Please leave Selfies alone: Was die Krise des Journalismus mit der Logik der PR-Gesellschaft zu tun hat

Hans-Jürgen Arlt interpretiert auf carta das Selfie als Ausdruck eines Gesellschaftszustands, der “PR-Society”, die geprägt ist vom Streben nach Erfolg durch Selbstdarstellung statt Leistung. In einem Gedankensprung interpretiert er Journalismus als Gegensatz zu Selfies, weil dieser sich nicht wie diese nach den Wünschen der Dargestellten richte, “sondern stattdessen unabhängig an Kriterien der Realitätsnähe und kollektiver Relevanz” orientiere. Nun, da Selfies gar nicht die Ansprüche von Journalismus haben, ist es natürlich leicht, sie ihnen abzusprechen und sie darüber zu verdammen. Aber um mal spaßeshalber mitzuspielen: Ist das Kritisierte überhaupt spezifisch für das Problem?

Ja, Selfies sind inszeniert. Ja, sie greifen nur einen Ausschnitt aus einem Geschehen heraus, der uns in dem Licht darstehen lässt, das wir uns aussuchen. Das ist aber nicht spezifisch für Selfies, sondern gilt zum Beispiel auch für eine Anekdote, die wir über uns erzählen: Auch da beschränken wir uns auf einen Ausschnitt einer Situation und lassen gern mal Sachen weg, die uns peinlich aussehen lassen könnten.

Journalismus wiederum ist ebenfalls nicht unabhängig und auch er zeigt oft nur eine Perspektive, und das nicht mal erst dort, wo er kommentierend wird, sondern bereits durch Themenauswahl oder dadurch, was und wer in einem einzelnen Artikel erwähnt wird und was weggelassen wird.

Es ist im Journalismus gängige Praxis, das als Objektivität auszugeben und lange hat es auch halbwegs funktioniert: Indem eine weitverbreitete Perspektive eingenommen wird, wirkt sie fast unsichtbar. Aber daraus folgt kein Anspruch auf objektive Wahrheit. Das wird in unserer Social Media Ära immer deutlicher, in der Menschen aus anderen Perspektiven heraus lautstark Kritik leisten.

Wahr ist nicht mehr, was von Bestand ist

Wie ist es mit Fotografie und Wahrheit? Wir leben in Zeiten von Photoshop und Instagramfiltern und inszenierten Pressefotos, wie dem jüngsten vielfacher Kritik anheimgefallenem Beispiel des Bildes von Regierungsoberhäuptern auf der Hebdo-Demo in Paris. Da ausgerechnet das Selfie als Beispiel für Verlust von Authentizität durch Selbstdarstellung zu beklagen, ist verwunderlich.

Den oder die Fotograf_in als eine unsichtbar die objektive Wahrheit über eine Szene herstellende Instanz heraufzubeschwören, das klingt einfach zu sehr nach lamentierendem Altherrenjournalismus, der vor ein paar Jahren noch das Aufkommen von Blogs als unseriös beklagt hat und heute durch Social Media Posts und Kommentare den Untergang seiner Alleinherrscherposition über die relevante Sichtweise nahen sieht.

Mercedes Bunz hat in “Die stille Revolution” eine Verschiebung im Verhältnis zwischen Wahrheit und Fakten beschrieben: wahr ist nicht mehr, was von Bestand ist. Der digitale Fakt verändert sich schnell und ständig, da er dauernd aktualisiert wird. Und dieses Fehlen gewohnter Fixpunkte kann verunsichern.

Die Digitale Öffentlichkeit als Kontrollorgan

“Die Polyphonie, die Vielheit der Stimmen im Netz, ermöglicht uns eine neue Art der Objektivität: die Qualität der Wahrheit der digitalen Öffentlichkeit ist Unmittelbarkeit von vielen verschiedenen Stimmen – eine Pluralität, die verlangt, dass wir uns ein eigenes Bild machen. Statt nur auf eine einzige von Expert_innen (Journalist_innen, Historiker_innen, usw.) abgesegnete Perspektive zu vertrauen, ist der sich wiederholende Bericht aus unterschiedlichen Quellen das neue Kriterium für Wahrheit. Die aktive Einbindung des Adressaten ist eine zentrale Eigenschaft der digitalen Öffentlichkeit.”

Der Journalismus, wie ihn seit neuesten Reported.ly betreibt, versucht sich in spannender Weise darauf einzulassen. Über die Veränderung der Rolle des Journalismus ist in Bunz’ Buch etwas zu lesen: Sie stellt gleichwohl kritisch fest, dass bereits früher ein Gleichgewicht von Presse und Politik nicht immer gegeben war und nennt als Beispiel, wie in Deutschland die öffentlich-rechtlichen Medien und damit die Meinungsbildung durch die Politik beeinflusst wurden.

In den modernen Mediendemokratien von heute haben sich die Positionen noch weiter verschoben: Die Medienbranche ist zum Business geworden, Politikerinnen nutzen sie für Imagearbeit, Medienmogule streben für sie günstige politische Regelungen an, kurz: Interessenskonflikte everywhere, durch gegenseitige Abhängigkeiten. Bunz kann sich hier die Digitale Öffentlichkeit, die smarte Masse, als Kontrollorgan vorstellen.

Digitale Öffentlichkeit wird von einer viralen Logik getrieben

Spannend ist dabei auch ihr Hinweis darauf, wie veraltet die journalistische Aufmerksamkeitslogik ist. Während sie noch auf Ereignisse und Breaking News ausgerichtet ist, wird die digitale Öffentlichkeit von Interessen der Nutzer_innen getrieben: einer viralen Logik.

“Wenn eine Nachricht wichtig ist, wird sie mich finden”, stellt Bunz auf Chris Andersons mediale Longtail-Logik der semantischen Nische verweisend, fest. Sich wiederholende Inhalte sind dabei nicht nur als virale Kommunikation, sondern auch als Kriterium für Wahrheit von Bedeutung.” (Ausschnitt aus meiner Rezension zu Mercedes Bunz, Die stille Revolution, in testcard #24: Bug Report. Digital war besser.)

Dass Journalismus sich der viralen Logik in erster Linie leider nur zur Verbreitung seiner Nachrichten und Etablierung seiner Marke bedient, ist eine Entwicklung in eine fragwürdige Richtung. Dazu möchte ich noch mal zum Selfie zurückkehren. Arlt geht davon aus, dass im Selfie jede_r die Möglichkeit hat, sich so darzustellen, wie er oder sie will. Das ist eine verfängliche Annahme. Zum Selfie gehört das Zirkulieren in Social Networks. Sie sind nicht unabhängig davon denkbar.

Eine Selbstinszenierung zum Meme

Ein Selbstporträt ist kein Selfie. Dementsprechend sind sie inszeniert, um in der Logik von Social Networks zu funktionieren. Der Blick der anderen wird bereits beim Erstellen mitgedacht, er ist Teil des Selfies. Es sind Bilder, die unseren Freund_innen oder Followers statt unserem Blick auf eine Situation uns in einer Situation oder in einer Pose zeigen. Sie können zum Beispiel einfach nur durch unseren Gesichtsausdruck als non-verbaler Kommentar zu der Situation dienen, in der wir uns auf dem Bild befinden. Eine Selbstinszenierung zum Meme. Das Selfie verweist aber auch immer aus den Social Media hinaus, zurück zu uns, verweist darauf, dass die Selbstinszenierung kein spezifisches Netzphänomen ist.

Ich muss dazu nicht einmal auf die Ebene vom Selbst, das nur in seiner Performance vorhanden ist gehen. Ganz banal gesagt: Benimmregeln für verschiedenste Situationen, Konsens über angemessene Kleidung für verschiedenste Gelegenheiten, Geschlechter, Figuren sind Vorgaben, wie wir uns zu inszenieren haben.

Gleichzeitig aber sollen wir uns so inszenieren, dass es möglichst niemand als inszeniert empfindet. Wer ertappt wird, wie er oder sie sich stylt, wird oft zum Opfer von Gewitzel. Gar nicht so unähnlich dem Spott, den Presse und Regierungsoberhäupter nach dem oben erwähnten Bild auf der Charlie-Hebdo-Demo von der Internet-Community abbekamen.

Social Media macht die Spannung zwischen Authentizität und Inszenierung sichtbar

Wir können Social Media eigentlich dankbar sein, dass sie die Spannung zwischen einem sich verändernden Verständnis von Wahrheit und Authentizität und Inszenierung sichtbar macht und Diskussionen aufwirft. Gerade weil es kein social-media-spezifisches Thema ist.

Nur, gerade in Social Media wird nun freiwillige lustvolle Selbstinszenierung kritisiert. Aus der Kritik an Selfies spricht immer wieder der Versuch Kontrolle darüber zu erhalten, wie sich Menschen selbst darstellen, das bekommen vor allem Frauen und Jugendliche ab. Wenn sich die meist eine männliche Perspektive einnehmenden Selfie-Kritiker ebenso vehement gegen die im Alltag omnipräsente Darstellungsform der sexuellen Objektivierung weiblicher Körper stellen würden, wie sie es kritisiert, wie sich Frauen selbst in Selfies darstellen, könnte ich ihre Kritik vielleicht sogar in irgendeiner Weise ernst nehmen. Aber derzeit wird als selbstsüchtig meist nur das beschimpft, was nicht vom und für den gesellschaftlich dominanten Blick reguliert wird. Um nur eine problematische Facette herauszugreifen.

Wahrheit ist eine endlose Annäherung

Wie sehr es in der Kritik an Selfies um Angst, die Definitionsmacht zu verlieren, geht, zeigt auch Arlt, wenn er schreibt: “Selbstvermarktung als wirtschaftliche Existenz- und soziale Karrierebedingung: Keine Mietwohnung, kein Arbeitsplatz, keine Bewerbung, keine Beziehung ohne ‘Selfie’, ohne die Herstellungskosten in Kauf zu nehmen für die Darstellung seiner selbst von der besten Seite. Doch diese Shows bleiben unter der Kontrolle der jeweils Anwesenden, die intervenieren können.”

Solange die Kontrolle bestehen bleibt, solange interveniert werden kann, ist Selbstvermarktung okay, denn mit einer “unerwarteten Zwischenfrage” lässt sich nach Arlt doch die “Wahrheit” ans Licht zu bringen, die er auch noch an Leistung festmacht.

Als ob eine gelungene Selbstdarstellung keine Leistung wäre. Wie sehr er an eine objektive Wahrheit, an authentische Identität glaubt, zeigt sich auch sehr schön in einem Bild: er beklagt “das Öffentliche als Gezerre zwischen Verdunklung und Entblößung”. Aber genau das ist Wahrheit: sie ist eine endlose Annäherung, sie entsteht im Spiel verschiedenster Perspektiven, die verschiedene Stellen ins Licht rücken und andere im Schatten halten.

Berechtigte Kritik an der Social-Media-Strategie der traditionellen Medien

Ich musste darüber schmunzeln, wie nahe Arlts “Gezerre” am Bild eines “Fächertanzes” aus der Burleske ist, das Nathan Jurgenson von Marc Smith übernommen hat, um unsere Selbstdarstellung auf Social Media zu beschreiben. Es lässt sich letztlich ausweiten auf alle Arten von Selbstdarstellung, vielleicht sogar auf alle Formen von Darstellung: wir zeigen mal mehr, mal weniger, je nach Kontext verschiedene Seiten, und Identität wie Wahrheit entstehen nur in diesem Tanz, nur in der Bewegung. Arlt würde das wahrscheinlich nicht sehr sexy finden.

Es ist nicht so, dass ich nicht mit Teilen der Journalismus- und Gesellschaftskritik einverstanden wäre, die Arlt vorbringt, sonst hätte ich mich auch nicht zu diesem Text angeregt gefühlt. Aber es lässt sich nicht so, wie er es getan hat, an Selfies festmachen.

Die Nabelschau, die Journalismus auf Social Media betreibt und wie Eigen-PR-bewusst viele Journalist_innen dort aktiv sind, um sich selbst und ihre Zeitung oder ihren Sender als Marke zu inszenieren – das ist durchaus kritisierenswert und geht an dem vorbei, wie Social Media bereichernd für die älteren Medien sein können.

Wenn Social Networks selbst Publisher geworden sind

Was bei Arlt zu kurz kommt, ist das konsequente Weiterdenken der Kritik bis an die Wurzeln. Da ist die very german Sehnsucht nach einer Zeit in der Leistung noch etwas galt, und nicht nur Selbstinszenierung zum Vermarktungszweck (und als solche dürfte er auch jede Form von Social Media Strategie von Journalismus begreifen, womit ich nicht ganz nicht einverstanden bin).

Da ist die very manly Sehnsucht nach damals, als man noch blindlings als Gatekeeper akzeptiert wurde, als diese eine Perspektive noch als Objektivität verkauft werden konnte, und andere Perspektiven bestenfalls mal durch ein paar Leser_rinnenbriefe lästig werden konnten. Aber da ist keine schlüssige Verfolgung des Selbstinszenierungszwangs bis zu seinen Ursachen, sondern stattdessen werden Ärger und Ängste einfach auf neue Kulturtechnologien abgelenkt, mit denen er sich nicht wirklich auseinandersetzen will.

Journalismus krankt in großen Teilen nichtsdestotrotz tatsächlich an der Überzeugung, der Logik von Social Networks aus monetären Zwängen vermeintlich folgen zu müssen. Dadurch werden Artikel konzipiert um Schnelligkeit und Reichweite zu erlangen, während Gesichtspunkte wie Tiefe und gesellschaftliche Relevanz meist auf der Strecke bleiben, da ihnen in diesen Netzwerken keine Bedeutung zukommt. Ob Medien damit nicht mehr aufgeben als sie gewinnen, werden sie wohl erst merken, wenn auch das letzte Social Network selbst zum Publisher geworden ist.

too long, didn`t read

Die Krise des Journalismus resultiert zum Teil aus der Orientierung an “Werbung, PR und Unterhaltung” und den Strukturen von Social Media, aber: Please leave Selfies alone.

P.S.: An meine Nummer 1 der kuriosen Selfie-Angst-Artikel kommt Arlts übrigens lange nicht heran, das ist immer noch dieser hier.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf www.socialmediawatchblog.org.

Empörung aktivieren – Konformismus und Mobverhalten im Netz

via reddit cocobango“Empörung aktivieren. Aufstehen, Aufstand, Anstand.”
Die Goldenen Zitronen

In einem Text namens ‘Konformismus im Netz – Die Meinung der Anderen’ schreibt Martin Weigert:

“Bei Twitter und in anderen Teilen des sozialen Netzes herrscht ein Konformitätsdruck, der durch die Furcht ausgelöst wird, am virtuellen Pranger zu landen. (…)

Auf Dauer sorgt es aber für ein vergiftetes Klima und einen Konformismus, der Meinungsfreiheit und Demokratie mindestens ebenso bedroht wie die Überwachung durch Geheimdienste und Regierungen.”

Weigert zitiert dazu den ‘Blogger und Professor Joshuah Neeley’:

 “Er sieht die entscheidende Schwäche am Prinzip der Bestrafung durch die Masse darin, dass dabei nicht schädliche oder falsche Sichtweisen zum Verstummen gebracht werden, sondern vorrangig unbeliebte Perspektiven.”

Ein neugieriger Blick auf Twitter bestätigt mir, wo ich diesen Neeley zu verorten habe, denn er retweetet z.B. einen Satz wie diesen: “In a land of freedom we are held hostage by the tyranny of political correctness.” Mal abgesehen davon, dass ich mich gefragt habe, ob es schon ein Godwin’s Law-Äquivalent für Vergleiche mit der NSA-Überwachung gibt, wundere ich mich angesichts dessen was für Meinungen er hier gegen vermeintlichen Konformismuszwang verteidigen will schon darüber, wer mir alles diesen Artikel in den letzten Tagen beipflichtend in die Timeline gepostet hat. Das war für mich denn auch der Anlass dafür, etwas dazu zu schreiben.

Martin Weigert hat sich als ein Beispiel für Opfer von Twitterstorms Pax Dickinson ausgesucht, damals noch Chief Technology Officer von Business Insider (was auch in seiner Twitterbio vermerkt war), und in dieser Position z.B. auch über Einstellungspolitik entscheidend. Dieser twitterte über Monate hinweg Dinge wie: In The Passion Of The Christ 2, Jesus gets raped by a pack of niggers. It’s his own fault for dressing like a whore though.” oder aw, you can’t feed your family on minimum wage? well who told you to start a fucking family when your skills are only worth minimum wage?” oder A man who argues on behalf of feminism is a tragic figure of irony, like a Jewish Nazi.”  oder den Tweet, der dann eine Lawine von Retweets und Protestreplies ins Rollen brachte: feminism in tech remains the champion topic for my block list. my finger is getting tired.” Kurz darauf wurde er gefeuert, weil BI das zu viel Negativwerbung war. Ein anderes Beispiel Weigerts ist der Fall von Justine Sacco. Die Frau, die einen hochrangigen PR Job hatte, twitterte: “Going to Africa. Hope I don’t get AIDS. Just kidding. I’m white!” Sie war am nächsten Tag ihren Job los, ihren Account hat sie gelöscht.

Von diesen Beispielen ausgehend fordert Martin Weigert mehr Empathie und Entschleunigung von den KritikerInnen dieser Tweets: Sie sollten doch erst mal durchatmen bevor sie auf sowas reagieren. Nun, ich fände es angebrachter, wenn er diesen Ratschlag Leuten wie Dickinson und Sacco gäbe. Ich finde es schade, dass so aus einem aktuellen interessanten Thema bei Weigert letztlich bloß wieder mal das Aufwärmen vom guten alten “Das wird man doch wohl mal sagen dürfen!” wurde. Protecting hate speech, yay. Es sind wieder mal die Stimmen der ‘Anderen’, die im Konsens des Mainstreams stören. Pardon, aber es hat halt wirklich so ganz und gar nichts mit Konformismus zu tun, wenn ich mir vor dem Posten überlege, ob das was ich schreibe, sexistisch oder rassistisch ist. Eher mit… ähem… Empathie?

Es mag für Privilegierte ungewohnt sein, dass sie im Internet nicht immer so konsequenzlos sexistisch und rassistisch sein können wie im Gespräch unter Vertrauten oder im Beruf, aber mein Mitleid hält sich da ähnlich in Grenzen wie wenn sich jemand über Konformitätszwang beschwert, weil alle dauernd Katzenbilder posten. Grundlegend ist es erst mal eine schöne Seite des Internets, dass in Blogs oder Social Networks diejenigen, die sonst z.B. im Job ständig aus Furcht selbigen zu verlieren ihren Mund zu Diskriminierungen halten müssen, sich trauen können auch mal dagegen zu protestieren. Und auch mal die Möglichkeit haben lautstark die Mehrheit zu sein, die Hatespeech ein Konter bietet. Und eines kann ja anscheinend dieser Tage wieder mal nicht genug betont werden: Meinungsfreiheit ist nicht die Freiheit von Konsequenzen aus dem Äußern der Meinung.

Es ist ja auch letztlich nicht die Angst vor den Äußerungen anderer User, die den ‘Konformismuszwang’ ausmacht, au contraire, denen sind solche Leute wie Dickinson ja eher gewohnt vor den Latz zu knallen, dass sie einfach keinen Humor hätten. Und dass Jim Knopf nun mal schwarz sei. Es ist die Angst vor Konsequenzen z.B. im Berufsleben. Pech für die, die einen Ruf zu verlieren haben. Oder an Sacco angelehnt: “Going on Twitter. Hope I don’t get fired. Just kidding. I’m self-employed!” (Jon Henke). Weigert jedenfalls scheint auch gar nicht Konformismusdruck an sich zu interessieren, sonst hätte er auch ein gelungeneres Beispiel wählen können, z.B. wie manche Frauen im Netz nur weil sie für Gleichberechtigung eintreten, mit Vergewaltigungs- und Morddrohungen überschwemmt wurden und werden. Genauso wenig geht es Weigert anscheinend um das Thema der Bedrohung der freien Meinungsäußerung im Netz, denn dann hätte er auch Beispiele anführen können wie das Twitter Joke Trial  oder das des englischen Studenten, der wegen eines Twitterscherzes über “diggin’ up Marilyn Monroe” und “destroying” America deportiert wurde, um nur zwei zu nennen, die mir auf die Schnelle einfallen, und in denen es nicht andere User sind, die zum ‘Konformismus’ zwingen, sondern staatliche Behörden. Ich finde ‘Konformismus’ in diesem Artikel auch eher einen problematischen Begriff, weil er den Verzicht auf Hatespeech negativ auflädt, ebenso wie ‘Meinungsfreiheit’ ein zynischer Begriff ist um Rassismus und Sexismus zu verteidigen.

Aber noch mal zurück: In Echtzeit auf Twitter mitverfolgen zu können, wie Pax Dickinson dank massiver Kritik an seinen Hass-Tweets seinen Job verlor, fand ich gleichermaßen erschreckend und befriedigend. Erschreckend, weil es einfach ungewohnt ist, dass öffentlich mitbeobachtet werden kann, wie jemand für seine Bemerkungen zur Rechenschaft gezogen wird, und das auch noch so schnell. Befriedigend, weil da jemand, der zum Problem für Frauen in der Technikbranche gehört, hier mal tatsächlich Konsequenzen zu spüren bekam, und das nur weil sich eine Gruppe von Menschen zusammentat, um die Hassäußerungen zu kritisieren. Und dann gleich noch mal auf einer anderen Ebene erschreckend: Erschreckend vor mir selber, dass ich das als gut empfand. Es ist bei so etwas ein feiner Grat zwischen solidarischem Zusammenschluss und Mobverhalten.

Dieses Mobverhalten ist ja eigentlich der Punkt, der kritisch angesprochen werden sollte. Dieses ist ebenso wie die Gier nach Sensationen im Netz auch nicht immer negativ behaftet, sondern wird bei sowas wie Hypes und viralem Content ja durchaus auch als positiv empfunden, und gerne von der Werbebranche oder von Nachrichtenmedien ausgenutzt. Dabei wird es auch als angemessenes Verhalten bestärkt: Sei es eine extraprovokative Clickbait-Schlagzeile die Fremdenhass schürt oder ein sexistische Grenzen überschreitender Werbeclip – in solchen Fällen soll der User ja dazu gebracht werden mit Klicks und Kommentaren die Auflagenstärke 2.0 zu steigern. Dass diese Mobmentalität und das schnelle (Über-)Reagieren und ebenso schnelle Vergessen im Netz aber auch ganz Unbeteiligte oder Unschuldige in Abgründe stürzen kann (hier drei Beispiele via @machinestarts 1, 2, 3) wird dabei genauso schnell vergessen. Das läuft alles auf so unbedarftem niedrigen Instinktlevel ab, das nichts aus solchen Beispielen gelernt wird und keine Konsequenzen bedacht werden. Einen Gedanken wert ist es auch, dass es sich hier nicht um internetspezifisches Verhalten handelt, denn Mobbing und Outing finden auch seit jeher außerhalb des Internets statt, aber da finden sich nicht so schnell so große (anonyme) Gruppen, die sich beteiligen, und es gibt eine andere Sensibilität für Dos und Don’ts und ‘ungeschriebene Gesetze’.

Im öffentlichen Bewusstsein wurde viel zu lange der Mythos des digitalen Dualismus gepflegt: der Mythos vom Internet als uneigentlichem virtuellen Raum, der mit dem ‘echten’ Leben’, das als eigentliche Realität begriffen wird, nicht so viel zu tun hat, und deshalb auch keine Konsequenzen darin findet. Es herrscht oft eine Unbeholfenheit beim Kommunizieren im Netz – ist es nun wie öffentliches Reden, ist es wie Lästern im Freundeskreis? Soziologische, kulturelle und ethische Gedanken im Bereich der technischen Erweiterungen unseres Lebens hinken oft hilflos dem Einfluss dieser hinterher. Verhaltensforschung im Netz ist meist eher an Ergebnissen und Themen interessiert, die sich für die Werbebranche nutzen lassen. In Medien werden solche Themen meist nur zu einem breiter diskutierten Thema, wenn sich was Spektakuläres ereignet. Wo vor einer Weile noch die Abgründe der Kommentarbereiche oder die Shitstorms als Zeichen der Apokalypse gefürchtet wurden, ist es jetzt das Public Shaming und die Mobmentalität auf Twitter. Vielleicht hat es ja wirklich Menschen stärker als angenommen geprägt, dass sie seit langem in fast allen Lebensbereichen einer hypersensationalistischen empathiearmen Medien- und Werbekultur ausgesetzt sind, und es erscheint ihnen die adäquate Art und Weise jetzt dort wo sie selbst ‘Nachrichten’ posten können, ähnlich zu verfahren. Gelernt ist gelernt. Ich hoffe ja, dass sich auch hierzulande bald mal mehr schlaue Leute aus nicht-rein-technischen Disziplinen tiefergehend damit beschäftigen, wie wir mit unserer technisch-erweiterten Realität so umgehen und was für Folgen das hat, und die das mal soziologisch auseinandernehmen, diskutieren und mit allen negativen und positiven Facetten für eine breite Öffentlichkeit verständlich aufzubereiten. Dann liefe das vielleicht auch nicht immer nur auf Glorifizierung oder Dämonisierung (so wie im Text von Weigert gleich das Ende der Meinungsfreiheit und Demokratie heraufbeschworen wird) hinaus.