Kill All Normies – ein Faszinationsproblem

Eine englische Version dieses Posts ist hier veröffentlicht worden und eine tl;dr Version wird es in Druckform geben, in Analyse & Kritik.

“this is not a book about the alt-right. It is an anti-Left polemic.”
Jordy Cummings

‘the centre’ – as a proclaimed area of shared, sensible assumptions about the values, needs and possibilities of a political community, defined against threatening ‘extremes’ – is a frequently remade fiction, masking specific ideological commitments and positioning
Tom Crewe

Jetzt halt doch noch, ewig spät, ein paar Worte zu Angela Nagles Kill All Normies. Anlass ist, dass immer noch und immer wieder ärgerlicherweise neue Texte veröffentlicht werden, die sich kritiklos darauf beziehen. Aktuell gab mir den Anstoß ein Artikel von Klaus Walter, der einfach Nagles (wiederum von der Alt-Right-Selbstdarstellung kritiklos übernommene), These übernimmt, Alt-Right sei der neue Punk.
Manchmal wird in diesen Texten das Wörtchen “umstritten” eingebaut, eine Art magische Formel, die zwar signalisiert, dass geahnt wird, dass Kritik angebracht wäre, aber die gleichzeitig davon befreit, diese zu leisten. Ich würde mir bei dem Bekanntheitsgrad, den Kill All Normies inzwischen erreicht hat, aber eher wünschen, dass dieses Buch so kritisch diskutiert und zerpflückt würde wie der Sokal (Squared) Hoax und einen kleinen Beitrag dazu möchte ich hier leisten.

Keine Quellenangaben, gehässiger und schludriger Stil

Ein Grund dafür wäre schon allein Nagles “sloppy sourcing”: Es gibt keine Quellenangaben in diesem Buch. Das macht nicht nur eine Verifizierung schwierig, sondern es ist auch kaum möglich, Aussagen zu kontextualisieren. Libcom haben sich die Mühe gemacht, Quellen nachzuspüren, und ihnen ist aufgefallen, dass es Stellen gibt, die im Wortlaut Wikipedia-Einträgen gleichen. Wenn man so vorgeht, kann es denn schon mal passieren, dass man einfach die Selbstbeschreibung eines Faschisten übernimmt. In Nagles Fall Aleksandr Dugins Beschreibung seines eigenen Buches. Ähnlich Problematisches hat Charles Davis zusammengetragen, zum Beispiel dass Nagle Ereignisse basierend auf News-Artikeln beschreibt, die sie nicht zitiert, aber dabei die Stellen der Artikel weglässt, die nicht ihr Argument stützen (z.B. ihre Behauptung, dass Campus-Linke zunehmend unvernünftig und unzumutbar agieren würden).

Auch die boulevardjournalistische bissige Ausdrucksweise, die Kill All Normies prägt, einige Rechtschreibfehler und insgesamt ein Schreibstil, dem man die Schnelligkeit anmerkt, mit der dieser Text heruntergeschrieben wurde, finde ich kritisierenswert. Es wurde anscheinend kaum Arbeit ins Editieren gesteckt und, wie gesagt, auf überprüfbare Quellenangaben verzichtet. Das ist vielleicht für eine Bloggerin wie mich okay, die nicht viel Zeit und keinen redaktionellen Background und Ressourcen hat, aber für ein veröffentlichtes Buch, das inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt erschienen ist, und nun in großem Ausmaß die Runde macht und selbst von Menschen mit akademischem Background als angeblich seriöser Beleg verwendet wird, ist es eigentlich ein No Go. Ich kann nur annehmen, dass der Verlag Zero wohl darauf gesetzt hat, dass ein so reißerisches Werk ihm auch in dieser schludrigen Version aus den Händen gerissen wird. Und das hat ja auch geklappt. Clickbait in Buchform.

Jules Joanne Gleeson ordnet das Buch genremäßig ganz treffend als “Reiseerzählung für Internetkultur” ein, den exotisierenden Aspekt beschreibend: “Kill All Normies wirft einem Publikum, von dem sie erwartet, dass es das Erzählte als fremd und pikant empfindet, mit einer Reihe von Kuriositäten und Seltsamkeiten (von Neonazikults bis zu Teenagern mit undurchschaubaren Gendern) vor. Nagle versucht, sich selbst als distanzierte und ironische Forscherin darzustellen, aber an verschiedensten Punkten wird all zu klar, wo ihre Interessen liegen.”

[Hinweis: Die groben Übersetzungen aus dem Englischen sind alle von mir, die englischen Originaltexte zum Nachlesen verlinkt.]

Ablehnung des Femininem, internalisierte Misogynie

Nagles Buch durchzieht eine Ablehnung des Femininen und von Verletzlichkeit. Sie ist spürbar genervt von Feminist*innen und liest sich, als wäre sie gern “one of the guys”, a “cool girl”, es riecht hier geradezu nach internalisierter Frauenfeindlichkeit. Sie schafft schon allein in kleinen sprachlichen Details eine subtile Stimmung gegen Personen, die sie dem Tumblr-Liberalism zuordnet. So beobachtet z.B. Jordy Cummings dass Nagle bei Denkern, die sie schätzt, deren Titel (z.B. “Doktor” oder “Professor”) verwendet, aber bei Leuten wie Judith Butler den Titel weglässt.

Um Gamergate, eines der Initialereignisse im Entstehen der Alt-Right zu beschreiben, hält sie es doch tatsächlich für hilfreich, Folgendes zu schreiben:

“Gamergate itself kicked off when Zoe Quinn created a video game called Depression Quest, which even to a nongamer like me looked like a terrible game featuring many of the fragility and mental illness-fetishizing characteristics of the kind of feminism that has emerged online in recent years. It was the kind of game, about depression, that would have worked as a perfect parody of everything the gamergaters hated about SJWs (social justice warriors).
Nevertheless, her dreadful game got positive reviews from politically sympathetic indie games journalists, which turned into a kind of catalyst for the whole gamergate saga.”

Das sei auch mal deswegen in dieser Länge zitiert, damit ihr einen Geschmack von ihrem Stil bekommt. Wie Noah Berlatsky dazu anmerkt: Kein Wort darüber, dass Zoe Quinn selbst unter Depression litt, und dass die Tatsache, dass ihr Spiel sich um Traurigkeit und Zerbrechlichkeit dreht – und damit weiblich kodiert ist – einer der Hauptgründe war, warum sie dem Gamergate-Mob so ein willkommenes Opfer war (Quinn war eine der Frauen, die im Rahmen von Gamergate unter den massivsten misogynen Attacken zu leiden hatte).

An manchen Stellen, an denen Nagle so verächtlich über das offene Zeigen von Verletzlichkeit schreibt, wartete ich fast drauf, dass sie selbst gleich die Beschimpfung “snowflakes” verwendet. Wenn sie über die vermeintliche Schwäche einer Frau wie Zoe Quinn schreibt, die sich über Jahre hinweg mit Mord- und Vergewaltigungsdrohungen und dem Ausbreiten privater Details in der Öffentlichkeit herumschlagen musste, erschreibt sich Nagle dabei gleichzeitig implizit selbst als tough-minded Kritikerin von Feminismus und jedes Zeigens von Verletzbarkeit, und: als sehr konservativ, was Gender Politics angeht.

Sie beschreibt die Hässlichkeit rechter Propaganda im Netz schon deutlich, aber es klingt immer wieder durch, dass sie einen Tick zu viel Verständnis für die Alt-Right und Sexisten der Manosphere hat. So zum Beispiel wenn sie über die Wurzeln der Incels schreibt. In ihrem Kapitel über die Manosphere übernimmt sie unkritisch die Theorie der Incels, dass die sexuelle Revolution zu einer “steilen sexuellen Hierarchie” geführt habe und beschreibt den Rückgang von Monogamie ebenso unkritisch als Ursache für eine “Hackordnung” unter Männern, wie Donald Parkinson aufgefallen ist: “Die Idee, dass diese Männer einfach keinen Sex abkriegen und deswegen dazu verdammt sind, so reaktionär zu sein, nährt perfekt die Ideologie von Reddit Incels.” Es wundert kaum, dass Nagle auch Jordan Peterson nicht besonders kritisch sieht, der ja vergangenes Jahr mal Monogamiezwang als Lösung für misogyne Gewalt vorgeschlagen hat. Auch Jonathan Haidt feiert sie natürlich ab.

Was ich dem Büchlein zu gute halten ist, ist, dass es viele Subszenen dessen, wie sich die rechte US-Szene online darstellt, und ein paar feine Unterscheidungen vorstellt, aber das haben andere auch schon geleistet, und sachlicher. Nagles nerdige Faszination hat Schlagseite. Sie geht ellenlang auf Pat Buchanan und Milo Yiannopolous ein, zitiert diese auch wörtlich und übernimmt deren Thesen über einen angeblichen Autoritarismus der Linken, aber ihre Darstellung der Linken? Wow. Da erschreibt sie durch grobe Vereinfachungen und durch stimmungsmachende Beschreibung, wie zum Beispiel die (Vokabeln wie ”hysterisch”, “empfindlich”, “absurd” fallen immer wieder; sie nutzt die durch Feminisierung abwertende Sprache, die auch die Alt-Right nutzt) und durch Auslassungen überhaupt erst das undifferenzierte und unzutreffende Bild einer geschlossenen, allgegenwärtigen hypersensiblen PC-Zensur-“Linken”, das sie für ihre These braucht.

Konstruktion und Dämonisierung einer imaginären Linken: “Tumblr Liberalism”

Eine solche Auslassung ist es zum Beispiel, wenn sie, um die “Linke” als anti-free speech Bewegung darzustellen, die Proteste anlässlich des Besuchs von Milo “Feminism is cancer” Yiannopolous in Berkeley nur als Angriffe auf Redefreiheit beschreibt, aber mit keinem Wort erwähnt, dass der wichtigste Grund dafür, dass die Proteste so drastisch ausfielen, der war, dass Yiannopolous angekündigt hatte, dass er in seiner Rede Immigrant*innen ohne Papiere namentlich outen und so der Abschiebung preisgeben wollte, und er seine Fans aufrief, es ihm gleichzutun. Ein Angriff auf die Verletztlichsten unserer Gesellschaft, wie Andrew Stewart schreibt, und sich dem radikal entgegenzustellen, sich für diese konkret bedrohten Menschen einzusetzen, war das Anliegen der Protestierenden. Das in ihrer Beschreibung der Ereignisse einfach wegzulassen, ist schlicht verfälschend. Angela Nagle stellt sich hier auf die Seite eines Free Speech Absolutismus, und schlimmer noch: obwohl es auch ein Kernthema der rechten Propaganda ist, setzt sie ihre Haltung als Status Quo, und Gründe dagegen interessieren sie nicht. Es gibt noch weitere Beispiele, wie Nagle Campus-Konflikte einseitig und mit Auslassungen arbeitend darstellt, um sie als “anti-free spech” Zensur statt als politischen Protest darzustellen. Diese könnt ihr z.B. in Richard Seymours “The negative dialectics of moralism” finden.

So wie sie hier die komplexeren Hintergründe weglässt, geht Nagle auch vor, wenn sie progressive linke Ansätze, auf Diskriminierungspolitik im Alltag fokussierte Identitätspolitics und neoliberale Diversity-Ansätze und viele mehr einfach in einen Topf wirft und einen “Tumblr Liberalism” daraus konstruiert: Sie beschreibt ihn nur aus – meist verkürzt dargestellten – Extrembeispielen heraus: hyperempfindliche Call-Out Culture ist ihr Lieblingspunkt, ohne dass sie belegen kann, dass das tatsächlich den Großteil der Online-Linken prägt, und dass es sich nicht nur um einen kleinen, nicht repräsentativen, aber halt sehr lauten Teil handelt. Alltägliche Diskriminierungserfahrungen, die oft selbst in progressiven linken Kreisen ignoriert wurden, und aus denen heraus ”Identitätspolitics” entstanden, werden nicht erwähnt. Der nebulöse Tumblr-Liberalism erscheint aus einer emotionalisierten irrationalen Empfindsamkeit heraus geboren, die sie bestenfalls schlampig irgendwie auf Ideale der Hippiebewegung, die Mainstream geworden seien, zurückführt, dabei Rassismus, Antisemitismus, Ableismus u.ä. außen vor lassend.

Ich finde es faszinierend, wie Nagle sich selbst, wie gesagt, in Kill All Normies als empathiefreie Vernunft, eine Art Common Sense des Bothsideism, erschreibt, dabei implizit eine Leserschaft anvisierend, die sich selbst so sieht, als neutrale Position, eine Leserschaft, die sich höchstens wenig mit Diskriminierungserfahrungen auseinandersetzen muss und will. Sich als neutrale Position zu setzen, eine solche Anmaßung der Objektivät, ist leider ein häufiger Move, mit dem sich die bürgerliche Mitte als neutrale Stelle zu setzen, und weiße westliche Philosophie ihrer eigenen Verflechtung in Machtverhältnisse und Diskriminierungsgeschichte zu entziehen versucht. Anyway.

Noch ein Beispiel dafür, wie Nagle ihr linkes Feindbild konstruiert, ist ihr Lächerlichmachen von Ideen der Gender Theories, dem sie viel Raum gibt. Dass sie gleich zwei Seiten ihres auf mehreren Ebenen dünnen Büchleins einer Liste von Genderbegriffen von “gender-bending Tumblr users” widmet, spricht allein schon Bände: Es signalisiert ein “schaut euch diese Spinner an!” an die Leserschaft. Diese Liste als angeblich repräsentatives Beispiel zu setzen, ist hanebüchen. Da es keine Quellenangaben gibt und Nagle auf eine Anfrage nicht reagierte, haben Libcom auch hier selbst recherchiert und Nagle dürfte die Liste entweder von einer im Kontext von Gender-Tumblr klar als “list of poorly-attested nonbinary identities” bezeichneten Liste haben, oder von einem Alt-Right Forumthread, in dem sich User über die Liste lustig machten. Andere Quellen sind im Netz dazu nicht zu finden.

Ein weiteres Beispiel wäre ihr empathieloser Spott über Spoonies, eine Bezeichnung für Menschen, die mit einer chronischen Krankheit leben, meist mit Fokus auf jene, deren Krankheiten ihnen nicht anzusehen sind, und Menschen mit chronischen Schmerzen. Wer mehr dazu wissen möchte, z.B. Amanda Hess hat darüber geschrieben, wie sich unter dem Spoonie-Begriff auf Social Media Menschen gegenseitig austauschen und unterstützen, die oft niemanden sonst kennen, der ihre Erfahrungen als Crohn- oder Lupus-Kranke nachvollziehen kann. Wo früher nur offline Selbsthilfegruppen solche Austauschmöglichkeiten boten, ist das heute online leichter geworden und es wird offensiver damit umgegangen statt die Krankheit voll Scham zu verstecken. Aus der Not wird eine eigene Subkultur gemacht und der Löffel wurde zum Symbol auf Tassen, Schmuck oder Shirts, an dem man sich leicht gegenseitig wiedererkennt – wie oft in der Geschichte von gesellschaftlich Marginalisierten.

Nagle schreibt nichts über die positiven Aspekte, sondern stellt es lediglich als einen “cult of suffering, weakness and vulnerability” dar, deutet sogar an, dass die Krankheiten erfunden seien, wieder alles in negativer Extremform: “Young women, very often also identifying as intersectional feminists and radicals, displayed their spoonie identity and lashed out at anyone for not reacting appropriately to their under-recognized, undiagnosed or undiagnosable invisible illnesses or for lacking sensitivity to their other identities.” Irgendwie klingt sie echt oft wie so ein alter verbitterter Mann, der die Jugend von heute nicht packt. Oder wie Josh Davies etwas sachlicher feststellt: ”Nagles Fokus darauf wie Sachen gesagt werden, und ihr Widerwille, über die Politik und die Prozesse hinter dem, was gesagt wird, nachzudenken, führen dazu, dass sie anscheinend eine ähnliche Haltung zu Gender annimmt wie jene vieler Konservativer, die sie eigentlich kritisch sieht: Gender-Nichtkonformität ist etwas Fremdes, Esoterisches und Frivoles. So wie ihr Argument hier präsentiert wird, unterscheidet es sich kaum vom transphoben “I sexually identify as an attack helicopter” Meme, das quer durch’s Internet von edgy Verteidigern der Heteronormativität immer wieder hochgewürgt wird.”

Donald Parkinson weist darauf hin, dass Fans des Buches auf negative Reaktionen auf Kill All Normies aus der Ecke, die sie als “Social Justice Tumblr und Twitter” bezeichnen, reagieren, als wäre deren Kritik ein Beweis dafür, wie “empfindlich” und “hysterisch” diese Leute seien. “Was es aber tatsächlich beweist, ist, dass Linke keine Fans von konservativer Genderpolitik und dem Verspotten von Menschen mit Behinderung sind, was stimmt und womit sie auch recht haben. Der Grund dafür, warum Tumblr ID Politics existieren, ist, dass Leute tatsächliche Unterdrückung in ihren alltäglichen Leben erfahren, und ein Mangel an kollektiven Lösungen führt Menschen zu individualistischen Methoden, das zu bewältigen.”

Dass Teile dieser Kultur auch toxische Züge aufweisen, mit Gängelungen bestimmter Ansichten und Shaming und Call Out Culture, mag nicht von der Hand zu weisen sein, aber erstens gibt es negative Extreme auch bei jeder anderen politischen Kultur, wo sie nicht mit einer solchen Gehässigkeit kritisiert werden, die mich automatisch fragen lässt, worum es dieser Kritik eigentlich geht. Und zweitens: Den rechten Mythos zu übernehmen, dass es sich dabei um ‘die herrschende Elite’ handle und die Rechten quasi nur aus Notwehr so radikal würden, verkennt komplett, dass – so auch Donald Parkinson – es schon immer eine Taktik der Rechten war, sich auf Extremfälle zu berufen um progressive linke Anliegen zu dämonisieren.

Der Rechten in die Hände spielend, die damit einen Haken in die Mitte der Gesellschaft auswirft, übernimmt Nagle deren Jargon und Argumentation viel zu oft blindlings, noch mal ein Auszug aus Kill All Normies:

“This anti-free speech, anti-free thought, anti-intellectual online movement, which has substituted politics with neuroses, can’t be separated from the real-life scenes millions saw online of college campuses, in which to be on the right was made something exciting, fun and courageous for the first time since… well, possibly ever. When Milo challenged his protesters to argue with him countless times on his tour, he knew that they not only wouldn’t, but also that they couldn’t. They come from an utterly intellectually shut-down world of Tumblr and trigger warnings, and the purging of dissent in which they have only learned to recite jargon.”

Ist das noch ‘rationale’ Kritik an links, oder schon Werbung für die Alt-Right?

Was bei Nagle keine Erwähnung findet, ist die Diversität der linken und linksliberalen Gruppierungen, sind die zahlreichen, ausführlichen und kontroversen Diskussionen, die typisch für die meisten linken Online-Subkulturpraxis sind, und aus denen sich Ansätze immer wieder weiterentwickeln. Außerdem “on the Internet, nobody knows you’re a dog”: Es wird auch nicht erwähnt, dass hier, wenn auch wahrscheinlich keine Hunde, so doch teilweise Kids unterwegs sind, die Fanfic und Memes mit politischem Herumtheoretisieren vermengen, teilweise Selbsthilfegruppen sich gegenseitig mit ihren Problemen helfen wollen, teilweise Lai*innen ohne akademische Bildung versuchen, sich mit komplexen Theorien auseinanderzusetzen und aus ihnen Hilfe für eine politische Praxis im konkreten Alltag zu ziehen, und so weiter und das alles steht neben akademischen politischen Diskussionen und all das wird bei ihr gleichgemacht und erscheint bei ihr als eine Art völlig homogener dogmatisch-festgefahrener irrationaler Tribalismus, ein linkes Feindbild. Bei Nagle fällt sogar auch Hilary Clinton drunter, weil sie im Wahlkampf Begriffe wie “check your privilege” verwendet hat.

Dass Neoliberale viele progressive, konstruktive und nuancierte Ansätze kommodifiziert haben, und sie dabei auf Schlagworte verkürzt haben, wie im Marketing von Parteienpolitik bis zu Produkten, heißt nicht, dass diese Ansätze in ihrer radikaleren Form nicht berechtigt und sinnvoll sein könnten – es lohnt sich, zu differenzieren. Linke zeichnet es ja aus, dass ein Hive Mind immer wieder reflektiert, diskutiert, kritisiert, verwirft und weiterentwickelt, wie eine bessere Zukunft für alle erreicht werden könnte. Und ein klassenbasierter intersektionaler Feminismus zum Beispiel, der wie Andrew Stewart auch ganz richtig bemerkt, eine effektive Opposition zur Alt-Right sein kann, wird bei Nagle auch mit keinem Wort erwähnt.

Noch mal Josh Davies dazu: “Nagles pauschale Verallgemeinerungen verschleiern nicht nur ihre Unterschiede, sondern machen jegliche Auseinandersetzung mit der Geschichte und den politischen Ansätzen all der Bestandteile des amorphen ‘Tumblr Liberalism” unmöglich. Für ein Buch, dass sich so sehr auf die angebliche Unfähigkeit der Linken fokussiert, Ideen zu generieren und zu hinterfragen, liest es sich oft wie eine Einladung, nicht zu denken.

Ich musste bei diesem Buch oft an die (fast hätte ich “umstrittene” geschrieben! ^^) Essay-Sammlung Beißreflexe denken, und mir kam jetzt beim Schreiben in den Kopf: Eigentlich ließe sich Kill All Normies ganz wunderbar entlang der sieben Punkte durchanalysieren, die Floris Biskamp in der ultimativen Beißreflexe-Besprechung ausführt: Die Verallgemeinerung von Besonderem, alarmistische Übertreibung, die Effekte der Vereinheitlichung, unsichtbare Macht und ignorierte Handlungsfähigkeit, unverstandene Privilegienkritik, verdrängte Rassismuskritik, die Pathologisierung der Anderen. Zeit dafür, das im Detail auszuführen, habe ich leider nicht, aber es ist erstaunlich, wie diese Kritikpunkte auch auf Kill All Normies passen.

Begrenzter und Selbstinszenierung übernehmender statt kritisch und historisch einordnender Blick auf die Alt-Right

Nagle hat nach Kill All Normies inzwischen auch einen Text namens ‘The Left case against Open Borders’ veröffentlicht, in dem sie die Working Class gegen Immigrant*innen ausspielt und die linke Idee von Globalisierung mit deren neoliberalem Zerrspiegel gleichsetzt. (Den Gegensatz haben immer noch die Goldenen Zitronen am besten poetisiert auf den Punkt gebracht: “Über euer scheiß Mittelmeer käm’ ich, wenn ich ein Turnschuh wär’.”) Mit diesem Text hat sich Nagle dann auch von dem Weißnationalisten Tucker Carlson in einem Interview in dessen Show instrumentalisieren und feiern lassen. Ich weiß nicht, ob sie so naiv oder so ignorant ist, die rassistische, antisemitische, sexistische und nativistische Ideologie der Rechten nicht ernst zu nehmen, oder ob sie schlicht nichts dagegen hat, ihnen in die Hände zu spielen, Querfront quasi.

Auch Kill All Normies bekleckert sich hier nicht mit Ruhm. Es fehlt das Thema Rassismus, es fehlt auch die Verbindung zu älteren Trends der englischsprachigen Rechten, wie z.B. English Defence League oder National Action, kritisiert Jules Joanne Gleeson. Ebenso fehlt ein Aufzeigen der Vernetzung der Alt-Right über geographische Grenzen hinweg, zu Gruppen wie Griechenlands Golden Dawn oder Frankreichs Génération Identitaire, was ist mit internationalen Verknüpfungen zu Putins sogenannter Trollarmee oder dem Erfolg von Hindutva? Was ist mit Überschneidungen zum Counter-Jihad Movement, das sich auch stark online aktiv war? Und Gleeson bemängelt explizit: “Unglücklicherweise ist eines der anderen größten Versäumnisse des Buches das Fehlen einer dezidierten Behandlung von Antisemitismus.” Sie kommt darüberhinaus zum Schluss: “Nagle verlässt sich auf ein Schema, das von der Alt-Right selbst produziert wurde: der Trennung der richtigen Alt-Right (Hardcore Nationalsozialisten und White Supremacists) und Alt-Light (die größtenteils offensichtlichen Rassismus vermeiden, und stattdessen einen ‘zivilisierteren’ westlichen Chauvinismus einsetzen). Nagle entgeht es, zu bemerken wie diese Unterscheidung von der Alt-Right selbst instrumentalisiert eingesetzt geworden ist.

Sie analysiert die Taktiken der Alt-Right nicht als solche, und zeigt nicht auf, dass neben einem Dämonisieren von Gender Theories und Feminismus, von linker Kritik als Zensur, auch ein großes Propagandathema z.B. der Versuch der Alt-Right ist, ein Revival der amerikanischen Kommunismuspanik zu schüren, sowohl über das Aufkochen der antisemitistisch konnotierten Hetze gegen einen “Kulturmarxismus” oder direkt als Angst vor einer kommunistischen Revolution, als Red Scare Revival, worüber z.B. Jack Smith IV schrieb. Das ist auch weder neu noch internetspezifisch, sondern sollte historisch eingeordnet werden. Wie Smith IV feststellt: “Die Rhetorik ist antiquiert, aber der Zweck bleibt derselbe: Protest als Subversion darzustellen, den Kampf für Bürgerrechte zu unterhöhlen und die Linke davon abzuhalten, die Grenzen dessen zu erweitern, was in Amerika möglich ist, indem sie die Grenzen dessen überwacht, was es bedeutet ein Ameriker zu sein.”

Es ist bemerkenswert, dass, so Donald Parkinson, Nagle letztlich in ihrer Version davon, wie es zur Alt-Right kam, eine Herangehensweise nutzt, die viel mehr mit “liberal” Kulturtheorien gemein hat, als mit dem materialistischen Ansatz, den sie sich gerne selbst unterstellt. Es bleibt in Kill All Normies bei einer Analyse entlang ihrer Transgressionstheorie, es geht nicht um Klasse und Ökonomie. (Das verleiht auch der Vorliebe der linken Materialismus-Ecke für Nagles Buch eine gewisse Ironie.) Nagles Auseinandersetzung bleibt auf Online-Diskurse beschränkt und – so auch Donald Parkinson – Nagles Hauptproblem mit den Identitätspolitics des Tumblr-Liberalismus ist durch’s ganze Buch hindurch deren “Überempfindlichkeit” und “Extremismus” und nicht, dass sich damit Ausbeutung und Unterdrückung nicht adäquat ansprechen lassen würden.

Digital Dualism und fehlende Analyse der digitalen Mechanismen

Die Beschränkung ihrer Betrachtungen auf Onlinepräsenz (und Marketingstunts) führt Nagle zu Kapitelüberschriften wie “The joke isn’t funny any more – the culture war goes offline”. Sie scheint ganz im Denken des Digitalen Dualismus zu stecken, zwischen “realer” Offlinewelt und “virtueller” Onlinewelt zu trennen, wenn sie Formulierungen verwendet wie “spills into real life”. Erst war die “leaderless internet revolution”, dann die “identity politics” und als Antwort darauf der “irreverent trolling style associated with 4chan” und dann war das Netz so voll, dass es überlief und aus Tumblr auf den Campus floss usw. Vielleicht sollte einfach wer einen Stöpsel in die rechten Teile des Internets machen, und der ganze rechte Hass bliebe drin.

Da Nagle das Offlinewirken der Rechten ignoriert, übersieht sie wichtige Zusammenhänge und unterschätzt deren Gefährlichkeit und Wirkzusammenhänge. Donald Parkinson weist auf diese Schwäche von Kill All Normies hin: “Ideologen wie Richard Spencer und Kevin MacDonadl haben ihre Think Tanks und Affinity Groups schon seit einiger Zeit, und wie die Ereignisse von Charlottesville zeigen, sind sie gewillt, ihre Ideen ‘auf die Straße’ zu tragen. Es gibt einen Mangel an Informationen über die Alt-Right wie sie [offline] existiert. … Es wird nichts über die Anstrengungen von White Supremacist-Organisatoren wie Identity Europa oder Traditionalist Workers Party geschrieben, Studentenverbindungen und Arbeiter im ländlichen Raum zu organisieren, oder darüber, was für Visionen diese Gruppen haben (eine Balkanisierung der Vereinigten Staaten und die Erschaffung eines komplett weißen ‘Ethno-Staats’ ist eine gängige davon). Stattdessen präsentiert Nagle die Alt-Right nur als ein Onlinephänomen, obwohl diese Leute diese Politik schon seit Jahren promotet haben.”

Vielleicht ist es das Fehlen dieses breiteren Kontexts, der Nagle auch vernachlässigen lässt, wie taktisch die Anwerbung und Radikalisierung der Rechten online angelegt ist. Sie ist eben nicht einfach nur ein reflexhaftes Reagieren auf “politically correctness gone mad”. Selbst wenn ich darüber hinwegsehen würde, dass sie keinen Bezug zu Offline-Organisation und Offline-Wirken rechter Gruppierungen herstellt, würde ich von einem Buch, das sich in seiner Analyse auf Onlinediskurse beschränkt, doch auch wenigstens ein Kapitelchen zu dem Thema erwarten, was Aufmerksamkeitsökonomie, Social Metrics, Viralität usw., also was die spezifischen Strukturen und Mechanismen der gängigen Plattformen für Onlinekommunikation und -vernetzung zu Extremisierung beitragen. Dieses Thema findet auch keinen Raum in Kill All Normies.

Wen das interessiert, hier zwei Lesetipps (das copy+paste ich hier mal aus meinem Matrix und die Manosphere-Vortragsskript rein), aber Content Warning: Ist beides nicht so reißerisch geschrieben wie Kill All Normies:

1.) Julia Ebner zählt in ihrem Essay “Counter-Creativity” in Sociotechnical Change from Alt-Right to Alt-Tech drei taktische Ziele auf:

  • Radikalisierungskampagnen die an mögliche Sympathisanten gerichtet sind,
  • Manipulationskampagnen, die auf den gesellschaftlichen Mainstream gerichtet sind, und
  • Einschüchterungskampagnen, die politische Opponent*innen absehen.

In den rechten sozialen Netzwerken werden Anleitungen geteilt, strategische Dokumente, in denen erklärt wird, wie man Gespräche anfangen kann, Vertrauen aufbaut, weitverbreitete Missstände ausnutzen kann und wie man die Sprache auf die Person zuschneidert, der man seine Ideologie nahezubringen versucht.

2.) Alice Marwick und Rebecca Lewis erklären in ihrem hervorragenden Reader Media Manipulation and Disinformation Online, wie ein Amalgam aus Verschwörungstheoretikern, Tech-Libertären, weißen Nationalisten, Männerrechtlern, Trollen, Anti-Feministen, Anti-Immigrations-Aktivisten, und gelangweilten jungen Leuten die Techniken der partizapatorischen Kultur und den Angriffspunkten von Social Media einsetzen um ihre Überzeugungen zu verbreiten. Sie nutzen die Möglichkeiten, die ein wegen Werbungsfinanziertheit auf Aufmerksamkeitsökonomie hin strukturiertes Internet bietet, um gezielt Schwächen im Newsmedienökosystem auszunutzen. Da wird sich dann auch alles mögliche von Marketing- und Medientheorie Texten bis zu CIA-Trainingsmaterial geteilt.

(Wer mehr dazu hören statt lesen will, kann gerne zu meinem nächsten Vortragstermin von “Matrix und die Manosphere – verletzte und vernetzte Männlichkeit als Einstieg zur Radikalisierung nach Rechts” kommen: 28.3. in der Kantine Nürnberg, Eintritt ist frei.)

Aber zurück zum Thema: Kurz, wie Richard Seymour schreibt: “Was bestimmt nicht gebraucht wird, sind die zunehmend abgedroschenen Angriffe auf den Strohmann ‘Identitätspolitik’, sondern … was gebraucht wird, ist ein Bericht darüber, wie Aufmerksamkeit gewonnen, erhalten, gekauft und verkauft wird; wie Onlinepolattformen strukturiert sind und in ihren Effekten auf Nutzer*innen strukturierend wirken; wie existierende soziale und kulturelle Tendenzen von diesen Technologien ausgewählt und akzentuiert werden… Was dieses Buch liefert, ist, traurigerweise, ein Kreis um die gewohnte, schon gut ausgetretene Terrain, nicht nur was seine Theorie anbelangt, sondern auch was sein unreflektiertes ‘Backlash’ anti-moralisierendes Moralisieren betrifft. Es erhält die Dynamiken aufrecht, die es zu sezieren behauptet, Gezeter und Beschämen.”

Transgression in der bürgerlichen Mitte und deren Faszinationsproblem mit der neuen Rechten

Der zentrale Punkt, den Nagle machen will, ist, dass die Kultur der Grenzüberschreitung, der Transgression, die lange Zeit ein typisch linkes Mittel war, heute von rechts gekapert worden ist. Sie begründet das wie gesagt damit, dass die Mainstreamkultur so eine Art Political-Correctness-Gone-Mad eines von ihr konstruierten Tumblr-Liberalismus sei und dass darauf eben viele, die sich das nicht gefallen lassen wollen, mit einem Anti-Politische-Korrektheit-Move reagierten und sich zu Rechten radikalisierten.

Gegenkultur, Nonkonformistisches, die ganze Idee kleiner Subkulturen mit ihren Codes ist Nagle spürbar zuwider. Das trieft aus jeder Pore dieses Buchs. Bei Neocons gerät sie dagegen fast ins Schwärmen “intellectually equipped and rhetorically gifted”, “smart”, das sind Vokabeln für diese, und Milo Yiannopolous ist eine Figur, die sie sichtlich sehr fasziniert (satte 71 mal wird er auf den 247 Seiten erwähnt, und letztlich ist ihr Bild der Alt-Right auch schlicht von seinem vor ein paar Jahren erschienenen Definitionstext dazu auf Breitbart übernommen).

Nagles Ablehnung fußt unter anderem darauf, dass transgressive Kultur nicht populär, nicht für die Massen, sondern inhärent elitär sei und gegen die Working Class arbeite. Jordy Cummings empfiehlt als Entkräftung die Lektüre von Brian Palmers Cultures of Darkness: “Palmer erklärt, mit enormem und namhaftem Backing, dass es genau in den transgressiven Räumen war, – von prä-20.-Jahrhundert Freimaurerei bis zu langen Nächten am DJ Pult, von Kink Culture bis zu Tarotkarten, von spätnächtlichen Gewerkschaftsbeisammensein und betrunkener, zugekiffter Ausgelassenheit – wo die revolutionären und emanzipatorischen Ideale geformt wurden, durch aufrichtige Freundschaftlichkeit, die über den Versammlungsraum und den Streikposten hinausging. … durch die Geschichte des Kapitalismus und seine begleitende Geschichte des Arbeitskampfes würde man sich hart tun, auch nur eine soziale Bewegung gegen kapitalistische Sozialverhältnisse zu finden, ohne dass diese in irgendeiner Form in transgressiver Gegenkultur wurzelte.“ Die Verbundenheit stärkende und ermutigende Kraft, die darin steckt, wird oft in der Kritik als bloße “Identitätspolitik” gebrandmarkt und verkannt.

Und, das hier mal am Rande festgehalten: Bei aller zum Teil verständlicher Kritik an überzogenen Aspekten der sog. Identity Politics: Nötig sind sie geworden, weil die Probleme von Marginalisierten immer nur der “Nebenwiderspruch” blieben und diskriminierende Strukturen auch innerhalb der Linken aufrechterhalten wurden und werden. Linker Tumblr-Queerfeminism-&-Crip-&-Spoonie-Politics usw hat vielen heutzutage überhaupt erst Politik wieder als etwas eröffnet, das ihren Alltag betrifft und das sie aktiv mitformen können. Er hat vielen, die auch in linken Szenen marginalisiert waren, Räume zum Mitreden und zur Beteiligung eröffnet. Das ist etwas, was die ganzen weiß/cis-männlich/heterosexuell/able-bodied-dominierten Politzirkel nicht geschafft haben, in ihren um sich selbst kreisenden endlosen komplexen und abgeschotteten Theoriediskussionen oder in ihren Folk Politics rund um die Arbeiterrevolution. Diese Lust auf politische Beteiligung gilt es doch bitteschön dankbar aufzunehmen, freundschaftlich zu diskutieren, weiterzuentwickeln, sich einander anzunähern und zu ermutigen, und nicht sarkastisch zu bashen!

Aber zurück zur Transgression: Ich würde hier mal gerne wild herummeinen, dass das Problem nicht die Transgression als Kulturtechnik einer wie auch immer gearteten Linken war, genau so wenig, wie die Rechten der neue Punk sind, sondern dass die neoliberale bürgerliche Mitte Transgressionskultur aufgegriffen und zum Mainstream gemacht hat, einhergehend mit einer Radikalisierung des Kapitalismus.

Grenzen überschreiten, Ironie, Tabubruch – dass das zum Mainstream geworden ist, von Politik, Brands, Medien und Marketing verwendet wird, bis die zynischen Grenzen des Sagbaren und Zeigbaren so weit offen waren, dass rechte Ideologie dran anknüpfen konnte, weil niemand mehr nichts als “krass” oder “überraschend” empfindet, scheint mir viel eher das Problem zu sein. “Disrupt Everything” als gesellschaftlicher, als sozialer Konsens. Enttabuisierung und Entsolidarisierung sind Mainstream. Diese Radikalisierung machte alles sagbar, jede Kritik wird mit Free-Speech-Absolutismus gekontert. Über “Deutschland den Deutschen” diskutieren (z.B. “hart aber fair” TV am 25.2.), das wird man ja wohl senden dürfen! Die passende Kultur zur Mainstreamtransgression ist nicht, dass in einem kleinen Jugendzentrum eine Gruppe Queers keine Weißen mit Dreadlocks in ihrer Bastelrunde aufnehmen will, es sind auch nicht “I’m drinking male tears”-Memes von weißen Feminist*innen der Medien- oder Kreativen Klasse, nein, die Kultur dazu ist das hemmungslose Shaming und Stigmatisieren von Menschengruppen in Talkshows und Boulevardmagazinen, die endlosen Shows und Artikel, die Frauen oder Arme “verbessern” oder lächerlich machen, Stigmatisierung von Hartzer*innen als “faul”, Darstellung junger Mütter als Freaks, Erniedrigung von Migrantinnen als “Asylbetrüger”, das Umstylen zu “richtigen Männern” in Makeover Shows, usw. Die Liste der Verlierer*innen des merokratischen Hyperkapitalismus ist endlos und hemmungslos darf über sie hergezogen werden, alles andere wäre Zensur. Die Erniedrigung von Menschen dort normalisiert die damit einhergehende Austeritätspolitik, die via Überbürokratisierung eine Erniedrigungsmaschine der ärmsten Gesellschaftsmitglieder aufgebaut hat, anstelle eines Sozialstaats. Wenn das alles nichts mit der Transgression zu tun hat, die Nagle für so zentral hält, weiß ich auch nicht.

Ich stimme soweit mit Nagle überein, dass das Problem im sog. Mainstream, der Mitte, zu finden ist, aber ich übernehme nicht das rechte Narrativ, dass “Tumblr Liberalism” das ist, was diese bürgerliche Mitte ausmacht – die Rechte ist dort ebenso präsent, und noch andere mehr. Es gibt nicht eine Elite, deren Ansichten alles beherrscht – weder eine linksgrünversiffte alles genderisierende, noch eine nativistisch-rassistisch-sexistische, sondern verschiedenste. Donald Parkinson formuliert es etwas schärfer: “Die ganze Idee einer herrschenden Elite gehört weggeworfen, denn wir leben unter der Macht einer herrschenden Klasse. Darüberhinaus, ist die herrschende Klasse nicht homogen und konkurriert mit sich selbst. Niemand kann behaupten, dass eine monolithische Ideologie der herrschenden Klasse gibt, sondern es gibt vielmehr verschiedene miteinander konkurrierende Ideologien, die oft gegensätzlich sind. So ist liberaler Multikulturalismus genau so ein Teil der herrschenden Ideologie wie White Supremacy. Die bürgerliche Gesellschaft ist kein einheitlicher Block.”

Die BILD oder Fox News existieren eben parallel zum Bento-Quiz “Heidi Klum oder Donald Trump – kannst du ihre Zitate über Frauen unterscheiden?!” (danke, Lily! >< )

Kritik an Klum verkauft sich so gut wie Klum. Sexismus verkauft sich so gut wie Anti-Sexismus. Bento und Dove sind Extremismus der Mitte. Die Vermarktung von sozialen Kämpfen, von Sozialkritik braucht immer mehr davon: Wenn ich vom Thematisieren des Elends lebe, kann ich nicht ernsthaft an kollektiven Lösungen interessiert sein, denn die Zuspitzung, das Empören, die Emotionen funktionieren viel besser. Umgekehrt aber auch: Wenn ich keine andere Hilfe erfahre, mir diese immer weiter gekürzt wird und ich mich politisch machtlos fühle, dann mache ich eben wenigstens Geld aus dem Elend und vermarkte die Diskriminierung, die ich erfahre. Patreon statt Politik, individualistischer Lebenserhalt statt soziale Revolution.

Auf die Erfahrung, dass Gegenkultur meist keine großen Veränderungen anstößt, folgte die Erfahrung der Unmöglichkeit der Gegenkultur per se durch ein alles durchdringendes Produktscouting, das jede erblühende Subszene gleich im Entstehen kappt. Wir haben eher eine Kommodifizierungs-Police als eine PC-Police amirite… Wo war ich? Ach ja, bei Nagles Kill All Normies, dem Buch, dessen Thesen von so vielen kritiklos übernommen werden, obwohl das Buch letztlich einfach das Narrativ der Rechten verstärkt, die “Culture Wars” noch mal richtig anschürt. Kein Wunder, dass es auch bei den Rechten gut ankommt: “Prominent US fascist Richard Spencer has endorsed Nagle’s book on his Instagram, noting that it “gets” his movement and that its criticisms of “the Tumblr left” are “useful”. It should go without saying that such an endorsement — for an ostensibly left wing book on left and right-wing online cultures — ought to give pause. Apparently not.” So Josh Davies.

Dass Transgression sich über eine individualisierende Disrupt-Everything und Commodify-Everything Startup Culture, die in letzter Konsequenz eine demokratische staatliche Kontrolle am liebsten komplett abschaffen würde, viel gefährlicher in den Alltag eingegraben hat, bleibt als Thema in Kill All Normies unerwähnt – passt halt nicht in’s Narrativ der Culture Wars. Ist aber halt für eine materialistische Marxistin ganz schön dünn. Donald Parkinson erwähnt zu diesem Aspekt auch die Ron Paul Anhänger: “Nagle ignoriert auch komplett die Rolle des Ron Paul Libertarismus. Jeder, der die Alt-Right versteht, weiß, dass es eine Verbindung zwischen libertärer Politik und der Alt-Right gibt, und dass viele Leute, die vom Scheitern Ron Pauls enttäuscht waren, sich der Alt-Right zuwanden. … Libertarismus, eine Ideologie, in der alle Moral auf Besitzrechten basiert, in einem Land, das auf einem Fundament aus Sklaverei und Segregation gebaut ist, zieht Rassisten an. Der Schwerpunkt, den Libertäre auf Wettbewerb legen, kann seine Anhänger dazu bringen eine Position des Sozialdarwinismus einzunehmen und Ideen zu erforschen, die mit Race Realism verbunden sind. Das schafft eine Verbindung zwischen weißen Identitären und Libertären. … Es gibt eine Sorte vulgären Positivismus’ in libertärer Ideologie, die gut zu Race Realism passt. … Märkte als demokratischer anzusehen als irgendeine staatliche Institution, der Freie-Marktliberalismus steht selbst allem kritisch gegenüber, was sich für Gleichheit und Demokratie einsetzt, und passt daher in seiner extremsten Variante gut zur Ideologie der Alt-Right.”

Für Nagle sind beides, der Tumblr Liberalismus und die 4Chan-Alt-Right letztlich der überzogene Versuch, eine Gegenkultur zu schaffen, Stichwort “transgression”, ein Aufbäumen gegen einen Common Sense Status Quo. Deswegen trennt sie auch nicht zwischen einem linken Anliegen der Solidarität und Offenheit, und einem rechten des Rassismus, Sexismus, der nativistisch-nationalistischen Abgrenzung. Nagle formuliert letztlich die klassische bürgerliche Ablehnung von Extremismen. Es ist ein zutiefst antisolidarisches Buch. Ihr Bashing ist Empathielosigkeit als Vernunft getarnt, erschreckend konservativ. Deswegen auch ihre Fokussierung auf die Effektlosigkeit von Transgression: Nichts soll von der Norm ausscheren, dann wird alles gut. Alternativen hat sie nicht parat, wie auch Josh Davies kritisiert: “Die Verweigerung zu Reflektieren wird noch dadurch verschlimmert, dass das Buch keinerlei Idee dafür aufweist, dass es überhaupt irgendetwas gibt, was getan werden könnte. Es gibt viel Kritik an den politischen Praktiken derer, die sich gegen Rechtsextreme stellen, aber keine Ansätze dafür, was Nagle stattdessen vorschlagen würde.”

Dass trotz all dieser Mängel trotzdem so viele unreflektiert Nagles Thesen übernehmen zeigt in erster Linie das, was Niklas Weber feststellte: “Wir haben ein Faszinationsproblem mit den Neurechten.”

One thought on “Kill All Normies – ein Faszinationsproblem

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