Manche Bücher liegen bei mir ewig im Regal rum, bevor ich sie lese, und oft reut es mich dann, dies nicht schon eher getan zu haben. Ein solches habe ich heute ausgelesen: ‘Rubinrotes Herz, eisblaue See’ von Morgan Callan Rogers. Das Schmalzige des Titels war ebenso schuld daran wie dass ich mich nicht mehr erinnern konnte, wie es den Weg zu mir gefunden hatte. Gegenüber der sonst sehr gelungenen Übersetzung wundert es mich, warum der Titel von ‘Red ruby heart in a cold blue sea’ so übersetzt wurde. Der englische Originaltitel greift auf, wie Florine, die Hauptfigur, einen Halskettenanhänger in Form eines rubinroten Herzens ins Meer wirft, ein wichtiger symbolischer Akt in diesem wunderbaren Coming of Age Roman.
Das Leben in einem abgelegenen kleinen Fischerort in Maine in den 68ern wird von Morgan Callan Rogers in ruhiger liebevoller Erzählweise eingefangen. Die umtriebige, lebensfreudige Mutter der Hauptfigur Florine verschwindet von einem Tag auf den anderen, und von diesem zentralen Verlust fächern sich weitere ab. Der Vater, ein Fischer, ist nach einer Weile mit einer neuen Frau zusammen, was Florine so verbittert, dass sie zur Großmutter zieht – was in einem so kleinen Ort letztlich nur den Umzug auf die andere Straßenseite bedeutet. Aus den Augen verliert hier niemand niemanden. Der Umgang mit Verlust und Finden und Wiederverlieren und Wiederfinden von Menschen sind das zentrale Thema, ebenso wie Liebe und was dafür gehalten wird: von großmütterlicher Fürsorge bis zum ersten heißen Sex, von Freundschaft bis zu Angst vorm Alleinsein. Das Buch lebt nicht von aufregenden Geschehnissen, sondern von Entwicklungen der Beziehungen einer großartig widerborstigen und humorvollen und liebevollen und zerrissenen Hauptfigur zu den anderen Menschen in ihrem Leben. Habe ich am Anfang noch darauf gewartet, dass die vermisste Mutter wieder auftaucht, wurde das zunehmend unwichtiger und das Ausbleiben einer Auflösung, die dauernde Sehnsucht, das immer wieder hochkommende Vermissen, füllten bald mehr aus, als es jede Auflösung hätte tun können.