Years And Years

Years And Years

Eine meiner Lieblingsserien des vergangenen Jahres war Years And Years. Russel T. Davies, den ich schon für seine Science Fiction Arbeit an Doctor Who und Torchwood und seine queeren Serien Queer As Folks und Tofu / Cucumber / Banana schätze, hat eine ganz wunderbare 6 Episoden lange Miniserie gemacht, in der er einen spekulativen Entwurf der kommenden fünfzehn Jahre wagt. Davies erzählt die Geschichte einer Familie in Tradition des poppigeren British Social Realism wie Billy Elliot, Trainspotting oder Pride, der sich mit Schicksalen der Working Class in der Thatcher Ära auseinandersetzte.

Schon nach der ersten Minute kommt der erste WTF-Moment, als eine Frau in einer TV Show auf eine Publikumsfrage antwortet: “If it comes to Israel and Palestine I don’t give a fuck,” und erklärt: “All I want is for my bins to be collected.” So wird Emma Thompson eingeführt, die Viv Rook spielt: eine brilliante Populistin, die später ihre Partei nach dem in Zeitungen durch vier Sterne ersetzten “fuck” dieser Aussage tauft: Four Star Party. Wir sehen den Ausschnitt aus dieser Talkshow mit einer Familie, den Lyons: Dan, schwuler Housing Officer, der sich um die Unterbringung von Flüchtlingen kümmert, darunter auch der Ukrainer Viktor, in den er sich tragisch verknallt. Dans Freund Ralph, der sich zunehmend offen für Verschwörungstheorien bis hin zur Flat Earth wird. Rosie, die working class single Mom, die im Rollstuhl sitzt und die Kantine einer Gesamtschule führt. Muriel, die Großmutter der ganzen Lyons-Geschwister, mit der sich Celeste immer wieder kabbelt, wenn sie diskriminierende Sprache verwendet, Hausbesitzerin ohne Geld, dieses instandzuhalten. Edith, weltreisende politische Aktivistin, die sich in eine Nachbarin Dans verliebt, die Storytellerin ist: Das entwickelt sich in dieser Zukunft zum Beruf, da sich herausgestellt hat, dass nicht nur Wissenschaft, sondern auch Geschichten dazu beitragen, Menschen die Welt zu erklären. Stephen, reicher weißer Finanzberater, mit seiner Frau, der schwarzen Chefbuchhalterin Celeste, und ihren Kinder Bethany und Ruby – sie sind die einzigen, die in London leben, der Rest wohnt in Manchester.

Diese Familie tauscht sich in der Eingangsszene 2019 während des Fernsehens über Textmessages aus, als der politische Aufreger von einem anderen Ereignis abgelöst wird: Rosie ruft auf dem Weg ins Krankenhaus an – ihr Baby kommt. Sie ist alleinerziehend, es ist ihr zweites Kind, und ihr Bruder Dan macht sich, von seinem Freund gedrängt, auf ins Krankenhaus, damit sie nicht alleine ist. Der Rest der Familie plant schnell per Telefon, wer wann wen abholt, um das Neugeborene am nächsten Tag zu besuchen. Im Kreis der Familie im Krankenhaus stellt sich Dan unter Empörung der anderen die Frage, ob er überhaupt noch ein Kind in eine Welt wie diese setzen würde.

Er erinnert: “Remember back in 2008 we thought politics were boring. But now, I worry about everything.” Und er beginnt aufzuzählen und erklärt damit eigentlich gleichzeitig das Konzept von Years And Years: Wenn jetzt schon alles so viel krasser und schneller geworden ist, wie wird es erst in 30 Jahren sein, in 10, in 5? Und damit setzt ein Fast Forward Modus ein: In einer schnell geschnitten Folge sehen wir familiäre Momente und Nachrichtenmeldungen. Den ersten Kindergeburstag des Babies Lincolns. Die Wiederwahl Trumps. Das Silvesterfeuerwerk 2021 mit Heiratsantrag von Dan an seinen Freund Ralph, der Ja sagt. Nachrichtensendung über eine neue künstliche Insel in China, Hong Sha Dao, einem nuklearen Waffenstandort. Viv Rock kandidiert als Parteilose, verliert (das wird sich später ändern – nicht umsonst waren Boris Johnson und Donald Trump die Inspiration für ihre Figur). Die Bilder flitzen weiter: 2022. Die ukrainische Armee hat die Regierung übernommen, die russische Armee wird nach Kiev geladen um für Stabilität zu sorgen. Die EU erkennt den Status von Hong Sha Dao, der chinesischen Insel, nicht an. Der 90. Geburstag der Großmutter der Familie, sie stehen frierend um ein Lagerfeuer im Garten und sie führt die Tradition ein, ihn jedes Jahr als Winter Feast im Garten feiern zu wollen. Mehr News: Deutschland trauert nach Merkels Tod. Der Tod der Queen – “long live the king!” Wieder sitzt Viv Rook in einer TV Talkshow, und es wird klar, dass sie wegen ihrer provokanten Aussagen da sitzt, obwohl sie keinerlei Status als öffentliche Person hat – sie weiß es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und die Medien schaffen es nicht, dem zu widerstehen. Silvesterfeuerwerk 2024. Immer mehr ukrainische Flüchtlinge kommen in Dover an. Und der Schnelldurchlauf fährt herunter, wir kommen wir wieder im Familienalltag an. Mit diesen Tempowechseln schafft es Years And Years, sowohl Geschichte, also eher große Ereignisse, zu erzählen, dabei aber auch nie die Geschichten der Figuren im Zentrum der Handlung, ihre Entwicklung, aus den Augen zu verlieren.

Nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern auch Technologie widmet sich Years And Years. Vor allem aus der Alltagsperspektive der “kleinen Leute”. Insta/Snapchat-Masken gibt es 2024 in Form kleiner Headsetprojektoren nicht mehr nur auf Social Media, sondern sie können direkt vor das Gesicht projeziert werden. Bethany, die technophile Tochter von Stephen und Celeste können und die Tochter versteckt sich die ganze Zeit dahinter, auch vor ihrer Familie, und macht digitale Appointments mit ihren Eltern, obwohl sie neben ihr in der Küche stehen. Bisschen Black Mirror schwingt mit, wird aber gebrochen. Sprachassistenzgeräte wie Alexa haben sich durchgesetzt und werden zu einem Tool, dass die Familie in regelmäßigen Gruppengesprächen sozial vernetzt, zusammenhält. Heute noch von vielen als Überwachungsgerät angesehen, ist das doch eine zu erwartende Entwicklung, das sich solche Home Assistants breit durchsetzen, sind sie doch zum Beispiel für alte Menschen leichter und intuitiver zu bedienen als ein WhatsApp-Familienchat.

Dan lernt eine Nachbarin kennen, Fran, sie erzählt vom Leben in London, von abgeriegelten Stadtteilen, die nur noch nach Vermögensprüfung betreten werden dürfen. Sie ist Story Teller, was ein Beruf geworden ist, weil erkannt wurde, das auch Geschichten helfen können, die Welt besser zu verstehen. Dan arbeitet in einem sich dauernd vergrößerndem Flüchtlingslager, das eigentlich nur als vorübergehende Unterkunft gedacht war. In einem Streitgespräch mit einer flüchtlingsfeindlichen – “I voted Leave!” – Kollegin, erfahren wir dass es eine Wahl gab, bei der 97% der ukrainischen Bevölkerung angeblich dafür stimmten, russische Staatsbürgerschaft anzunehmen und dass Russland nun die Namen der restlichen 3% hat, die für “Umsiedlung” vorgesehen sind, wobei nicht klar ist, wohin – die Möglichkeit ihrer geplanten Massenermordung schwingt mit. Dan lernt Viktor, einen Flüchtling kennen und es knistert zwischen ihnen. Wobei “knistert” ein eher schlechtes Wort ist, weil Viktor davon erzählt, wie er in der Ukraine nach Übernahme Russlands für seine Homosexualität gefoltert wurde: Mit Stromschlägen auf die Fußsohlen, was kaum physische Spuren hinterlässt und es ihm so erschwert, um seinen Flüchtlingsstatus zu kämpfen.

Die Mutter von Bethany macht sich Sorgen und entdeckt beim heimlichen Stöbern in deren Browserverlauf lauter Suchen rund um den Begriff “trans” – “help for trans”, “trans hope”, “your questions about trans issues” – und die Eltern sind, ganz progressiv und akzeptierend, fast froh, dass sie nun wissen, was mit Bethany los ist. Nur stellt sich dann im persönlichen Gespräch heraus, dass Bethany (“I was thinking about that ever since I was born I don’t belong in this body” – ihre Eltern: “oh, it’s alright, we understand and will always love you”) nicht transsexuell, sondern transhuman ist: “I don’t want to be flesh. I’m really sorry, but I’m going to escape this thing and become digital.” Sie möchte ihren kompletten Körper loswerden ihr Gehirn in die Cloud laden. Mutter: “So you want to kill yourself?” – Tochter: “No life or death, just data” – die Reduktion auf pure Information in einer Gesellschaft, in der Frauen körperlich nie schön, dünn, ausreichen genug sein können, als Befreiung gedacht.

Harter Tobak, und es scheint im ersten Moment an Transfeindlichkeit entlangzuschrammeln wie Dolezal am Rassismus, oder: eine andere Perspektive um über die in den letzten Jahren in Großbritannien erstarkte transfeindliche TERF-Bewegung nachzudenken. Der Transhumanismus wird hier als Generationsproblem eingeführt, in einer Gesellschaft, in der sich liberale Kreise, wie es die Eltern von Bethany sind, in Akzeptanz und Offenheit überschlagen, aber auch oft von einer Technologiefeindlichkeit geprägt sind, die sich heute schon in absurden Detoxing-Apps und ähnlichem niederschlägt. Transhumanismus, von technologischen Implantaten bis zum Traum vom Hochladen des Bewusstseins in eine Cloud, stellt so ein neues Identitätsproblem dar, einen Bruch zwischen Generationen und den konservativeren und progressiveren Ecken der Gesellschaft, der in neuer Form die Bereitschaft Widersprüche und Uneindeutigkeiten auszuhalten und auszudiskutieren, auf die Probe stellt.

Trotzdem blieb mir ein fader Nachgeschmack von dieser Stelle: Ist es ein Lächerlichmachen von Transmenschen, wenn hier der Vergleich mit Transhumanismus gezogen wird? Ich denke, über einen als absurder Lacher, der im Hals stecken bleibt, in der weiteren Konsequenz der Serie nicht, da sie um den Preis einer hier wirklich überzogenen Zukunftsvision, gerade an diesem Thema im weiteren Verlauf der Handlung auch durchspielt wird, was die Konsequenzen sind, wenn Jugendliche nicht ernstgenommen werden, und sich heimlich auf schlechte illegale Lösungen einlassen, bei denen keine medizinischen Grundstandards eingehalten werden (was nebenbei auch als Anspielung auf Abtreibungskliniken gelesen werden kann). Ich muss keine Freundin des Transhumanismus sein, um dieses spekulative Spiel zu schätzen.

Wer denkt, jetzt eh schon alles gespoilert bekommen zu haben: Das waren gerade mal die ersten zwanzig Minuten von Years And Years, aus denen ich hier erzählt habe. Selbst vom an das Musikvideo zu Dancing With Tears erinnernde Finale der ersten Folge zu erzählen, verkneife ich mir, auch wenn es schwer fällt. Die Fülle an Themen, die sich als Anspielungen oder als Weiterdenken von heute schon existierenden Problemen lesen lassen oder die zu Diskussionen anregen können, ist riesig. Nur noch ein weiteres Beispiel: In einem Alternativentwurf zum Verbot, das 2019 in Großbritannien fast zum Porn Ban im Rahmen des Digital Economy Act geführt hätte, inzwischen aber aufgegeben wurde, wird Pornographie in der Zukunft von Years And Years zum Schulstoff: Es wird ab 11 Jahren “Sexual Awareness Image And Control” gelehrt.

Es gibt natürlich auch kritisierenswertes an der Serie: Eine Familie ins Zentrum zu stellen, ist mir eigentlich zu konservativ, denn eines der Dinge, von denen ich mir bzw. den nächsten Generationen mehr wünsche, ist, dass sie ganz frei andere Zusammengehörigkeitsgefüge für sich erforschen und erfahren können, und das mindestens auf gleichberechtigter Ebene mit dem verstaubten christlichen, verstaatlichte Ehekonzept und der Kleinfamilie. Aber Years And Years macht einen guten Job, so eine Großfamilie als Bild für die britische Gesellschaft der Zukunft einzusetzen, und nichts anderes als ein Bild dafür ist sie, worauf schon der Familienname Lyons, die Löwen, wohl der britischste Telling Name schlechthin, anspielt. Diesen zusammengewürfelten Haufen Menschen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten, mit verschiedensten Identitäten, Vorstellungen, Abstammungen, mit den verschiedensten Problemen, als Familie zu entwerfen, ist ein in typischer Russel T. Davies-Manier solidarisches Zentrum in der dystopischen Zukunft, die Years and Years entwirft.

Das war’s von mir zu Years And Years – wenn ihr’s noch nicht gesehen habt, schreibt’s euch auf die To Watch-Liste, einen besseren Einstieg in ein Jahr wie 2020, an dem gleich am 2. Januar #WWIII auf Twitter trendet, gibt es derzeit kaum.

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