Über Politik jenseits von Feminismus, Queer Rights oder Antirassismus zu sprechen und schreiben war für mich lange Zeit ein No-Go, weil selbst meine sonst wirklich heißgeliebten linken Kreise recht gut darin sind, so gut wie jede Form von öffentlicher politischer Äußerung, die nicht genug Theoriebildung vorzuweisen hat, als naiv abzutun oder wegen einzelner Punkte komplett niederzukritisieren, am besten gleich zu mehrt. Ich denke aber gerne laut nach, dafür lieb’ ich ja auch neben offline-Gesprächen Social Media und dazu hab ich ja auch diesen Blog, und ich höre gerne Gedanken anderer zu Themen, die mir im Kopf rumgehen. Es hat seine Gründe warum es Greta Thunberg und Rezo schaffen, viel mehr Menschen zu politisieren, ihnen den Funken Hoffnung zu geben, den es braucht, um sich zu engagieren. Anyway. Eigentlich denk ich mir, dass es immer gut ist, wenn sich Menschen Blößen geben, und aus “dummen” Fragen, die ich gestellt habe, hab ich immer am meisten gelernt. Im Netz hab ich das in den letzten Jahren etwas verlernt, aber gerade habe ich wieder Lust darauf. Deswegen schreib ich hier jetzt einfach mal auf, was mir so zu meiner Wahlentscheidung zur Europawahl 2019 durch den Kopf ging.
Sonst liegt bei mir über Wahlen immer so ein frustrierter Schleier der unbefriedigenden Kompromisse, aber diesmal hob er sich bei mir und zwar aus einem simplen Grund: Bei der Europawahl gibt es keine 5%-Hürde. Plötzlich die Hoffnung unter den Kleinparteien eine zu finden, die für genau meine Interessen steht.
Die letzten Wahlen hatte ich immer brav die Linke gewählt, nachdem ich meine jugendliche Trotzphase des Nichtwählens (weil Wählen das ungerechte System bloß stützt) hinter mir gelassen hatte. Aber selbst bei der Linken hatte ich ein Bauchgrummeln – von Wagenknechts Ausspielen von Flüchtlingen gegen Arme und Schlechtverdienende bis zu Leuten mit antisemitischen Tendenzen. Dass viele wirklich tolle Leute in der Linken dagegenhielten, machte es zwar besser, aber irgendwie wünsche ich mir wie so viele andere doch immer die perfekte Partei statt den besten Kompromiss. Aber selber in einer Partei engagieren um das mitzuformen – das wär mir dann doch zu viel. Eine Freundin, die das gerade begonnen hat, bewundere ich sehr für diesen Schritt.
Aber weiter zu meiner Auswahl: SPD und Die Grünen sind für mich unwählbar, weil sie über die Jahre so viel aktiv zu sozialer Ungerechtigkeit und zu einem beängstigendem ‘Sicherheits’apparat beigetragen haben, und ihnen letztlich wenn’s um was ging, Wirtschaft stets wichtiger als soziale oder Klimapolitik war. Eine rotgrüne Regierung führte Hartz 4 ein, selbst bei ihrem Hauptthema Umwelt knickten die Grünen regelmäßig bei Themen wie z.B. Atom/Kohle-Ausstieg ein. Davon, dass sie Leute wie den verkappten Rechten Boris Palmer nach wie vor in ihrer Partei dulden, ganz zu schweigen.
Wenn Julia Reda noch kandidieren würde, wäre mein Wahl klar, da sie immer wieder im Alleingang die Piraten wählbar machte. Beste Person im ganzen EU-Parlament. Ihr Engagement und das ihres Teams war fundiert, kämpferisch, integer, und nicht nur Richtung Parlament, sondern auch immer Richtung Bürger*innen argumentierend. Durch sie fühlte ich mich ernstgenommen, informiert und gut vertreten. Aber steht leider nicht mehr zur Wahl.
Ich war wie gesagt neugierig auf die ganzen Kleinstparteien, die den politischen Trott ein bisserl durchwirbeln könnten. Die meisten konnte ich schnell aussortieren, nicht links genug oder thematisch zu eng, oder nicht entschieden genug gegen Rechts.
Volt wurde mir von einigen in die Social Media Timeline gespült, aber das ist die parteigewordene Startupkultur. Gutes Marketing, die richtigen Buzzwords setzen, aber bloß nicht zu anstrengend ‘politisch’ rüberkommen. Vom Spektrum her würde ich sie so zwischen FDP und Grüne positionieren – Wirtschaftsliberale meet Neoliberale. So fresh, dass sie sich als “weder links noch rechts” positionieren. Dazu kommt noch ein Fokus auf Sicherheitspolitik, den ich auch eher gruslig finde – lest mal die Begründungen z.B. auf Voteswiper, da wird ihr Fokus auf Stärkung von Wirtschaft und Polizei/Armee noch deutlicher.
Um das hier mal abzukürzen: In die engste Auswahl kamen bei mir dann Ökolinx um Jutta Ditfurth und Diem25, in Deutschland als ‘Demokratie in Europa’ auf dem Wahlzettel. Ökolinx sind politisch in vielem mein Ding, aber so furchbar altbacken links, dass ich sie einerseits für ihre Kompromisslosigkeit bewundere, ihnen aber einfach bei Themen wie neue Technologien und Klima nicht zutraue, meine Interessen zu vertreten.
Entschieden habe ich mich dann für Demokratie in Europa / Diem25, ganz schlicht, weil sie die einzige kapitalismuskritische Partei sind, die für soziale Gerechtigkeit steht UND eine transnationale paneuropäische Partei ist. Letzteres ist mir superwichtig, weil ich der Überzeugung bin, dass, wenn wir bei Themen wie der Klimakatastrophe und dem Umgang mit neuen Technologien ernsthaft etwas reißen wollen, wir über das Denken und Organisieren in Nationalgrenzen hinaus müssen.
Diese Punkte haben sich für mich tatsächlich erst bei meiner Auseinandersetzung mit verschiedenen Parteien und durch Gespräche mit Freund*innen und auf Social Media als die für mich wichtigsten herauskristallisiert: Ich will eine Partei, die sich scharf gegen Rechts stellt und in ihren Ansätzen zu Klima, sozialer Gerechtigkeit und Technologie transnational denkt. Alleine dafür, dass ich mir dessen bewusster bin und das für mich abgewogen habe, hat sich die Beschäftigung damit schon gelohnt. Und ja, ernsthaft: Bei dieser konkreten Mischung von Anliegen traue ich DiEM25 / Demokratie für Europa am meisten zu. Und ich glaube mehr an eine Reform der EU als an eine Revolution/ierung, vor allem in dem engen Zeitraum, der uns gerade beim Klimathema noch bleibt. Auf letzteres zu setzen, halte ich für naiv.
Bevor ihr mich für meine Entscheidung disst: Selbstverständlich ist das gleichzeitig aber auch wieder keine perfekte Partei, ich sag nur Assange und Zizek. Aus der antideutschen Ecke wurde angeprangert, dass sie sich nicht genug vom BDS distanzieren. Auch dass Varoufakis sich nicht im EU-Parlament festsetzen lassen will – eine Strategie, aus der er eigentlich schon länger kein Geheimnis macht – wird plötzlich als Enthüllung einer Täuschung hochgejizzt, kurz: Das Dreckwerfen ist in vollem Gange und an jeder Partei gibt es genug zu kritisieren. Ich werde Demokratie in Europa / Diem25 auch für Punkte, die mir nicht passen, weiterhin kritisieren, genauso wie ich das seit Jahren bei der Linken mache und sie trotzdem für den kleinsten Kompromiss hielt und sie voraussichtlich auch weiter wählen werde, wo immer es die 5%-Hürde gibt.
Ich fand übrigens auch Die Partei wieder mal sehr nützlich mit ihrem Briefwahl-Tool und dem Ersatz für den Wahlomaten, und bei aller Kritik schätze ich sie schon immer wieder als widerborstiges Element im EU-Parlament, das oft den Blick auf Themen lenkt, die sonst untergehen oder das scharfes Konter gibt. Wählen würde ich sie nicht, aber ich bin mir eh sicher, dass sie es wieder reinschaffen.
Und apropos Wahltools: Neben dem Wahlomaten, der inzwischen wieder online ist, fand ich den Voteswiper, der kein 8-Parteien-Limit hat, ganz gut. Ich schätze diese Tools dafür, dass sich recht übersichtlich Begründungen der Parteienpositionen zu einzelnen Punkten nachlesen lassen. Die 200-Seiten-Parteiprogramme sind mir denn doch too much. Und es lohnt sich wirklich, nicht einfach nur die zahlenmäßige Übereinstimmung anzugucken, sondern die Begründungen zu lesen! Ein Beispiel: Bei der Frage “Soll die EU die Laufzeiten für Atomkraftwerke auf 40 Jahre begrenzen?” war für mich der Fokus auf “begrenzen” und als jemand, die einen möglichst frühen Atomausstieg will, habe ich “Ja” angeklickt. Aber unter den Parteien, die einen schnelleren Ausstieg wollen, gibt es sowohl welche, die hier “Ja” angeben als auch welche die “Nein” angeben – gemeinsam haben sie, dass sie in ihrer Begründung schreiben, dass ihnen 40 Jahre zu lang sind. Die einen werden dann halt als mit deiner Position übereinstimmend gewertet, die anderen nicht.
Jo. Das war’s mit meinen halbgaren Gedanken zur Wahl. Ihr könnt gerne auch eure mit mir teilen. Ich höre da ja immer auch gerne andere Ansichten, auch wenn es nicht immer gut für meinen Puls ist. ^^
Ach ja, das Bild oben ist von Wolfgang Tilmans Insta: “I don’t want to wake up in a Europe like this.”
Und jetzt stürze ich mich in ein sehr spätes Frühstück und mach mich an’s Musik raussuchen. Falls ihr in Nürnberg seid, heute Abend lege ich mit Ramshackle bei HERE auf!