Über Hedwig And The Angry Inch (2001) für Stardust Cinema

Zu meiner Freude durfte ich für das Filmhauskino Nürnberg bei der Filmreihe Stardust Cinema mitkuratieren, die 100 Jahre queeres Kino feiert (das Programm findet ihr hier, geht von 30.11.2023. bis 04.02.2024) und für drei der Filme gibts vorm Film eine kurze Einführung von mir dazu. Die erste war am 19.12.23 zu Pride (2014, hier nachzulesen). Die zweite war am 09.01.24 zu Hedwig & The Angry Inch und hier teile ich mit euch mein Skript dazu. Die dritte wird am 26.01.24 zu Doom Generation sein.

Einer der Gründe, warum ich es so gut finde, dass Hedwig and the Angry Inch einen Platz in der Stardust Cinema-Reihe gefunden hat, ist, damit Musical als ein Genre, das in queerer Kultur sehr beliebt ist, zu repräsentieren.

Ich glaube, dass die Verliebtheit in Musicals, in den dunkelsten Zeiten unserer queeren Geschichte wurzelt: Als wir selbst in Ländern wie Deutschland oder USA noch illegal waren, oder auch in privater Geschichte wie den zahllosen Queers, die von ihren Familien abgelehnt wurden, und: natürlich in den großen Tragödien, die uns zeigten, wie wenig die Gesellschaft auf unsere Leben gibt, Stichwort AIDS. Solche Ablehnung hinterlässt lange Spuren in der Kultur einer Szene. Dazu zählt der Wunsch danach, einfach dazu zu gehören, sich willkommen und aufgehoben zu fühlen.

Die Welt wird in Musicals ähnlich wie im Voguing mit seiner Ballroomszene camp zugespitzt, aber die Sehnsucht nach einer wie auch immer gearteten Idee von heiler Welt steckt in beidem. Die Zuspitzung macht es zum Fantasiezufluchtsort, zur Traumwelt, in der alles für alle möglich scheint. Und das obwohl eigentlich in den Musicalwelten selbst das Happy End meist von einer cis-heteronormativen Bürgerlichkeit aus der Hölle geprägt ist, in der alles, was irgendwie gendercrossing ist, lange Zeit bestenfalls als Comedy-Element einen Platz fand. Worauf will ich hier hinaus?

Hedwig and the Angry Inch ist ein Musical, aber es ist auch ein Aufbegehren gegen diese Musical-Tradition. Der Film eignet sich das Genre an, erschafft einen queeren Raum darin, indem es die Geschichte einer durch und durch queeren Hauptfigur auf die Leinwand bringt, ambig und messy, einer Figur, die mit ihrer tragisch-humoristisch gesungenen Lebensgeschichte Nacht für Nacht ein eher desinteressiertes bürgerliches Publikum in American Diners brüskiert. Was sowohl die Rezeption queerer Kultur im Mainstreammarkt spiegelt als auch die Bühne in den Film holt: das Liveelement, in dem Hedwig erschaffen wurde.

Es gab zu der Zeit, also 2004, erst wenige Vorreiter an Filmen über Drag Culture: Priscilla, Königin der Wüste von 1994 oder Käfig voller Narren von 1996 wären da zu nennen, oder vielleicht auch Rocky Horror Picture Show von 1975. Hedwig ist ein Film, der Drag Culture feiert und die Geschichte tragen lässt, vom ersten Lippenstift-Auftragen bis zum Befreien von der Perücke und der Weitergabe an die nächste, die sie braucht. Drag wird offen in seiner Bedeutung für ein queeres Coming of Age gezeigt, auch wie sehr es eine Kultur der Maske oder gar Rüstung ist, die beim Überleben in einer Welt, die dich ausgrenzt, helfen kann und es wird verdeutlicht, wie diese Form der Selbstinszenierung ein Weg zur Selbstfindung, oder Selbsterfindung sein kann.

James Cameron Mitchell, selbst nonbinär, bricht in Hedwig auch mit der sonst bis heute so allgegenwärtigen Geschlechterbinarität, indem er eine Hauptfigur schafft, die fluide gehalten ist, sie lässt sich nicht auf weiblich oder männlich festlegen. Es ist auch keine trans Geschichte, wie eine zeitlang misinterpretiert wurde, oder, besser gesagt: es kann auch als eine trans Geschichte gelesen werden, aber nicht wegen dem, was der Figur körperlich zugefügt wird, sondern wegen der psychologischen Entwicklung: Es ist letztlich ein Film darüber, mit sich selbst als queerer Mensch leben zu können, und sich selbst lieben zu lernen. Wo die meisten Filme bis zu dieser Zeit Queerness auf ein entweder komisches oder tragisches Element reduzierten, ist das Besondere an Hedwig, dass Mitchell es schafft, den queeren Selbstfindungsprozess in all seiner emotional schillernden Komplexität einzufangen und sich gegen Vereindeutlichungen zu wehren.

Das Glam-Punk-Element von Hedwigs schroffer punkiger Variante des Drag wurzelt in der New Yorker Nachtclubszene der 90er, die sich langsam erst nach dem Schock der AIDS-Krise wieder aufbaute. Ganz konkret aus der Szene, die sich um eine Clubnacht namens Squeezebox bildete. Statt Techno oder Disco gab es hier Punk und Glamrock, mit Livebands und Drag Queens, und illustren Gästen wie Debbie Harry von Blondie, John Waters, Courtney Love, Calvin Klein oder Jake Shears von den Scissor Sisters. Stephen Trask, der die Songs und Texte der Musik von Hedwig and the Angry Inch schrieb, war damals der Musical Director der Squeezebox.

Statt dem damals oft männlich dominierten Gay Clubbing gab es dort ein eher pansexuelles Queer Clubbing: Ein bewusst offener gehaltenes und lesben-, trans- und inter-inklusiveres Konzept, bei dem aber auch Heteros willkommen waren. Betonung auf ‘auch’.

Für James Cameron Mitchell, der auch Mitglied der Radical Faeries ist, war es ein wahrgewordener Traum: Ein queerer genderfluider Rock’n’Roll Club mit Live-Performancekultur. Dort entwickelte er mit Trask ab 1994 schon die Anfänge von Hedwig and the Angry Inch. In einem Interview mit Tricia Romano erzählt er von seinem Auftritt mit der ersten halbstündigen Protoversion von Hedwig und wie der Rahmen des Auftritts die Storyidee veränderte:

“Ich musste das spielen, was ursprünglich eine Nebenrolle in Hedwig war. Denn in Wirklichkeit handelte es damals von Tommy Gnosis, dem Freund, der der Sohn des Generals war, so wie ich. Und dann wurde die Nebenrolle sozusagen ins Rampenlicht gedrängt, weil es ein Drag-Club war und ich sie in Drag spielen sollte. In gewisser Weise hat SqueezeBox! Hedwig also wie eine Zahnpastatube aus mir herausgepresst. Es war einfach so beängstigend. Ich hatte noch nie in einer Band gesungen. Ich war noch nie in einem Kostüm aufgetreten. Also war mein erster Auftritt dort geradezu sowas wie eine Entbindung, weißt du?”

Weil Mitchell in diesem Zitat erwähnt, dass er auch Sohn eines Generals ist, passen hier vielleicht noch ein paar Worte zu biographischen Bezügen von Hedwig & The Angry Inch. Als Sohn des U.S. Commander von West Berlin lebte Mitchell zu Mauerfall-Zeiten in Berlin, und er verarbeitet in der Geschichte durchaus auch seine eigenen Probleme mit Selbsthass wegen seiner Homosexualität und Nichtbinarität. Und die Figur der Hedwig ist angelehnt an eine Babysitterin bei Mitchells Familie, die aus Ostdeutschland in die USA migrierte und dort in einem Trailerpark lebte, und auch als Sexarbeiterin jobbte. Aber es ist kein autobiografischer Ansatz, mit dem Mitchell diese Elemente in die Geschichte von Hedwig einwebt. Er hat einen poetischen Ansatz, und auch einen theoretischen: So war Platos Symposium wohl auch eine der Inspirationen für Hedwig and the Angry Inch.

Aus der Squeezebox heraus entwickelten Trask und Mitchell Hedwig and the Angry Inch dann langsam zu einem Off-Broadway Musical, wo es 1998 startete, und schließlich so erfolgreich wurde, dass es nicht nur in viele andere US-Städten tourte – – die Aufführung in Los Angeles wurde damals sogar von David Bowie coproduziert – , sondern 2014 stieg Hedwig dann auch zur richtigen Broadwayshow auf. Die Verfilmung kam 2001 raus und Mitchell wollte darin die explosive Atmosphäre eines Livekonzertes mit einer wahrhaftigen Geschichte verbinden, denn die Geschichte, das Narrativ, kam ihm in den musikbetonteren Inszenierungen, die er kannte, immer zu kurz.

Und ein dritter Anspruch, den er ebenso wie die anderen beiden erfüllt hat: Hedwig and the Angry Inch sollte sich dem Trend des Queer Films for the Straight Eye widersetzen, denn die Anpassung an den Cis-Hetero-Blick und -Markt widerstrebt Mitchell zutiefst, was seine Filme auch so sehenswert macht. Deswegen nahm er auch keines der lukrativeren Angebote an, die ihm nach dem Erfolg von Hedwig and the Angry Inch angetragen wurden, sondern begann mit der Arbeit an einem für Zuschüsse, breite Veröffentlichung und Besucher*innenzahlen gleichermaßen total unvernünftigen Projekt: Shortbus, einem wunderbar widerspenstigen Film, der sehr offen Sexualprobleme behandelt, und den ich euch auch sehr ans Herz legen kann.

Soviel von mir als kleine Einordnungshilfe zu Hedwig and the Angry Inch und jetzt viel Spaß damit! Danke fürs Zuhören!

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