraus: “Asylanträge würden künftig schneller bearbeitet, betonte sie [Merkel]. Und die einzige Antwort, die wir haben, ist: Bloß nicht, dass es so lange dauert”, sagte sie wörtlich. Wohlgemerkt: Die einzige Antwort. Das ist zu wenig, und kaum eine Szene zeigt die Schwächen und Widersprüche deutscher Flüchtlingspolitik so klar und verdichtet wie das Gespräch zwischen der Regierungschefin und der Rostocker Schülerin.”

Désirée Linde (Handelsblatt) erweitert den Symbolgehalt des Vorfalls für Flüchtlingspolitik über Deutschland hinaus: “Wie hilflos Europa – und wenn man es größer betrachtet – die ganze reiche Nordhalbkugel angesichts der Flüchtlingsströme ist, die Krisen, Kriege, Hunger und Elend produzieren. Der Kontrast zwischen Politik und Realität wurde selten deutlicher.”

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Den Vorfall als Konfrontation mit der Realität der GroKo-Flüchtlingspolitik zu verstehen, bedeutet auch zu erkennen, wie sehr sich diese mit rechten Gruppierungen wie PEGIDA und AfD deckt. Regieren ex negativo: Merkel hat die Situation NICHT zu einem Appell gegen Fremdenfeindlichkeit genutzt, obwohl in Deutschland nun inzwischen schon alle paar Tage Unterkünfte Asylsuchender attackiert werden, obwohl ganze Dörfer in rechter Hand sind, obwohl sich dieser Vorfall, die Symbolkraft noch unterstreichend in Rostock abspielte. Mit diesem verantwortungslosen Schweigen macht sie sich Kanzlerin, die offener für die sogenannten besorgten Bürger als für humanitäre Hilfe ist.

Die Junge Welt lobt dementsprechend sarkastisch die Ehrlichkeit der Kanzlerin: “Das muss man Merkel lassen. An ihrer Politik ist deutlich ablesbar, dass sie Flüchtlinge lieber im Krieg sterben, in Lagern dahinvegetieren oder im Mittelmeer ertrinken lassen würde. Was die Kanzlerin in ganze Sätze fasst, entspricht exakt den Parolen, die der rassistische Mob 1992 beim Pogrom im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen brüllte. Ihr Kanonenboot ist voll.”

Rassismus, Extremismus der Mitte, er nährt sich auch davon, dass er unter dem Deckmäntelchen der Binnenpluralität in Nachrichtenmedien Raum gewährt bekommt. Da hilft auch kein rassismuskritischer Artikel, wenn dieser nur als die andere Seite zweier gleichberechtigt anerkannter ‘Meinungen’ Raum findet. Rassismus und andere Diskrimnierungen sind keine Meinungen und die Teile der Presse, die dies nicht (an)erkennen, machen sich mitschuldig an der Stärkung dieser Positionen. Ebenso wie jede*r einzelne Journalist*in, die nicht kritisch den Mund aufmachen, wenn dies in dem Blatt geschieht, für das sie selbst arbeiten. Um noch ein wenig mehr Licht auf das Wuchern fremdenfeindlicher Haltungen in Deutschland zu werfen, hier einfach mal kurz in meine Twitter-Timeline gegriffen und drei Blogposts zum Thema herausgefischt, alle von gestern: “Sterbende Dörfer fest in rechter Hand”, “Der hässliche Deutsche”, “Die Fremdenfeindlichkeit sitzt in der Mitte der Gesellschaft”.

Was ich mir aktuell von einer der großen Zeitungen wünschen würde, schon mal allein gegen das Abstumpfen und das Verlieren des Überblicks: So etwas wie das The Counted Projekt vom Guardian nur über Angriffe auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte in Deutschland. Wer ernsthaft glaubt, es gäbe dafür nicht genug Stoff, dem oder der empfehle ich z.B. Robert Andreasch auf Twitter zu folgen.

Der PR-Fail

Ein weiterer Fokus der bei Berichten über den #merkelstreichelt Vorfall Beachtung fand, war ihn als bloße Panne in der PR-Inszenierung der Kanzlerin zu lesen: Nicht ihre Politik ist das Problem, sondern die Inszenierung dieser Politik lief nicht rund. Der Postillon bringt das satirisch auf den Punkt: “Merkels Bodyguard gefeuert, weil er weinendes Flüchtlingsmädchen nicht rechtzeitig entfernt hat.” Das ist so entsetzlich treffend, weil es so nah an der Realität ist. Eine Politik, deren Vorgehensweise von ihrer Unsichtbarkeit lebt, von ihrem Verbergen in der Inszenierung, wurde in diesem Vorfall einen Moment lang sichtbar. Zutiefst unsoziale Strategien werden unsichtbar gemacht oder mit einem Twist als “unvermeidbar” verkauft, um sie besser durchsetzen zu könnenWie es in Der Welt Robin Alexander (dessen tumbes Treten gegen Kritik an der derzeitigen Flüchtlingspolitik als bloßen “moralischen Distinktionsgewinn des politisch Korrekten” zwar nicht von sehr viel sozialer Tiefe zeugt, aber der diese Marketing-Ebene) gut beschreibt: “Sie wird als patente Problemlöserin inszeniert, ja, als wandelnder Sachzwang. Der Euro muss gerettet werden, weil es ‘alternativlos’ ist. Griechenland muss dies und jenes tun, weil anonyme Institutionen, die der Bürger nicht kennt, und Regeln, die er nicht versteht, das eben so vorschreiben. Dieser gelebte Bürokratismus beruhigt die Deutschen, die Zeiten sind stürmisch genug.

Nebenbei gesagt: Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie Leute aus der PR-Ecke feinteilig wie Literatur/Kunst-Theoretiker*innen sprachliche und bildliche Elemente und Daten interpretieren. Traurig, weil sie eben nicht Kunstwerke untersuchen, sondern menschliches Verhalten auf Manipulierbarkeit hin. In dieser Denke wird “Menschlichkeit” zur bloßen darstellerischen Leistung, wie hier in einer Analyse des Vorfalls durch einen Persönlichkeits-Coach auf Meedia.

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Regieren ex negativo – Politische Inszenierung als politische Praxis

Was lerne ich daraus? Eine Politik des Marketing heißt heute nicht: eine strahlende, charismatische Figur mit Zukunftsvisionen aufbauen, genauso wie Werbung heute nicht mehr in Form eines HB-Männchens funktioniert. Politik des Marketing heißt heute, um eine schöne Zeile Nils Markwardts (Zeit) aufzugreifen: “eine Form der Gouvernementalität, die den demokratischen Streit durch die geräuschlose Deaktivierung von Alternativen ersetzt.” Könnte auch von Mark Fisher sein.

Wenn Politik immer mehr die Methoden von Marketing einsetzt, zum bloßen Machterhalt – ab wann entfernt sie sich zu weit von ihrer repräsentativen Aufgabe und von der Demokratie? Und welche Instanz zieht die Grenze, oder ist überhaupt noch fähig, eine Grenze zu ziehen, wenn es Teil der Praxis ist, die Mechanik, die Unmenschlichkeit der Zustände für manche, unsichtbar zu halten? Merkels fehlende Bodenhaftung kritisierend, schreibt Michael @mspr0 Seemann: “Sie ist außer Stande noch außerhalb der Kategorien des politischen Theaters zu funktionieren oder zu denken. Wie soll so eine Frau, die sich so sehr von den Lebensrealitäten der Menschen entfernt hat, diese Menschen noch regieren?” Gleichzeitig hält er aber auch fest, warum es so weitergehen dürfte: “Machen wir uns nichts vor, die meisten von uns leben nicht schlecht damit.” Wenn das Gros der Bevölkerung nur am Erhalten des Status Quo interessiert ist, und auf alle, denen es schlechter geht – pardon my language – scheißt, dann hat dieses Land genau die Regierung, die es verdient. Joa, dann haben wir eine repräsentative Demokratie par excellence. Dass dem so sein könnte, dafür ist auch der Rechtsruck der Mitte ein warnendes Signal und mein “It’s time to be afraid of Germany again” nehme ich auch nach ein paar Tagen Gemütsabkühlen nicht zurück.

Christopher Lesko (Meedia) schreibt: “Niemand ist in der heutigen Zeit auf seinem langen, zähen und schmutzigen Weg an die politische Macht zentraler Steuerungsfunktionen gelangt, weil er herzlich, beziehungsvoll und empathisch war. Wäre es so, er oder sie hätte nicht lange in der Rolle überlebt. […] Berührbarkeit jedenfalls gehört nicht zu akzeptierten Werten des politischen Systems, im Gegenteil: Sie hält auf, reduziert subjektiv erforderliche Distanz und schränkt kühle, rationale Steuerungs- und Handlungsfähigkeit ein. Berührbarkeit, so also das System, macht potentiell erfolglos.” Zur Kritik am System denkt Lesko (Chef der Leadership Academy Berlin) das nicht weiter: “Berührbarkeit ist Luxus”, so ist das halt. Hier ist es wieder, das Unvermeidbare. “Es ist, wie es ist”, wie schon die Böhsen Onkelz sangen.

Leonard Novy (Carta) wehrt sich dagegen. Er weist auf Merkels Schwäche in Sachen normativer Argumentation hin, Carolin Emcke zur rhetorischen Weichgespültheit von Merkels Sprache zitierend, in der “Positionen … gar nicht als Positionen, sondern gleichsam als dezisionistische Notwendigkeiten beschrieben“ werden. Sein Resumée: “Merkel fährt gut damit, doch unserer politischen Kultur schadet es. Chantal Mouffe beschrieb diese technokratisch-konsensorientierten Politikansatz als ‘Negation des ‘Politischen’’. Sie beraubt eine Gesellschaft der Offenheit der Wege, die sie einschlagen kann, und der Berechtigung des Konflikts darüber. Demokratie ist mehr als die Exekution von Sachzwängen.” Und er hat einen Hoffnungsschimmer parat: “Die Leute allein bei kurzfristigem Interessenkalkül, Pragmatismus oder ihrem Bedürfnis nach Sicherheit abzuholen, wird 2017 kaum funktionieren. Das ist Merkels Terrain. Es gilt, demokratiepolitisch und politisch-moralisch Alternativen aufzuzeigen, wieder „ins Offene“ (Carolin Emcke) zu denken und bei den Menschen so ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass eine andere Politik, eine andere Sprache und auch ein anderer Umgang mit palästinensischen Flüchtlingsmädchen möglich ist.” Danke dafür, Leonard Novy.

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#Merkelstreichelt – wer shitstormed hier wen?

In einem ist die Presse sich mal wieder ziemlich einig: in ihrer Meinung zu #merkelstreichelt, der Hashtag Aktion. Nur ein paar Beispiele (als Listicle, aus Gründen):

  • Thorsten Denker (SZ): “Es ist leicht, jetzt auf Bundeskanzlerin Angela Merkel einzudreschen. In den sozialen Medien ist die Häme groß,”
  •  Michael Hanfeld (FAZ): die “Pöbler, die “Shitstormer”, die “empörten” “Online-Twitterer” (sic),
  • Christopher Lesko (Meedia): “reagierten dabei die Kommentatoren auch nicht anders als Merkel selbst Reem gegenüber: Sie ignorierten komplexere Wirklichkeiten und ihre Gegenabhängigkeiten und sprangen emotional auf einen kleinen Ausschnitt. Nichts anderes hat Merkel in der Situation getan. Vereinfacht ausgedrückt, behandelten die Kommentare Angela Merkel letztlich so, wie sie es Merkel im Umgang mit der jungen Libanesin vorwarfen,”
  • und auch Viktoria Morasch interpretiert die Hashtag-Aktion als “Deutschland streichelt mit”, letztlich den guten alten Slacktivismus implizierend.

Schon interessant, angesichts dessen, dass ohne #merkelstreichelt wahrscheinlich der Vorfall gar kein großes Medienecho erhalten hätte. Insofern war die Hashtag-Aktion nämlich erfolgreich: Es wurde die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit darauf gelenkt, und das ist Funktion einer solchen Aktion im Gefüge von Möglichkeiten bürgerlichen Protestes. Leider ist die Presseaktion, die folgt, immer die gleiche: Es wird darüber berichtet, weil es einen Hashtag gab. Bei der Berichterstattung taucht dieser aber nur noch als Randnotiz von der dummen trollenden Masse auf, die nicht ernstzunehmen sei. Immer wieder.

Die Stimmen der Menschen auf Social Media einerseits in ihrer Signalwirkung für Relevanz zu nutzen, sie für Inhalte zu melken, aber andererseits diese Menge von Menschen, die auf Twitter ihre Kritik äußern, die weder Ausbildung noch Podium und Reichweite von Medienleuten haben, mit solch einer, ja, Schadenfreude, Häme, mit soviel Hass, mit so einem andauernden Shitstorm von Negativpresse runterzurreden, kleinzuhalten – darin steht eine unglaubliche Arroganz diesen Stimmen gegenüber, die ja auch die Leserschaft, das eigene Publikum darstellen, dass es ein Armutszeugnis für den Journalismus ist. Von sozialer Medienkompetenz (in beiderlei Wortsinn) keine Spur.

In Kurzfassung: Natürlich werden bei einer Hashtag-Aktion keine komplexen Reaktionen gezeigt. Das liegt schon allein im Kontext begründet. Ich erinnere mich an ein Foto von einer Londoner Studentendemo von vor ein paar, auf dem eine Studentin neben einem Schild mit einem knappen politischen Slogan eines hochhielt, auf dem sinngemäß sowas stand wie: “Natürlich hab ich eine wesentlich komplexere Meinung dazu, aber die hat nicht auf’s Schild gepasst.” Hashtag-Aktionen sind sehr nahe an so einer Demo-Situation, spontane Proteste oder Reaktionen, sprachlich in ihrer Spontaneität nahe an mündlicher Kultur, und in Bewusstsein der Gruppenwirksamkeit. Es ist nicht das Medium für tiefe kritische Analyse, natürlich (auch das in beiderlei Wortsinn) wird hier vereinfacht.

Und, um auf Christopher Leskos “Berührbarkeit als Luxus” zurückzukommen: Emotionalität gehört durchaus auch dazu, schließlich wird aus dem Überschwang der spontanen Reaktion und des Gefühls der Vernetzung mit anderen heraus gepostet. Berührbarkeit, also: emotional zu reagieren, das ist für Mächtige, die zum Erhalt und Erreichen ihrer Position auf sie verzichten müssen, vielleicht Luxus. Die Machtlosen jedoch, die keine große Plattform für ihre Stimme haben – sie haben genug davon. Wenigstens davon. Nicht umsonst werden Mitgefühl und Solidarität, soziale Werte, immer wieder aggressiv als naiv und romantisch abgekanzelt. Letztlich ist das eine gute Portion “Sozialneid” mal andersrum verstanden: Der Neid auf die Common People, die einfach drauflos socializen können, auch mal platt und ausfallend, die sich auch mal danebenbenehmen können, weil sie nicht so viel zu verlieren haben.

Merkel wurde unter #merkelstreichelt stellvertretend als Repräsentantin einer politisch rücksichtslosen und nach unten tretenden politischen Haltung kritisiert, die in der Situation mit dem Flüchtlingsmädchen einfach nur einen bildlichen Ausdruck fand, Stichwort Meme-Kultur: die kreative grassroots Social Web-Bildsprache für soziale und politische Kritik. Tiefschwarzer Humor in the face of alles Übel der Welt. Das gestreichelte Flüchtlingsmädchen wird in der Bilder- und Geschichtenlogik der Memes zur Figur, die für alles steht, wo deutsche Politik zu kalt und egoistisch handelt, ob Flüchtlingspolitik oder Griechenland. Natürlich gab es schnell eine Tsipras streichelnde Merkel, die von Rechten angelegte (und inzwischen gelöschte) Google-Map von Flüchtlingsheimen machte ex-de:Bug-er @Bleed zum Streichelzoo Deutschland, Alexander @Nabertronic Naber (Publikative/Jungle World/Vice) zückte ein passendes Adorno und Horkheimer Zitat, und selbst ein Evgeny Morozov konnte sich den Sarkasmus nicht verkneifen: “This week has been fantastic for German public diplomacy. All that was missing was Merkel making refugee children cry.”

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Auch der Zeitpunkt spielte hier eine Rolle: Der Hashtag-Protest wäre vielleicht nicht so groß geworden, wenn nicht gerade die Kanzlerinnen-PR-Maschine durch dichte zeitliche Aufeinanderfolge von Griechenland-Schock und dem (natürlich!) unkritischen LeFloid-Interview eine gewisse Dissonanz erzeugt hätte. Angesichts politischen Verhaltens, mit dem viele nicht einverstanden waren, hat sich im Netz spürbar ein Gefühl der Ohnmacht, der Machtlosigkeit verbreitet, das in #merkelstreichelt ein symbolisches Ventil fand. Die Ablehnung der Ehe für alle waberte noch als Restwutwölkchen in den Hinterköpfen herum, und die Quasi-Domestizierung vom ‘jungen wilden’ YouTuber LeFloid zur Regierungs-PR folgte so schnell auf das paternalistische, ‘unmoralische Angebot’ Schäubles an Griechenland, das Merkel auch noch als “nie gekannte europäische Solidarität” zu verkaufen versuchte, dass die mit der Situation mit dem Flüchtlingsmädchen entstandene Lücke in Merkels sonst so effizienter PR-Gummimauer selbstverständlich als memeförmiges Ventil genutzt wurde. Dass dahinter eher Platinen und Kontakte zum Vorschein kamen als Fleisch und Blut (mehr Data oder mehr Lore, was meint ihr?), bestätigt nur, worauf unser politisches System Wert legt und was ich weiter vorne im Text schon beschrieb.

Zum Schluss noch mal in aller Deutlichkeit: Ein #Hashtag-Storm ist nicht anhand wörtlich genommener Tweet-Inhalte zu analysieren, genauso wenig wie sich anhand wörtlich-genommener einzelner Slogans auf Demo-Schildern der ganze Hintergrund einer Demo auf der Straße verstehen lässt. Oder for the media people: Eine Zeitung ist mehr als ihre Schlagzeilen und ihr solltet eure Leserschaft respektieren statt sie runterzumobben – lasst das Wort Shitstorm das nächste Mal doch einfach stecken und fangt lieber das analysieren und recherchieren an und vergesst den Respekt vor der Quelle nicht.

Ein Social Media Storm ist Ausdruck eines Smart Mob, eines Schwarms von Meinungen, die dem Medium, der Plattform und ihrer Struktur und ihren Regeln gemäß zugespitzt und vereinfacht und auf eine Pointe hin konstruiert sind: Social Media sind so angelegt, dass nur Virales zu einer breiteren Masse durchkommt. Darauf gehen manche User (genauso wie manche Newsmedien) bewusster, manche intuitiver ein, manche gewitzt und stilvoll, manche plump und daneben, aber alle haben sie verstanden: wer sich nicht den viralen Regeln der Plattform anpasst, bleibt unsichtbar und ungehört. Eigentlich sollten Journalist*nnen das am besten verstehen. Ich sag nur: bescheuerte Clickbait-Schlagzeilen, allwöchentlich durch’s Dorf gejagte “Zukunft der Medien ist WhatsApp/Snapchat/Periscope/AppleWatch” Panik oder mit fast religiöser Andacht verfolgte Social Media-Tipps und -Seminare, die längst zu einer eigenen Branche gewuchert sind.

 

*)  Das eingangs gefallene Günter Hack-Zitat für Nichtguckende von Game Of Thrones, der Serie (die vor blutiger Gewalt- und Willkürherrschaft nur so strotzt): Valar morghulis (“All men must die!”) ist dort ein Gruß, dem traditionell “Valar dohaeris” (“All men must serve!”) erwidert wird.

Social Photography: Keine Knappheit, keine Gatekeeper

noscarcitynomasters

(this text in english)

Nur ein paar Gedanken. Die NSA hat uns unfreiweillig das Credo unserer Zeit gegeben, den Satz “Collect it all!” Wir knipsen vor uns hin, halten Momente in Bildern fest, speichern zahllose Fotos und Videos auf unseren Festplatten und Smartphones, wir fügen immer mehr zu unseren endlos wachsenden Bilderarchiven auf anderer Leute Festplatten (Clouds und sozialen Plattformen) hinzu. Billige Speichermöglichkeiten, digitale Kameras auf demselben Phone auf dem du auch deine gratis Social Sharing Apps hast, halbwegs erschwingliche mobile Verbindungen in vielen Ländern – das alles hat und verändert immer noch tiefgreifend die kulturelle Bedeutung und Funktion von Photographie. Ein Punkt ist, dass dadurch Dokumentation zuetwas geworden ist, bei dem wir jegliches Gefühl für Knappheit verloren haben. Der Wired Editor Joe Brown plädiert sogar für diesen Ethos: “Ich habe einen Pakt mit mir geschlossen: Ich lösche Fotos nicht mehr. Ich hab mir das iPhone mit der größten Kapazität geholt, meinen Dropbox-Account upgegradet, und jedes Bild hochgeladen, dass ich finden konnte.” Sein Ziel? Eine “ehrliche Aufnahme meines Lebens.” Das einzelne Foto in seiner Funktion als Repräsentant für etwas größeres genügt nicht mehr. Für jemanden wie Joe Brown ist das einzelne Foto wie einer in einer Million Frames, aus denen der Film seines Lebens zusammengesetzt werden könnnte.

ENDLOSES VERLANGEN NACH MENSCHLICHER INTERAKTION BRINGT ENDLOSE ARCHIVE UNSERER LEBEN HERVOR

Ich teile die Ansicht, dass wir uns an der Kippe von Archiven zu Flüchtigkeit befinden, was unsere “sozial” geteilten Medien anbelangt, weil es bei ihnen für viele inzwischen mehr um Kommunikation als um Dokumentation geht. Bei manchen sogar um Teilnahme, nehm nur die #sleepingsquad Kids, die sich einander gegenseitig auf YouNow beim Schlafen livestreamen. Wie so viele andere Besitzer von sozialen Plattformen, die ihre Produkte nicht ganz verstehen, erklärt der YouNow Macher #sleepingsquad mit Internet- und Social Media-Sucht, aber Katie Notopoulos bringt es in ihrem Text über das Phänomen treffend auf den Punkt: “Das schmerzhafte Verlangen mit menschlicher Interaktion durch die Langeweile des Alltags zu schneiden ist die treibende Kraft von allem im Internet.” Oder wie Nathan Jurgenson nicht müde wird zu erklären: Wir sind nicht süchtig nach Smartphones, wir sind süchtig nach einander. Und um ehrlich zu sein, wenn ich heute ein Teenager wäre, würde ich auch 24 Stunden am Tag mit meinen Freund*innen powerlivestreamen. Ich erinnere mich sehr gut darn, wie ich dauernd mit meinen Freund*innen in Kontakt sein wollte. Das alte Klischee der Jugendlichen, die, nachdem sie gerade noch auf ihrem Heimweg von der Schule mit ihren Freund*innen gequatscht haben, als erstes wenn sie heimkommen sich gegenseitig anrufen um weiter zu reden? So war ich, jeden einzelnen Tag.

Aber derzeit sind von den großen öffentlichen sozialen Plattformen nicht mal die, die sich etwas mündlicher anfühlen, wie Twitter zum Beispiel, ephemeral (also: flüchtig, die Nachrichten und Bilder wieder löschend). Derzeit wachsen unsere Archive. Unser endloses Verlangen nach menschlicher Interaktion bringt endlose Archive unserer Leben hervor. Wenn wir uns dauernd dessen bewusst wären, was wir vor Jahren gepostet haben und was online immer noch sichtbar ist, dass es alle finden können, durch Suchfunktion oder imdem sie sich ihren Weg in unsere Vergangenheit infinite-scrollen können – es würde uns verrückt machen und wir hätten sofort das Gefühl das erklären zu müssen, dass wir ganz anders waren, damals. Wir würden einen Kontext geben wollen, unsere Veränderung erkären wollen. Die Faux-Ephemeralität, die Fake-Flüchtigkeit des Timeline Streams auf Social Networks sind ein Mittel, damit uns diese Archive nicht überwältigen. Du postest ein Foto, ein paar Leute reagieren darauf oder nicht, das Foto verschwindet aus deinem Blick, wenn die nächsten Dinge gepostet werden, das Foto ist vergessen. Dein Fokus ist (halbvolles Glas:) die menschlichen Interaktionen, die es erzeugt / (halbleeres Glas:) die metrische Belohnung, die dafür sorgt, dass du mit dem Wunsch nach mehr immer wieder zurückkommst – yeah, 5 neues Likes oder Favs! Dein Fokus wird weggestupst von dem, was du dokumentiert hast, vom Archiv, das du baust. Sogar Fotografie-Plattformen wie Flickr oder Google Photos haven den Infinite-Scroll Stream und immer mehr “social” Elemente (teilen, kommentieren, Liken) gewählt um unsere Inhalte anzuzeigen.

Es gibt da eine Dissonanz: Viel der heutigen Dokumentation von Alltagsleben resultiert aus dem Wunsch nach kurzzeitiger sozialer Interaktion, aber wächst zu riesigen Archiven. Durchsuchbaren Archiven. Archiven, die nicht nur anhand von Tags, die du für deine Bilder ausgewählt hast, etwas finden: “Intelligente”, lernende Suchfunktionen helfen dir auch dabei Bilder durch Gesichtserkennung zu finden. Du kannst nach Fotos von jemandem suchen, indem du ein Bild ihres Gesichts hochlädst. Du kannst “Katze” tippen und wirst Bilder von Katzen gezeigt bekommen. (Okay, und von Dingen die ungefähr katzenförmig sind, denn so gut funktioniert es auch wieder noch nicht. Je mehr Input diese Mechanismen bekommen, desto besser werden sie aber, und wir füttern sie genau so gut wie unsere Katzen.) Sogar Mapping ist möglich: Dieses Suchding soll sogar Orte wiedererkennen, sogar von Bildern, die nicht geo-getagged sind. Diese riesigen Archive von Amateurfotografie sind zu wundervollen und faszinierenden Galerien geworden und eine wichtige Quelle für Fotografie. Sogar wenn sie nicht zum Zweck einer bleibenden Dokumentation unserer Leben gemacht wurden, werden viele dieser Bilder genau dafür verwendet. Und dieses Mosaik von Billionen von Fotos ergibt einen tieferen Eindruck unserer Alltagsleben, als es Straßenfotograf*innen je festhalten könnten.

Wenn Bloggen die Demokratisierung von Veröffentlichung war, hat Social Media uns Säkularisierung gebracht

Als vor Jahren Bloggen zu einem größeren Phänomen wurde, reagierten viele Leute zuerst, als sei es Blasphemie, dass Leute einfach so ihre Meinungen, ihr Wissen oder ihre Alltagserfahrungen veröffentlichten. Sogar letztes Jahr noch bekam ich einen Blogkommentar in Richtung “Was qualifiziert dich denn überhaupt dazu, das zu veröffentlichen?”, ein Versuch meine Stimme abzuwürgen. Als soziale Netzwerke den Mainstream erreichten hörtest du ähnliche Stimmen die Banalität der Inhalte anzukreiden, die Leute teilten: Wie kannst du es wagen, öffentlich so banale Dinge, wie deine Mahlzeit zu dokumentieren? Was hat dein unscharfes Bild von einem Sonnenuntergang, das nicht schon in den exitierenden Millionen von Sonnuntergangsbildern zu sehen wäre? Glaubst du, du wärst so was Besonderes, dass irgendwer dein Selfie sehen wollte? “Banalität” geht aber am Punkt vorbei. Öffentlich Fotos zu posten drehte sich um etwas Neues: Es geht nicht darum, ein Objekt so festzuhalten, dass es für alle dieser Objekte stehen könnte. Es geht nicht darum etwas besonders Wichtiges für die Allgemeinheit und Nachwelt festzuhalten. Es kann auch um all diese Dinge gehen, aber der wichtigste Faktor für die auf sozialen Netzwerken geteilten Fotos ist ihr sozialer Wert. Kommunikation, und oft: Kommunikation von Emotion. Was für die eine Person ein langweiliges Foto einer Mahlzeit ist, kann für eine andere ein liebevoller Blick darein sein, was ein Freund angesichts dessen empfindet. In einem solchen Foto einer frisch zubereiteten Mahlzeit dreht es sich nicht nur um diese, sondern es kommuniziert das glückliche Gefühl darüber, dass die Zubereitung gelungen ist, es ist ein Weg, die Vorfreude aufs Verzehren des Essens zu kommunizieren. #feelings. Eine Lektion, die uns das soziale Netz erteilt hat, ist: Nur weil etwas für dich nicht wichtig ist, bedeutet noch lange nicht, dass es nicht relevant für jemand anders ist, und das aus Gründen, die du nicht kennst.

Wenn Bloggen die Demokratisierung von Veröffentlichung war, hat Social Media uns Säkularisierung gebracht, und Fotos sind ein wichtiges Beispiel dafür. Die Aura der Fotografie ist ganz schön verwuschelt geworden durch ihren starken Gebrauch auf sozialen Plattformen. Die Hierarchie der Gatekeeper, die darüber entschieden, welche Bilder Öffentlichkeit verdienen, welche Bilder von Wert sind, an ihr wurde gerüttelt. Teile der Presse wundern sich immer noch, warum manchmal ein Katzenbild wichtiger ist als ihr gut gemachter aktuellster Beitrag über ernstzunehmende Nachrichten. Andere Teile der Presse und natürlich Marketing profitieren von dem Wissen, das Inhalte, die Gefühle erzeugen, “funktionieren”. Ihre Bilder müssen auf sozialen Plattformen mit den persönlichen Inhalten der Leute konkurrieren, und so zögern sie nicht auszuschlachten, was “funktioniert.” (Ich muss jetzt mal mit diesem Blogpost zu einem Ende kommen, weil mir die “”s ausgehen.) Die Idee, dass nur Bilder die einen objektivierbaren Wert haben veröffentlich werden sollten, ist welk geworden. Die ganze Idee von objektivierbarem Wert ist welk geworden.

Wenn ein professioneller Dokumentator keine ganz besondere Schneeflocke von Künstler mehr ist, weil alle eh alles dokumentieren, wenn wir endlose Archive von aller Fotos haben, die dauernd besser durchsuchbarer werden – driften wir auf ein neues Verständnis von Dokumentation zu? Schwarmdokumentation? Ich frage mich, in welchen Weisen soziale Plattformen noch veröndern, wie wir Fotografie in Dokumentation, und in Kunst, und in Straßenfotografie, die ein bisschen von beidem ist, sehen. ich noch ein paar Tage frei habe, wird es mit diesem wilden Herumtheoretisieren hoffentlich morgen weitergehen. Wenn ich nicht zu verkatert bin. Eine Empfehlung, wenn du heute in Nürnberg weilen solltest: Beat Thang mit DJ Slow als DJ Gast.